Auf dem Spargelhof Thiermann in Kirchdorf, einer beschaulichen Gemeinde im Kreis Diepholz, kam es zu einem Coronaausbruch unter Saisonarbeitskräften. Die Lage ist angespannt, 120 Menschen sind gesichert mit dem Coronavirus infiziert, über 1000 Menschen befinden sich in sogenannter Arbeitsquarantäne. Aber was bedeutet das für die meist polnischen und rumänischen Erntehelfer:Innen - und was ist das für ein Hof?
Ein Vorzeigehof in Diepholz
Heinrich Thiermann, 78, zeigt sich gern als Vorzeigelandwirt. Er gilt als "Spargelkönig", bewirtschaftet sein Land mit Spargel, Beeren und anderen Feldfrüchten und betreibt eine Schweinemast. Er ist Träger des Landesverdienstordens Brandenburgs und erhielt 2016 den Ehrenpreis der CDU-Mittelstandsvereinigung Diepholz. Zur Zeit ist Spargelsaison und wie jedes Jahr zur Spargelsaison arbeiten auch in diesem Jahr auf den Feldern und dem Hof hunderte ausländische Saisonarbeitskräfte. Thiermann sagt, ihm liege die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter:Innen sehr am Herzen, so beköstige er seine Arbeiter:Innen ausgewogen und natürlich würde nach einem ausführlichen Hygieneschutzkonzept gearbeitet, was auch der Landkreis Diepholz bestätigte. Selbstverständlich sei jede Saisonkraft krankenversichert.

Auch nach dem Ausbruch des Coronavirus auf dem Hof hat Thiermann alles schnell wieder im Griff: Mit dem Gesundheitsamt wurden die Hygienekonzepte überprüft, das DRK ist vor Ort, die Erkrankten von den Kontaktpersonen abgesondert und alle Mitarbeitenden befinden sich in Arbeitsquarantäne, wie er der Kreiszeitung mitteilte. Der Betrieb kann - unter Einschränkungen - weitergehen.
Der andere Herr Thiermann
In einem Portrait des Handelsblatts aus dem Jahr 2009 wird gesagt, Herr Thiermann spare mitunter bis zum Geiz. Das gelte aber nicht für sein - wie er sagt - Humankapital. Gleichwohl meldete er sich in zahlreichen Medien gegen den Mindestlohn für Erntehelfer:Innen zu Wort - und im Jahr 2019 ermittelte das Arbeitsministerium Brandenburg gegen das Domstiftsgut Mötzow im Havelland. Damals haben sich zahlreiche studentische Praktikant:Innen gegenüber rbb24 geäußert, sie hätten für 6€ Stundenlohn bis zu 11 Stunden täglich auf den Feldern geschuftet.
"Praktikantentrick" nennt man das, es ist eine Möglichkeit, den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50€ zu umgehen. Und auch das agrarwissenschaftliche Wissen sei ihnen nicht vermittelt worden - genau den Grund haben solche studentischen Praktika aber. Das Domstiftsgut liegt im Miteigentum von Thiermann und wird auch von diesem bewirtschaftet.
Auch hier gibt es erneut Probleme, denn die Anbauflächen für den Spargel liegen inmitten eines Vogelschutzgebiets. Ursprünglich wurde Thiermann angewiesen, den bereits eingebrachten Spargel wieder zu Roden, in letzter Minute nahm der Oberbürgermeister Steffen Scheller (CDU) die Rodungsverfügung wieder zurück, er sei "überzeugt, dass wir schneller eine Lösung hinbekommen als ein Gericht", wie er der Märkischen Allgemeinen sagte. Streitpunkt ist vor Allem, ob von Folie überzogene Spargelfelder in einem Vogelschutzgebiet etwas zu suchen haben.
Corona in Diepholz
Und nun kam, was zahlreiche Verbände und Gewerkschaften befürchtet hatten: Unter Erntehelfer:Innen in Kirchdorf verbreitete sich das Coronavirus. Zunächst waren es etwa 50 infizierte Personen, mittlerweile sind es 120, über 1000 Menschen befinden sich in sogenannter Arbeitsquarantäne. Das bedeutet für die Arbeiter:Innen, dass sie zwar jeden Tag arbeiten müssen, sich aber ansonsten in Quarantäne befinden, sich nicht frei bewegen dürfen. Selbst Eheleuten ist, wie die Kreiszeitung berichtete, keinerlei persönlicher Kontakt gestattet.

Laut Thiermann gibt es einen Einkaufsservice und einen Hofladen, mehrere Arbeiter:Innen versuchten aber trotzdem, selbst einkaufen gehen zu können - die Gründe dafür sind unbekannt. Nun werden sie von Polizei und Sicherheitsdiensten streng bewacht, ein sich in Arbeitsquarantäne befindlicher Arbeiter vor Ort sprach davon, er fühle sich wie im Gefängnis, er wolle nur wieder zurück nach Polen, man gäbe ihm seine Autoschlüssel nicht zurück.
6,50€ für ein Bett, 6€ Akkord?
Die Richtlinien für Saisonarbeitskräfte des Bundesamtes für Landwirtschaft und Ernährung sehen vor, dass "Einzelzimmer" anzustreben seien, was der vehementen Forderung des deutschen Gewerkschaftsbundes entspricht - aber natürlich gibt es dafür Ausnahmen. So sei es in Ordnung, Zimmer mehrfach zu belegen, wenn der Platz es nicht anders zulässt.
6,50€ pro Tag verlangte Thiermann 2019 laut einem damaligen Arbeiter von seinen Saisonarbeitskräften für diese Unterbringung. Das ist in der Branche tatsächlich recht human, andererseits würde kein deutscher Arbeitnehmer auf die Idee kommen, seine Unterkunft am auswärtigen vorrübergehenden Arbeitsplatz selbst zahlen zu müssen. In polnischsprachigen Foren wird im Zusammenhang mit Thiermann außerdem erstaunlich oft ein Akkordlohn von 6€ sowie eine 7-Tage-Woche erwähnt. Und natürlich wird die Anreise von den Arbeiter:Innen bezahlt, wie Thiermann selbst auf einer polnisch- und rumänischsprachigen Anwerbungsseite angibt.
Kein Anspruch auf Lohnfortzahlung - unabhängig von der Versicherung
Eine weitere Arbeiterin antwortete auf die Frage nach ihrem Krankenversicherungsschutz, dass Thiermann für "Ärzte bezahlt, wenn es nichts Ernstes ist", ob sie tatsächlich krankenversichert ist und auf welche Weise, konnte sie nicht sagen, sie habe "keinen Vertrag" - verifizieren ließ sich diese Behauptung nicht, wohl aber, dass sie den Betrieb gut kennt und dort gearbeitet hat.
Und tatsächlich ist es möglich, dass Saisonarbeitskräfte, zum Beispiel aus Polen, mitten in einer globalen Pandemie, die Gesundheitssysteme weltweit an den Rand des Zusammenbruchs drängt, ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland arbeiten. Dann nämlich, wenn der:diejenige im Herkunftsland innerhalb der EU erwerbslos ist. Geringfügig Beschäftigte sind nicht versicherungspflichtig, wenn sie weniger als 70 - und in diesem Jahr auf Beschluss des Bundes bis zu 102 Tage - im Jahr in Deutschland gearbeitet haben und in Deutschland keine Erntehelferversicherung vom Arbeitgeber abgeschlossen wurde. Eine Anfrage bei der Knappschaft ergab, dass sie keinerlei Statistiken dazu bereitstellen können.
Auf Nachfrage erklarte Thiermann zwar, dass jede Saisonarbeitskraft versichert sei, es gibt aber durchaus noch andere Probleme. Nach deutschem Recht haben Saisonarbeitskräfte erst nach vier Wochen Arbeitszeit einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung, unabhängig vom Versicherungsschutz. Die Spargelsaison hat aber gerade erst begonnen. "Wenn ich krank bin, bekomme ich kein Geld", sagt die Arbeiterin. Die an Corona Erkrankten haben wohl keinen Anspruch auf Lohn für die Zeit ihrer Erkrankung.
Hygiene, Hygiene
Die Hygienerichtlinie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft sieht vor, dass landwirtschaftliche Arbeitsgruppen aus maximal vier Personen bestehen dürfen, die gemeinsam wohnen. Nur wenn bestimmte Maschinen dies nachweislich erfordern, sei es in Ordnung, in Gruppen von bis zu 15 Personen zu arbeiten. Auch in der Freizeit und bei der An- und Abreise müssen diese Gruppen eingehalten werden. Anwohner aber äußern in den sozialen Medien, sie haben Omnibusse voll mit Arbeiter:Innen gesehen und auch auf den Feldern - selbst jetzt, nach dem Ausbruch - seien es eher Gruppen von 20 Personen. Landkreis und die Thiermann GmbH & Co KG sehen aber auf Nachfrage keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Hygienerichtlinien und Ausbruch des Virus.
Und wer ist schuld?
Und natürlich stellt sich auch die Schuldfrage. Wer trägt die Schuld an diesen Verhältnissen und damit auch am Ausbruch in Diepholz, der weitreichende Folgen für den ganzen Kreis hat, da nun die 100er-Inzidenz erreicht wurde und die "Notbremse" inkraft trat, worüber sich zahlreiche Anwohner in sozialen Medien beschwerten.
Ganz sicher ist, dass eben nicht die Erntehelfer:Innen schuld sind. Sie haben sich diese Verhältnisse nicht ausgesucht, sie haben - selbst wenn es Verstöße gegen die Auflagen gab, wie einige Medienberichte suggerieren - nichts anderes getan als das, was Millionen Deutsche zur Zeit auch tun: sie haben gearbeitet.
Aber auch Heinrich Thiermann, dessen Rolle man sicherlich stark kritisieren kann und muss und der bei einer Betriebsfläche von 1800ha Land, einer Schweinemast mit 15.000 Tieren, mehreren Biogasanlagen, einem eigenen Hofladen und einem Gastronomiebetrieb sicher eher Agrargroßunternehmer denn einfacher Landwirt ist, trägt sicherlich nicht die alleinige Verantwortung. Er bewirtschaftet sein Unternehmen so, wie es tausende andere Landwirte auch tun, in einigen Punkten wohl sogar Arbeiter:Innenfreundlicher als so mancher Wettbewerber.
Schuld trägt vor Allem der Gesetzgeber. Die Saisonarbeit muss viel stärker reguliert werden und nicht auch noch aufgeweicht, wie dieses Jahr durch die Ausweitung der sozialversicherungsfreien Beschäftigung geschehen. Die Einhaltung der geltenden Gesetze muss viel stärker beaufsichtigt werden, die Rolle der Gewerkschaften viel stärker in den Vordergrund gestellt werden. Und ja, auch der Verbraucher hat damit zu tun, denn auch er bestimmt maßgeblich den Preis. Und den bezahlen zur Zeit Arbeiter:Innen, was bei mir nach dieser Recherche den bitteren Beigeschmack zu tief gestochenen Spargels hinterlässt.
Bildquellen der Bilder ohne direkte Kennzeichnung: VSSE e.V. /Christoph Göckel