Das Bundesverfassungsgericht besitzt eine im internationalen Vergleich beträchtliche Machtfülle und genießt zugleich - anders als etwa der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten - nahezu ungebrochen hohes Ansehen in der Bevölkerung. Das Gericht bedient sich nicht nur einer unpolitisch anmutenden Entscheidungstechnik, sondern auch einer Rolle des Streitschlichters und inszeniert sich damit als Ersatzmonarch. Eine Reise in die Tiefen der verfassungsgerichtlichen Autorität.

Ideengeschichte des pouvoir neutre
Der Gedanke einer neutralen, über der politischen Arena stehenden Kraft geht auf den frankophonen Schriftsteller und Politiker Benjamin Constant zurück. Er umschrieb den französischen König als pouvoir neutre, der nicht primär Teil des politischen Prozesses ist, sondern lediglich als eine Art „Schiedsrichter“ oder „Wächter“ über ihm positioniert ist und nur ausnahmsweise eingreift.1 Die Idee einer solchen Charakterisierung des Monarchen wurde gut ein Jahrhundert später von Carl Schmitt aufgegriffen, der diese Position in der Weimarer Republik dem Reichspräsidenten in seiner häufig getätigten Zuschreibung als „Ersatzkaiser“ zuordnete.2 In dieser erbittert geführten Auseinandersetzung über den „Hüter der Verfassung“ ordnete Schmitts Antipode Hans Kelsen diese Rolle einem Verfassungsgericht zu.3 Ein solches existierte in institutionell verselbstständigter Form unter dem Regime der Weimarer Reichsverfassung in Deutschland noch nicht,4 wohl aber in Kelsens Heimat Österreich, wo der dortige Verfassungsgerichtshof bereits durch das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 installiert worden war. Der deutsche Staatsgerichtshof bezeichnete sich 1927 zwar selbst als „Hüter der Verfassung“5, konnte dieser Aufgabe aber aufgrund seiner schwachen institutionellen Stellung und seines begrenzten verfassungsarchitektonischen Kompetenzzuschnitts nicht gerecht werden.

Die „neutrale Gewalt“ des Grundgesetzes
Vor dem Hintergrund des letztlich unentschiedenen Streits von Weimar stellt sich die Frage, ob es eine „neutrale Kraft“ auch unter dem Grundgesetz geben kann und falls ja, welches Staatsorgan diese Position einnehmen soll. Auf den ersten Blick mag vor dem Hintergrund der funktionellen Charakterisierung des Reichspräsidenten durch Schmitt der Verweis auf den Bundespräsidenten plausibel erscheinen. In der Frühphase der Bundesrepublik schien diese Auffassung auch die dominierende zu sein, wie es etwa durch Äußerungen des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss,6 aber auch seitens der zeitgenössischen Literatur dokumentiert ist.7 Der Bundespräsident besitzt jedoch im Hinblick auf den Kompetenzzuschnitt des Reichspräsidenten weitaus weniger Befugnisse und fungiert eher als „machtloser“ Repräsentant des Staates. Zwar hätte es dem Wortlaut des Grundgesetzes nach durchaus Möglichkeiten gegeben, seine Kompetenzen interpretatorisch auszudehnen, seine Position im Staate entwickelte sich aber eher in die entgegengesetzte Richtung – sowohl verfassungsrechtlich, als auch realpolitisch. Schon Constant hat in seinem Zugriff auf die Konzeption einer „neutralen Gewalt“ die auctoritas zwar besonders hervorgehoben, die potestas aber wiederum nicht gänzlich vernachlässigt.
Die naheliegende Antwort auf die zuvor gestellte Frage liegt in der Qualifikation des Bundesverfassungsgerichts als pouvoir neutre des Grundgesetzes. Zwar ist Karlsruhe schon der Systematik des Verfassungstextes nach Teil der rechtsprechenden Gewalt, die Charakterisierung des Gerichts darf aber nicht begriffsjuristisch verengt werden. Das Grundgesetz konstituiert zwar ein Verfassungsgefüge lediglich aus den drei klassischen Gewalten, dies hindert aber nicht eine faktisch-politische Entwicklung über die formelle Einrichtung der Verfassungsorgane hinweg. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Frühphase vom Bundesgerichtshof, der sich in die Nachfolge des Reichsgerichts stellte, abgehoben, aber auch in politischer Hinsicht emanzipiert und damit seine Stellung als an der Staatsleitung partizipierendes politisches Organ behauptet.8
Das bedeutet allerdings nicht, dass Karlsruhe ein etwa dem Bundestag oder dem Bundeskanzler in seinen Handlungsoptionen und -erwartungen gleiches Organ ist. Das Bundesverfassungsgericht fungiert vielmehr als über das Medium der Verfassungsinterpretation den politischen Prozess ordnender „Streitschlichter“, es übernimmt also eine mäßigende und kontrollierende Funktion.9 Es ist zwar zutreffend, dass das Gericht anders als bei Constant nicht flexibel von sich aus tätig werden kann, sondern in seiner Aktivität stets antragsgebunden ist. Die ausdifferenzierte Typologie der Anrufungsmöglichkeiten und auch die Vielzahl der eingehenden Anträge stellt jedoch unter Beweis, dass ein Mangel an Gestaltungsoptionen jedenfalls nicht besteht. Sowohl ein rechtsmissbräuchliches Veto des konstitutionellen Monarchen bei Constant, als auch eine willkürliche Auslegung der Verfassung durch ein hypertrophes Verfassungsgericht liegen im Bereich des Möglichen. Die Tätigkeit des Gerichts erschöpft sich gerade nicht in formalistischer Normanwendung, sondern weist durch die rechtsschöpferische Dimension der Verfassungsauslegung auch über die Direktionskraft des Verfassungstextes selbst einen „politischen Mehrwert“ auf.10 Soll der pouvoir neutre die „weiseste“ Instanz im Staate sein, liegt hier der entscheidende Begrenzungsmechanismus beider Gewalten, wenngleich nur appellativ und nicht formalisiert.
Karlsruhe hat im Verlaufe seiner Geschichte immer wieder die Rolle eines Koordinationsfunktionärs übernommen, was anhand der vielseitigen Entscheidungsformentypik des Gerichts besonders deutlich wird. Es erlässt Appellentscheidungen für den Gesetzgeber,11 statuiert Übergangsregelungen,12 modifiziert den Willen des Gesetzgebers durch das Medium einer verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen13 und der politische Prozess orientiert sich in manchmal geradezu filigranster Art und Weise an den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus dem Karlsruher Schlosspark. Das Gericht nimmt seit Jahrzehnten aktiv an der politischen Gestaltung des Landes teil und ihm wird daher – teilweise zurecht – sogar eine „Usurpation“ der legislativen Gewalt vorgeworfen.14 Das Bundesverfassungsgericht ist damit nicht mehr nur Gericht, es ist eine „Singularität“15, eine „vierte Gewalt“, die in quasimonarchischer Weise ihre Schiedsrichterfunktion ausübt,16 aber dabei auch an der politischen Staatsleitung teilnimmt.

Entscheidungstechnik als Machtfaktor
Die Machtfülle des Gerichts kann sich jedenfalls nicht direkt auf eine unmittelbare Determination durch das Grundgesetz stützen, sie ist erklärungsbedürftig. Besagte Erklärung findet sich in der spezifischen Art und Weise, die das Gericht seine Entscheidungen strukturiert und methodisiert: Sie gliedern sich zumeist in „A. Streitgegenstand und Verfahrenshistorie“, „B. Zulässigkeit“ und „C. Begründetheit“. Dieser im Grundsatz jedem Jurastudenten bekannte Prüfungsaufbau ist jedoch mehr als nur eine formelle Strukturierungsleistung, sondern verleiht dem Gericht auch seinen kompetenziellen Zuschnitt. Im Rahmen der Begründetheit stellt es nämlich zuerst den sog. „Maßstäbeteil“17 auf (C. I.), um die in Rede stehende Sachverhaltskonstellation dann unter diesen zu subsumieren (C. II.). Diese Aufteilung führt dazu, dass sich das Bundesverfassungsgericht vom es überhaupt erst zur Verfassungsinterpretation ermächtigenden Sachverhalt löst und eine eigene Verfassungsschicht (den „Maßstab“) bildet, die es abstrahiert und mit der es kontextunabhängig operiert. Diese akontextuelle und ahistorische Verfassungsinterpretation erweckt den Eindruck, Karlsruhe greife dabei auf ein neutrales und unpolitisches Verfassungsverständnis zurück, weil die tatsächliche Dimension bei der Bildung und Verarbeitung der Maßstäbe selbst keine Rolle spielt. Das Gericht wiederum ist bereits von Verfassung wegen nur an das Grundgesetz gebunden und hat naturgemäß ein besonderes Interesse an einer hohen Akzeptanz seiner Entscheidungsbegründungen. Sein Ansehen profitiert von dieser Strategie maßgeblich, weil es seine Interpretationsleistung damit als Ergebnis einer zeitgeistlosen und fallübergreifenden Rechtserkenntnis präsentieren kann, ihn gewissermaßen pseudo-technisiert. Das lässt nicht auf eine „unjuristische“ Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts schließen, es ist ihm so aber erfolgreich gelungen, die durchaus vorhandene politische Dimension seiner Entscheidungsfindung zu camouflieren.

Sehnsucht nach dem Unpolitischen
Das Bundesverfassungsgericht ist damit nicht nur die „vierte Gewalt“, sondern übt in seiner Position als „Herr der Verfassung“18 auch die Macht eines Ersatzmonarchen aus. Im Zuge der Ausdehnung seiner Macht profitierte Karlsruhe maßgeblich von einer vordemokratischen und autoritätsgläubigen politischen Kultur, die nicht nur auf die kurze Epoche des Nationalsozialismus, sondern vielmehr auf die lange Periode des monarchischen Obrigkeitsstaates zurückzuführen ist.19 In Deutschland existiert noch immer eine gewisse Sehnsucht nach einer „starken Hand“, die „über dem politischen Geschehen steht“ und zugleich eine pazifizierende und integrierende Funktion erfüllt.20 Abgesehen von kurzen Einbrüchen im Zuge kontroverser Entscheidungen in den 1970er- und 1990er-Jahren21 sind die Beliebtheitswerte des Bundesverfassungsgerichts im Vergleich mit den anderen Verfassungsorganen konstant hoch.22 Das Gericht hat sich mit seiner Entscheidungstechnik und Selbstinszenierung einen Schleier umgelegt, der die Sehnsüchte der Deutschen nach dem Unpolitischen befriedigt. Es ist im Bewusstsein der Bevölkerung die vox constitutionis, die nicht politisch judiziert, sondern lediglich bereits in der Verfassung angelegte Direktiven in einem technisch-rationalen Prozess „freilegt“. Hierin liegt das Geheimnis seines Erfolges und seiner Machtposition als funktionaler Ersatzmonarch. Was bleibt, ist das Unbehagen: Quis vigilat vigilatores?

Fußnoten:

  1. Constant, Cours de politique constitutionnelle, Bd. 1, S. 2 ff., 186, 190.
  2. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 132 ff., ähnlich auch ders., Verfassungslehre, S. 351.
  3. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 1930/1931, S. 582 ff.
  4. Art. 103 WRV richtet lediglich das bereits seit 1879 existierende Reichsgericht als Superrevisionsinstanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein, Art. 108 WRV ordnet wiederum die einfachgesetzliche Einrichtung eines Staatsgerichtshofes an. Kompetenzen, die heute der Verfassungsgerichtsbarkeit zugeordnet werden, waren unter dem Regime der WRV auf verschiedene Akteure verteilt. Das Reichsgericht war etwa vereinzelt dafür zuständig, im Rahmen einer faktischen abstrakten Normenkontrolle die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht zu prüfen (Art. 13 Abs. 2 WRV) und auch das Wahlprüfungsgericht beim Reichstag (Art. 31 WRV) befasste sich im weitesten Sinne mit Verfassungsstreitigkeiten. Der Staatsgerichtshof war kein ständiges Gericht und besaß explizit die Zuständigkeit nur für staatsorganisationsrechtliche Streitigkeiten, so etwa für Anklagen gegen den Reichspräsidenten, den Reichskanzler oder Reichsminister (Art. 59 WRV). Über die Generalklausel des Art. 19 Abs. 1 WRV bestand jedoch die Möglichkeit, sich über eine entsprechende Auslegung Kompetenzen zu verleihen, die zum Teil auch genutzt wurde. Der Staatsgerichtshof ist hiernach etwa zuständig für Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes ohne Landesgericht (Art. 19 Abs. 1 Alt. 1 WRV), den Reich-Länder-Streit (Art. 19 Abs. 1 Alt. 3 WRV, mit Spezialfall in Art. 15 Abs. 3 WRV) und Vermögensauseinandersetzungen bei der Neugliederung des Reichsgebietes (Art. 18 Abs. 7 WRV). Zuletzt die Entscheidung zum sog. „Preußenschlag“ (RGZ 138, 1) dokumentiert jedoch eindrücklich, dass der Spruchkörper sein Potenzial nicht ausgeschöpft hat.
  5. RGZ 118, 1 (4).
  6. Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, in: Der Staat 1964, S. 207.
  7. So sprach etwa Maunz noch 1962 vom Bundespräsidenten als „Hüter der Verfassung“; vgl. ders., Staatsrecht (11. Aufl.), S. 314.
  8. Heute im Grundsatz herrschende Meinung, zurückgehend auf den sog. „Statusbericht“; vgl. Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, JöR 1957, S. 109 ff., später folgte die einfachrechtliche Normierung in § 1 Abs. 1 BVerfGG.
  9. Dies kommt der Leitfunktion, die Constant seiner „neutralen Gewalt“ zuordnet, bereits sehr nah: „[...] lorsque les pouvoirs publics se divisent et sont prêts à se nuir, il faut une autorité neutre qui fasse à leur égard ce que le pouvoir judiciaire fait à l'égard des individus“ (ders., Cours de politique constitutionnelle, Bd. 1, S. 7).
  10. Vgl. auch Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, in: Der Staat 1964, S. 216.
  11. Deutlich z. B. BVerfGE 54, 11 (37); 62, 256 (286).
  12. So etwa besonders ostensibel in der zweiten Abtreibungsentscheidung (1993), vgl. BVerfGE 88, 203 (334 ff.).
  13. Signifikant BVerfGE 88, 145 (166); 95, 64 (81, 93); 110, 226 (267); 112, 164 (182).
  14. Zweigert, in: Festgabe BVerfG (1976), Bd. 1, S. 74; Scholz, in: Festschrift für Klaus Stern (1997), S. 1206, 1208 f.; auch Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 44, 55 f.; Beurteilung im Lichte demokratischer Legitimation bei Doehring, in: Festschrift für Klaus Stern (1997), S. 1067; zur politischen Prägung Gusy, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Faktor, in: EuGRZ 1982, S. 93; krit. Geiger, Vom Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, S. 7.
  15. Bereits Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für Carl Schmitt (1959), S. 58.
  16. So i. E. auch Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, S. 343. Interessanterweise bezeichnet schon Constant selbst den pouvoir neutre als „en quelque sorte, le pouvoir judiciaire des autres pouvoirs“, schlägt also jedenfalls in terminologischer Hinsicht eine Brücke zur Rechtsprechung.
  17. Terminologisch Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, S. 170.
  18. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, S. 180.
  19. Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, S. 200 ff.; Helms, Ursprünge und Wandlungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den konsolidierten liberalen Demokratien, in: ZfP 2006, S. 68; Almond/Sidney, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, S. 428 ff.
  20. Im Überblick dazu Schaal, Das Bundesverfassungsgericht als Motor gesellschaftlicher Integration?, in: APuZ 2011, S. 29 ff. und Limbach, Die Integrationskraft des Bundesverfassungsgerichts, in: Integration durch Verfassung, S. 315 ff.
  21. Dazu Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, S. 52 ff.; Wesel, Der Gang nach Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, S. 223 ff., 308 ff.; Collings, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court, S. 109 ff., 248 ff.; zeitgenössisch jeweils Vogel, Videant Judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978, S. 665 ff. und Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, in: JZ 1996, S. 1085 ff.
  22. Patzelt, Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie, in: ZfPF 2005, S. 517 ff.

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