Familien bleiben weiterhin ohne echte politische Repräsentation, was vor allem strukturelle Gründe hat. Der Fall Anne Spiegel zeigt dies eindrücklich.

Nun kam er also doch noch, der Rücktritt von Bundesfamilienministerin  Anne Spiegel am Montagnachmittag, nachdem er sich durch eine  aufsehenerregende Pressekonferenz am späten Sonntagabend bereits  abgezeichnet hatte. Die Ministerin wirkte deutlich angeschlagen und  versuchte, mit sichtbar schwindender Kraft zu erklären, weshalb sie zehn  Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal mit ihrer Familie in einen  vierwöchigen Urlaub nach Frankreich fuhr, obwohl sie als  Umweltministerin in Rheinland-Pfalz neben anderen für den  Katastrophenschutz zuständig gewesen ist. Ihre Begründung lässt sich  knapp zusammenfassen: Ein Jahr Pandemie mit vier kleinen Kindern – alle  im Kindergarten und Grundschulalter – zehrte sehr. Hinzu kommt die  Erkrankung ihres Mannes, der die Aufgaben der Familienfürsorge wohl zu  diesem Zeitpunkt nicht mehr vollumfänglich erledigen konnte. Viele  Eltern können Spiegels Sätze nachvollziehen und auch den Zustand  mitfühlen, in dem sie sich auf der Pressekonferenz befand, sind sie doch  gerade selbst zwei Jahre mit ihren Familien durch die Pandemie-Hölle  gegangen.

Anne Spiegel und ihre Familie stehen an diesem Sonntagabend  stellvertretend für all die Familien, die durch die Corona-Pandemie an  ihre Belastungsgrenzen gebracht wurden. Belastungsgrenzen, die auch  vorpandemisch für Menschen mit Care-Aufgaben bereits oft überschritten  waren. Inzwischen ist wissenschaftlich gut aufgearbeitet, was die  Pandemie für Familien und insbesondere Mütter bedeutet. So musste laut  einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung jede fünfte Frau ihre Arbeitszeit  reduzieren, mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht: Geplatzte  Projekte, verpasste Aufstiegschancen, abgebrochene Karrieren. Familien  standen oftmals vor einer Zerreißprobe, viele Mütter und manchmal auch  Väter vor dem Burn-Out.

Mit ihrem Rücktritt reiht sich nun also auch die scheidende  Familienministerin in die Zahl der Mütter, deren Arbeitspensum sich  nicht an pandemische Bedingungen und anderweitige private Belastungen  anpassen ließ und die sicherlich auch deshalb Fehler machte und in der  Konsequenz dazu gezwungen war, ihre Karriere nun vorerst zu beenden. Sie  steht dadurch dieser Tage, wie keine andere Ministerin und kein anderer  Minister, für die Bevölkerungsgruppe, deren Repräsentantin sie war.  Eine Bevölkerungsgruppe, die von der Politik konsequent „vergessen“  wird.

Was uns zu der Frage bringt, wie wir politische Repräsentation in  Zukunft denken möchten. Wer repräsentiert Eltern und Kinder besser, als  eine Mutter, die selbst mit den realen Belastungen gerade junger  Familien konfrontiert ist? Wollen wir wirklich von Menschen regiert  werden, die jenseits aller persönlichen Erfahrungen und lediglich als  Polit-Profis ihre Ämter führen? Der Druck des politischen Betriebs sorgt  dafür, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch benachteiligt  sind, wenn es um die Vergabe politischer Ämter und insbesondere  Spitzenpositionen geht. So sind neben Menschen mit bestimmten  Erkrankungen unter anderem auch Mütter kleiner Kinder deutlich  unterrepräsentiert. Einfach deshalb, weil sie naturgemäß die  Anforderungen, die im Politikbetrieb gestellt werden, nur schwer  erfüllen können. Dabei wäre es so wichtig, dass gerade die Belange  dieser Menschen bei politischen Entscheidungen Gehör finden.

Erinnern wir uns daran, welch trauriges Dasein das  Familienministerium zuletzt fristete, nachdem die damalige Ministerin Franziska Giffey nach einer Plagiatsaffaire zurückgetreten war, um sich  auf ein anderes lukratives Amt vorzubereiten und ihr Posten indes nicht  nachbesetzt wurde, sondern kommissarisch von der damaligen  Justizministerin Christine Lambrecht mitübernommen wurde. Begründet  wurde dieser Schritt damit, dass alle Aufgaben des Ministeriums bereits  erledigt seien: „Ich bin stolz darauf, was ich in über drei Jahren  Regierungsarbeit im Bund erreichen konnte. Gemeinsam mit meinen  Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit der Bundeskanzlerin, den  Kolleginnen und Kollegen im Kabinett und mit den Bundestagsabgeordneten  der Koalitionsfraktionen ist es mir gelungen, alle Aufträge aus dem  Koalitionsvertrag in meinem Ressort durch die Kabinettsbeschlussfassung  zu bringen“, so Giffey in ihrer Rücktrittserklärung. Was für ein Hohn  gegenüber all den Familien, die sich genau zu diesem Zeitpunkt – im  Sommer 2021 – Corona bedingt in einer dramatischen Situation befanden  und merkten, dass für sie nichts funktioniert und die ihre  Repräsentation in der Regierung damit quasi verloren hatten.

Besonders Mütter jüngerer Kinder haben während der Pandemie das  Vertrauen in die Politik verloren, so das Ergebnis einer Analyse der  Soziologin Sonja Bastin und Kai Unzicker von der Bertelsmann Stiftung.  Die Frage nach der politischen Repräsentation ist dabei jedoch kein  Wohlfühl-Problem von Familien. Laut einer aktuellen Umfrage des  Allensbach-Instituts ist rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung der  Meinung, in einer Scheindemokratie zu leben. Eine Entwicklung, die für  die politische Lage im Land gefährlich werden könnte.

Anfang April sorgte Robert Habeck bei Markus Lanz für Aufmerksamkeit, als er sagte: „Wir ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der  Verwüstung durch die Erde und kümmern uns da noch nicht drum“. Kurz  darauf wurde er laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF  zum beliebtesten Politiker, was den Gedanken nahelegt, ob es  nicht genau diese Art von Politiker*innen sind, die unsere Gesellschaft  braucht, um dem Demokratieverdruss entgegenzutreten. Sei es Habeck mit ungewohnt schonungsloser Direktheit oder eben Anne Spiegel, die ein  Ressort geleitet hat, dass sie selbst verkörpert, wie kaum eine andere.

Dass all diese Überlegungen in der aktuellen Debatte um Spiegels Rücktritt kaum Platz finden, zeigt einmal mehr den blinden Fleck, den  unsere Gesellschaft in Bezug auf die Care-Krise hat. Die Soziologin  Bettina Kohlrausch bringt es auf den Punkt, wenn sie auf Twitter schreibt: „Unabhängig von der Frage, ob der Rücktritt von Spiegel richtig war oder nicht: wären wir während der Pandemie von mehr Menschen  regiert worden, die die Last der Sorgeverantwortung kennen, wären viele  Entscheidungen anders und vermutlich besser getroffen worden. Es ist für uns alle ein Problem, dass die Strukturen in der Politik Menschen  mit bestimmten Erfahrungen systematisch ausschließen. Dazu gehören auch die, die sich diesen extremen Belastungen aus anderen Gründen nicht  aussetzen können oder wollen. Es fehlen wertvolle Perspektiven.“

Klar gibt es im Fall Anne Spiegel Gründe für sachliche Kritik. Solche waren in den vergangenen Jahren jedoch selten Anlass für einen Rücktritt, denkt man nur an Masken-Deals, Spendendinner, Cum-Ex oder an die gescheiterte PKW-Maut. Der Grund für Spiegels Rücktritt liegt eher  in ihrer Überforderung und diese ist unter anderem bedingt dadurch, wer  sie ist: Eine Mutter von kleinen Kindern und das auch noch während einer  Pandemie. „Es ist ein strukturelles Problem, das dann in der konkreten  Situation als individuelle Verantwortung aufschlägt“, so Kohlrausch.

Die Corona-Pandemie hat vielen Frauen die berufliche Zukunft verbaut  oder sie zumindest in ihren Karrieren zurückgeworfen. Stellvertretend  für die Vielen nun auch die Familienministerin. Eigentlich nichts Besonderes.  Aber diesmal eben sehr sichtbar und gleichzeitig auch nicht.

Foto: Bundesregierung / Kugler

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