Agim Krasniqi ist erst der dritte in seiner Familie, der den Heimatort Reka e Allages verlassen hat, ein stilles Bergdorf im Westen Kosovos. Die Menschen reden hier nicht viel. Warum auch? Man kennt sich schon viel zu lange. Aber die Stille ist mehr als bloße Gewohnheit, sie ist so etwas wie eine Übereinkunft, eine vor langer Zeit getroffene Übereinkunft zwischen den Menschen und dem Berg. Wie ein Adlerhorst klebt das Dorf über den Wolken an den Felsen. Der Wind pfeift beständig durch die Steinhäuser, lässt den nahen Kiefernwald knarren und fegt die Stille wie Herbstlaub ins Tal hinunter. Die Menschen leben von ihren Kühen, Schafen und den kargen Erzeugnissen des Bodens. Abends sitzen sie dicht beieinander, trinken, essen und wärmen ihre Seelen an den immergleichen Geschichten. An manchen Abenden wird gesungen, mit tiefer Stimme, tief wie die Böden der Gläser aus denen getrunken wird. Die Menschen erheben ihre Stimme gegen den Wind, gegen den Berg und gegen die Stille. Die Hunde stimmen in den Chor mit ein und das gemeinsame Heulen der Menschen und Hunde hallt vielfach von den steilen Felsen wider.
Einer von Agims Ur-Großvätern ist im achtzehnten Jahrhundert für die Priesterausbildung nach Kroatien gegangen. Im Familienbuch ist ein Bischofshut eingezeichnet. Viele Generationen darunter, ist ein Segelschiff eingezeichnet, neben dem Namen Agon Krasniqi, Agims Großvater. Es ist eine sehr liebevolle und detailgetreue Bleistiftzeichnung, mit hohen Masten, gewölbten Segeln und einem großen runden Steuerrad, an dem ein Seemann lehnt, den Arm ausgestreckt und den Blick in die Ferne gerichtet. Agon Krasniqi kämpfte 1912 an der Seite der Türken gegen die Serben. Der Krieg ging verloren. Um einer Verfolgung zu entkommen, bestieg Agon ein Schiff in Richtung Italien. Schließlich kehrte Agon im zweiten Weltkrieg, mittlerweile reich an Geld und Einfluss, an der Spitze der italienischen Truppen zurück, um die Serben zu schlagen. Die Albaner im Kosovo müssen dankbar für jeden starken Verbündeten sein, das wird den Kindern schon in der Schule beigebracht. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts stand der Kosovo unter türkischer, serbischer, italienischer, deutscher und schließlich unter amerikanischer Herrschaft. Großvater hat immer von dauerhaftem Frieden geträumt. „Der Frieden in unserem Land ist immer dann gefährdet, wenn eine Religion beginnt, Politik zu werden“, pflegte Agon Krasniqi den Leuten zu sagen.
Reka e Allages ist ein Dorf wie jedes andere, in dem viele Geschichten erzählt werden, aber nur wenige Geschichten entstehen. Wenn jemand das Dorf verlässt und es in der Welt zu etwas bringt, dann leuchtet dessen Name wie ein heller Stern in den Herzen der Menschen. Viele junge Menschen scheitern beim Versuch, ihrem Namen Ehre zu machen. Sie finden Gelegenheitsjobs in der nächstgelegenen Stadt Peja. Manche schaffen es bis nach Pristina, doch selbst in der Hauptstadt ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Nach einigen Jahren kehren die meisten von ihnen doch wieder mit leeren Taschen und gesenktem Blick ins Dorf zurück.
Auch Agim hat das Dorf wegen eines Krieges verlassen, wie sein Großvater. 23 Jahre ist Agim in Deutschland gewesen. Hat für Mercedes in Hedelfingen geschafft. Harte Arbeit ist das gewesen. Fließband, Schichtarbeit, kaum Pausen. Das Zimmer, das er sich mit anderen Arbeitern teilte, besaß nur ein einziges winziges Fenster, von dem aus man eine gute Sicht auf die ewig rauchenden Schornsteine und die graue Fassade der Fabrik hatte. An seinen freien Tagen floh Agim in die umliegenden Weinberge, die zwar nicht hoch genug waren, um den Ausblick auf die Stadt hinter sich zu lassen, doch hoch genug, um ein paar Stunden ungestört im Schatten einer tröstenden alten Eiche zu sitzen. Mit geschlossenen Augen lehnte er am Stamm. Oft stellte er sich dann einen Adler vor, der über seinem Dorf kreist, hoch über Reka e Allages, bevor er mit ein paar kräftigen Flügelschlägen aufsteigt, in Richtung der schneebedeckten Gipfel, um sich immer weiter von den Menschen zu entfernen.
Die Jahre vergingen, das Fließband ratterte und Agims Körper gewöhnte sich an die mechanischen Abläufe. Die Arbeit war leicht, sie war einfach, viel zu leicht, viel zu einfach. Am Ende war es sein Kopf, der den Dienst quittierte. Seine Realität wurde verzerrt von Farben und Mustern, wie in einem verdammten Kaleidoskop. Dieses entsetzliche nackte Ding, das keinen eigenen Namen haben darf (das Wort Krieg beschreibt nur das rein äußerliche Geschehen), holt ihn immer wieder ein, greift nach seinem Verstand, kreischt in seinen Ohren.
Das Jahr 1997.
Man kann eine Vergangenheit verdrängen, so wie man seinem eigenen Schatten entkommt, indem man unentwegt in die Sonne blickt. Das geht eine Zeit lang gut, aber irgendwann blendet das Licht. Traumatische Erinnerungen sind hinterhältig und heimtückisch. Überfallen dich, wenn du am wenigsten damit rechnest. Im Morgengrauen stiegen Schatten von den Bergen herab. Agim sah sie als erster, da er schon früh auf den Beinen war, um die Schafe auf den Berg zu treiben. Während die Hähne krähten, gingen die Männer von Haus zu Haus und schossen auf alles, was sich darin bewegte. Großvater fand einen ehrenvolleren Tod, als diejenigen die in ihren Betten oder am Frühstückstisch starben. Agims kam zu spät, um seine Leute zu warnen, aber rechtzeitig, um das Ende seines Großvaters mitzuerleben. Noch immer sieht er das Gesicht seines Großvaters. Sieht den enttäuschten Blick, sieht die verzerrten Mundwinkel, sieht den ausgestreckten Arm. Der Arm, der in seine Richtung zeigte! Ein Schuss in den Kopf. Großvater hat ihm etwas sagen wollen, seinem Enkel, hat ihn angesehen und immer wieder den Mund geöffnet. Aber anstatt der letzten Worte kam ein großer Schwall Blut aus seinem Mund geschossen.
Agim reibt sich die Schläfen. Werden diese verdammten Schmerzen irgendwann aufhören?
Es wäre besser gewesen, früher aus Deutschland zurückzukehren. Besser für seine Gesundheit. Aber seine Familie brauchte ihn. Oder zumindest hat er sich das lange eingeredet. Agim hat zwei Kinder mit einer deutschen Frau. Charlotte war seine Deutsch Lehrerin in der Berufsschule. Sie gefiel ihm gleich von der ersten Stunde an. Warum? Hmm… Man merkte ihr an, dass sie eine zurückhaltende Person war. Das gefiel ihm. Dann mochte er ihr Gesicht. Die lebhaften Augen. Das rätselhafte Lächeln. Ihre Augen flüstern Träume, auch heute noch, nach all den Jahren. Wenn sie lächelt, bleiben ihre Lippen geschlossen, nur die Mundwinkel öffnen sich leicht - wie eine Tür, die einen Spalt weit geöffnet ist…
Charlotte beachtete ihn nicht. Während des Unterrichts ignorierte sie seine Blicke, auf seine Gesprächsversuche ging sie nicht ein. Nach den ersten Stunden brummte sein Kopf, von all den Fragen die er hatte. Fragen zu Dativ und Genetiv, zu Präpositionen, zu den vier Fällen. „Deutsche Sprache, schwere Sprache“, dachte er sich und gab nicht auf. Ihre Antworten beschränkten sich auf das nötigste. Doch er lernte schnell dazu und bald begann sie ihn für seine Fortschritte zu loben. Sie nahm sich jetzt mehr Zeit für ihn und seine Fragen. Nach ein paar Wochen bat Agim sie, mit ihm auszugehen. Nein, nein, nein. Sie lachte nur und verdrehte die Augen. „Mach erstmal deine Ausbildung fertig“, sagte sie ihm. Doch Agim ist keiner dieser Jungen, die den Kopf gleich in den Sand stecken. Noch einige Male bat er sie um ein Date. Aber keine Chance. Also konzentrierte er sich weiter auf seine Arbeit und auf seine Ausbildung. Am Ende des Jahres wurde sie an eine andere Schule versetzt. Zum Abschied winkte sie ihm. Agim lief ihr bis in die Straßenbahn hinterher. Als sie ihn sah, prustete sie vor Lachen. Agims rechter Arm war zwischen den sich schließenden Türen eingeklemmt. Die Straßenbahn fuhr bereits los. Um Schlimmeres zu verhindern, zog sie nach ein paar langen Sekunden die Notbremse. "Gehst du jetzt mit mir aus?", rief er, als sich die Türen öffneten. Der Straßenbahnfahrer schimpfte wie ein Rohrspatz. Charlotte lachte mit offenem Mund.
Glücklich sein zu können ist eine erlernbare Fähigkeit.
Agim hat Charlotte viel zu verdanken. Zusammen haben sie zwei Kinder. Die Kinder werden es in Deutschland zu etwas bringen, werden nicht am Fließband stehen müssen. Früher sind sie oft in den Kosovo gereist, als die Kinder noch kleiner waren, zu viert, fast jeden Sommer. Sein Sohn hielt nie viel von der Arbeit auf dem Land, ihn störte der Dreck unter den Fingernägeln und es hielt ihn von seinen geliebten Büchern fern. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Als Arzt wird er Menschen heilen. Nach dem Ende seines Studiums wird man ihn überall respektieren. Dagegen hat seine Tochter schon früh mit angepackt, hat geholfen die Tiere zu füttern und sie zu melken. Während eines Sommers war sie bei der Geburt eines Fohlens dabei. Dieser Sommer sollte ihr Leben verändern. Als die Schule wieder begann, sehnte sie sich zurück in den Kosovo. Sie bettelte ihren Vater so lange an, bis Agim ihr schließlich den Wunsch erfüllte, Reitstunden zu nehmen. Heute macht seine Tochter eine Ausbildung bei der Polizei, in der Reiterstaffel. Agim Brust schwillt vor Stolz an, wenn er an seine Kinder denkt. Allein für sie hat es sich gelohnt. Das Abenteuer Deutschland. Das ewige Fließband. Die erbärmliche Plackerei.
Nach seiner endgültigen Rückkehr in den Kosovo haben Agim und sein Bruder ein Hotel gebaut. Ganz nach ihren eigenen Vorstellungen, mit viel Holz, riesigen Fenstern und einer Terrasse nach Westen. Hinter der Rezeption hängt ein überlebensgroßes Porträt von Agon Krasniqi. Vor ein paar Jahren hat der Deutsche Alpenverein einen Wanderweg erschlossen, der durch drei Länder, Albanien, Montenegro, Kosovo, und durch Reka e Allages führt. Seitdem kommen die Touristen. Schnell wurde Agim klar, dass seine Zeit gekommen war. In den ersten Jahren sind es wenige Touristen gewesen, mittlerweile kommen große Gruppen aus aller Welt. Es herrscht Frieden in der Republik Kosovo und die Touristen bringen Geld mit.
Agim hat es allen bewiesen. Seinen Kollegen im Werk, die ihn Träumer nannten. Den deutschen Beamten im Ausländeramt, die immer so mitleidig auf ihn herabsahen. Seiner Familie und den Nachbarn in Reka e Allages. „Was sagt ihr nun?“, will Agim ihnen zurufen, ihnen allen, wenn er bei Sonnenuntergang mit seiner Mutter, seinem Bruder, dessen Kindern und Enkeln auf der Terrasse sitzt. „Heute bin ich jemand. Ich bin Agim Krasniqi. Ich besitze ein Hotel in den Bergen Kosovos. Seit 500 Jahren ist das Dorf Reka e Allages Heimat meiner Familie“. Nur seine Kinder und seine Frau fehlen ihm noch zum vollkommenen Glück. Diesen Sommer werden sie ihn besuchen, das erste Mal seit Fertigstellung des Hotels.
Die Stille ist immer ein schwerer Mantel gewesen, der das Dorf und dessen Bewohner vor den Augen der Welt verbarg. Wenn Agim heute seine Gäste begrüßt, dann trägt er ein gestärktes weißes Leinenhemd und ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.
Seit kurzem kreisen zwei Steinadler über dem Dorf. Agim hat ihr Nest ausfindig gemacht, an einer Steilwand, in schwindelerregender Höhe. Mit seinem Fernrohr sieht Agim dabei zu, wie sich die Küken aus ihren Eiern pellen.