Der Bundestag ist zu groß – diesen Befund mag man wohl zurecht als opinio communis bezeichnen können. Die von der Ampelkoalition im Kampf gegen den „XXL-Bundestag“ bereits vor einiger Zeit angekündigte Wahlrechtsreform ist nun endlich da. Nach einer bisweilen hitzigen Debatte hat der Bundestag vergangenen Freitag den kontroversen und in letzter Minute noch einmal nachjustierten Regierungsentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes verabschiedet. Besonders Linke und Union stellten sich gegen die Reform, letztere kündigte prompt die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in Wege einer abstrakten Normenkontrolle an. Einem solchen Verfahren sind hohe Erfolgschancen zu attestieren, ist die aktuelle Änderung des Wahlrechts doch nicht nur in politischer Hinsicht unklug, sondern sogar verfassungswidrig.

Synopse
Grob formuliert funktionierte die Wahl des Deutschen Bundestages als personalisierte Verhältniswahl (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG a. F.) bisher folgendermaßen: Das Bundesgebiet war in 299 Wahlkreise mit etwa gleichgroßer Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit eingeteilt, in denen die Bürger mit ihrer Erststimme einen Kandidaten direkt wählten (§ 5 BWahlG a. F.). Daneben grundsätzlich 299 Listenplätze, die dem Ergebnis der Zweitstimmen folgend auf die Parteien verteilt werden (§ 6 Abs. 1 S. 1 BWahlG a. F. u. n. F.). So ergab sich die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages von 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG a. F., freilich vorbehaltlich gesetzlicher Abweichungen). Es konnte jedoch passieren, dass eine Partei mehr Direktmandate errungen hat, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze im Bundestag zustanden. Die gewählten Bewerber nahmen ihre Plätze im Parlament trotzdem in Form sog. Überhangmandate ein (§ 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG a. F.). Der bisherige Wahlmodus war gleichwohl primär Verhältniswahl.1 Da bei entsprechend hoher Zahl dieser Mandate die Gefahr einer Verfälschung des Wahlergebnisses der Zweitstimmen bestand, wurden Überhangmandate als Reaktion auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, die die vorherige Praxis für verfassungswidrig erklärte,2 durch sog. Ausgleichsmandate kompensiert.3 Bei zunehmender Zersplitterung der Parteienlandschaft, wie sie zunächst mit dem Einzug der Linkspartei in den Deutschen Bundestag, spätestens jedoch mit Gründung der AfD und der Schwächung der beiden Volksparteien zu beobachten war, birgt dieses System allerdings die Gefahr eines hypertrophen Bundestages. Genau diese Gefahr hat sich in den letzten beiden Wahlperioden realisiert, wie die Veränderung der Zahl der Abgeordneten von 631 (18. Legislaturperiode) auf 709 (19. Legislaturperiode) und nunmehr 736 (20. Legislaturperiode) demonstriert.

In Ansehung dieses vor allem in seiner Ausprägung als Belastung des Bundeshaushalts beleuchteten Problems ist es fast ein Jahrzehnt nicht gelungen, eine konsensfähige Wahlrechtsreform zu entwickeln. Der Ampel ist dies auf Grundlage der Arbeit der nach § 55 S. 1 BWahlG eingesetzten Reformkommission geglückt. Der neue Wahlmodus behält den bisherigen Funktionsmodus zwar abweichend von der Streichung der Bezeichnung als personalisierte Verhältniswahl in § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG n. F. grundsätzlich bei, nimmt jedoch einschneidende Veränderungen vor. Die Trennung in zwei Stimmen bleibt erhalten, die Zweitstimme soll allerdings zur „maßgeblichen Determinante des Wahlergebnisses“4 werden: Die einer Parteiliste zustehende Zahl von Abgeordneten soll künftig nicht mehr durch Überhang- und Ausgleichsmandate erhöht werden. Die Wahl der Direktkandidaten bleibt daneben zwar erhalten, die Kandidaten werden jedoch dem Ergebnis in ihrem jeweiligen Wahlkreis nach aufgereiht (§ 6 Abs. 1 S. 2 BWahlG n. F.) und die der Parteiliste nach dem Hauptstimmenanteil zustehenden Mandatszahl zugeordnet (§ 1 Abs. 3 S. 2 BWahlG n. F.). Das Wahlkreismandat wird nicht vergeben, wenn die Zahl durch eine Liste „gewonnener“ Wahlkreise die Zahl der ihr zustehenden Mandate nach dem Ergebnis der Listenwahl übersteigt (fehlende Zweitstimmendeckung, § 6 Abs. 1 S. 1 BWahlG n. F.). Gewissermaßen paradigmatisch für den Bedeutungszuwachs der Verhältniswahl bei korrespondierendem Bedeutungsverlust der Personenwahl steht also der „Tausch“ von Erst- und Zweitstimme, auch auf dem Stimmzettel (§ 30 Abs. 2 BWahlG n. F.). Die noch zwischenzeitlich im Rahmen der Wahlrechtskommission vorgeschlagene Korrekturmöglichkeit über eine sog. Ersatzstimme5 ist angesichts der damit verbundenen verfassungsrechtlichen Komplikationen6 und Verkomplizierung des Wahlvorgangs nicht in das Änderungsgesetz aufgenommen worden. Die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages erhöht sich weiterhin von bisher 598 auf nunmehr 630 (§ 1 Abs. 1 S. 1 BWahlG n. F.). Zuletzt – und von elementarer Bedeutung für die Evaluation der Verfassungsmäßigkeit der Reform – ist die Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG a. F.) erst kurz vor der Debatte gestrichen worden,7 von der unlängst die Linkspartei profitierte.8

Kontrollmaßstab
Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag ist im Grundgesetz indes in Übereinstimmung mit der deutschen Verfassungstradition nicht bzw. lediglich in Form der Wahlgrundsätze vorgegeben. Der einfache Gesetzgeber ist vielmehr nach Art. 38 Abs. 3 GG zur Entscheidung für einen bestimmten Wahlmodus und dessen Ausgestaltung ermächtigt. Damit erhält er zunächst einen weiten Gestaltungsspielraum.9 Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ist gleichwohl kein funktionelles Kompetenzkriterium, sondern sie ist materiell-rechtlich determiniert. Bei der bekannten Dreistufigkeit aus Evidenz-, Vertretbarkeits- und intensivierter inhaltlicher Kontrolle10 handelt es sich weniger um eine strikte, selbstauferlegte Bindung, sondern vielmehr um eine bloße Beschreibung der vorangegangenen Praxis des Gerichts11 - die Begriffe haben also keine normative, sondern nur deskriptive Funktion. Die Kontrolldichte ist folglich eher als graduelle, sachbereichsspezifische Bestimmung der Intensität gerichtlicher Überprüfung zu begreifen. Bei der Festlegung des Kontrollmaßstabes sind unterschiedliche Faktoren in den Blick zu nehmen und zunächst die teilrechtsgebietsspezifischen Besonderheiten des Wahlrechts als „Kernstück des Staatsrechts“12 zu berücksichtigen.

Die Regelung des Wahlmodus weist als neuralgischer Punkt der Legitimation einen hohen Bezug zum Demokratieprinzip und berührt das Fundament einer parlamentarischen Demokratie. Auch vor diesem Hintergrund gilt es zu bedenken, dass „gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt“13. Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt aufgrund des hohen Missbrauchspotenzials einer besonders intensiven Kontrolle des Gerichts.14 Diese folgerichtige Weichenstellung des Gerichts lässt sich auch nicht durch iterative Bekundungen der eigenen noblen Absichten oder pathetischen Hinweisen auf die lobenswerte „Reform an uns selbst“ (so Britta Haßelmann, Ko-Vorsitzende der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, in der Plenardebatte) durch Mitglieder der Regierungsparteien entkräften. Die neuerliche Akzentuierung der Verhältniswahl ist dem Gesetzgeber gestattet. Wie erwähnt, gibt das Grundgesetz kein bestimmtes Wahlsystem vor, sodass es ihm steht es freisteht, sich für ein Wahlmodell zu entscheiden, sodass sowohl ein vollständiger Paradigmenwechsel zur reinen Mehrheitswahl wie auch zum gegenläufigen Extrempunkt einer genuinen Verhältniswahl in Frage käme.15 Eine Eingrenzung findet sich nur in der Pflicht des Gesetzgebers, das jeweils gewählte System folgerichtig auszugestalten.16 Die Kontrollperspektive des Gerichts ist damit wahlrechtlich relativiert und wird maßgeblich von der Entscheidung des Gesetzgebers für ein bestimmtes Wahlsystem determiniert.

Bewertung
Das Kernproblem der Reform offenbart sich rasch als Folge seiner konzeptionellen Radikalität. Die Kopplung der Direktmandate an die Zahl der Zweitstimmen kann dazu führen, dass im schwerwiegendsten Fall eine Partei nahezu jeden Wahlkreis in einem Land gewinnt, gleichwohl aber nicht im Bundestag vertreten ist, weil der Stimmenanteil im gesamten Bundesgebiet bei unter 5 Prozent liegt (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG n. F.), weil der mögliche „Rettungsanker“ der Grundmandatsklausel entfällt. Das „bayerische Szenario“ mit Blick auf die CSU mag aktuell angesichts der vorteilhaften politischen Großwetterlage für die Unionsparteien zwar unwahrscheinlich sein, gänzlich ausgeschlossen ist es vor dem Hintergrund des Ergebnisses der letzten Bundestagwahl (Die Christlichsozialen gewannen 45 der 46 bayerischen Wahlkreise, erhielten bundesweit jedoch lediglich einen Stimmenanteil von 5,2 Prozent der Zweitstimmen17) jedoch nicht. Zwar steht es dem Gesetzgeber frei, das Wahlrecht in Form auch einer reinen Mehrheits- oder Verhältniswahl auszugestalten (s. o.); er ist dennoch an das Gebot der Folgerichtigkeit gebunden. Ein vollständiger Spurenwechsel ist mit der Reform abweichend von der Darstellung in der Gesetzesbegründung18 also nicht verbunden, bleibt doch die Wahl der Direktkandidaten erhalten. Bekräftigt wird dieser Eindruck durch die prioritäre Berücksichtigung der gewählten Bewerber in den Wahlkreisen bei der Vergabe der Listenplätze (§ 1 Abs. 3 S. 1 BWahlG n. F.). Das neue Wahlrecht misst den Direktkandidaten damit erkennbar eine – wenn auch im Vergleich zur alten Rechtslage reduzierte – Bedeutung bei, indem die Willensbildung des Volkes nach wie vor maßgeblich durch die Wahlkreisstimme kanalisiert wird.

Die Beibehaltung der Personalisierung in den Wahlkreisen setzt den Gesetzgeber entsprechend unter Rechtfertigungsdruck. Die sich hieraus ergebende Systemwidrigkeit wird nicht mit einem Korrekturmechanismus aufgelöst; ein solcher existiert ja als Folge der Eliminierung der Grundmandatsklausel gerade nicht. Aus rechtspolitischer Sicht hätten sich sicherlich praktikable Alternativen angeboten, so etwa eine regional variierende Fünf-Prozent-Hürde oder die Beibehaltung der Grundmandatsklausel bei gleichzeitiger Erhöhung der zu erringenden Sitze. Es ist gleichwohl nicht Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit, das vom Gesetzgeber gewählte Regelungskonzept auf Zweckmäßigkeitserwägungen hin zu überprüfen, sondern die Kontrolle beschränkt sich lediglich auf eine Überprüfung der Einhaltung normativ gesetzter Grenzen am Maßstab des Grundgesetzes,19 insbesondere auf Verletzungen der Wahlrechtsgleichheit als Resultat derartiger Systemwidrigkeiten.

Diese Grenzen sind hier folglich überschritten. Die Grundmandatsklausel ist an früherer Stelle lediglich als verfassungsgemäß gebilligt worden,20 zu einer etwaigen Charakterisierung der Regelung als Konkretisierung eines verfassungsrechtlichen Gebots ist damit aber nichts gesagt. Eine isolierte Betrachtung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Klausel geht indes nicht nur am Kern des Problems vorbei, sondern verkennt auch den durch wahlrechtlich determinierten und durch eine Gesamtbetrachtung der jeweiligen Regelungskonzeption bedingten Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts. Ihre Funktion erhält im Rahmen der wahlrechtlichen Systemverschiebung neue Relevanz und lässt sie zu einem notwendigen, nicht aber einzig möglichen Korrektiv avancieren. Denkbar ist ebenfalls eine Absenkung der Sperrklausel, die indes unverändert bei fünf Prozent geblieben ist (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BWahlG n. F.). Die Billigung der Fünf-Prozent-Hürde durch das Bundesverfassungsgericht21 ist im Kontext des jeweiligen Wahlsystems zu betrachten, ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit ist nicht in Stein gemeißelt. Liegen „besondere Umstände des Einzelfalles“22 vor, kann dies ihre Verfassungswidrigkeit begründen. In diese Judikatur fügt sich ebenso die Billigung der Ausnahmeregelung für die PDS auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ein, nach der sich die Zulässigkeit einer Sperrklausel nicht „ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann“23. Derartige Besonderheiten offenbaren sich in Gestalt der möglichen Repräsentationsdefiziten als Folge des Wegfalls der Grundmandatsklausel. Die derzeitige Sperrklausel gerät auf diese Weise unter zusätzlichen Rechtfertigungsdruck.

Darüber hinaus ergeben sich im Hinblick auf die oben beschriebene Konsequenz ganz grundsätzliche Schwierigkeiten: Die Wahlentscheidung über die Bewerber in den Wahlkreisen wird bei fehlender Hauptstimmendeckung dann als praktisch funktionsloser Akt legitimatorisch entleert. Den Direktkandidaten kommt eine wichtige Funktion im Rahmen des Integrationsvorgangs der Wahl und damit im demokratischen Prozess zu.24 Ihre Wahl verkommt über die „Hintertür“ der Hauptstimmendeckung jedoch zur reinen Farce und wird ihrer demokratietheoretischen Bedeutung nicht gerecht. Weder das „Trostpflaster“ der Sitzvergabe auf Grundlage einer Reihung der Wahlkreisgewinner nach ihrem jeweiligen Stimmenanteil (§ 6 Abs. 1 S. 2 BWahlG n. F.), noch die marginale Erhöhung der gesetzlichen Mitgliederzahl vermag diese Defizite effektiv zu kompensieren. Ob gar der von Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, in einer gemeinsamen Stellungnahme mit Friedrich Merz (CDU) monierte Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip in Betracht kommt, ist allerdings fraglich. Der Gesetzgeber hat zunächst das Recht, sich bei der Ausgestaltung seiner Regelungskonzeption am föderalen Aufbau der Bundesrepublik zu orientieren.25 Ob ihn darüber hinaus eine Pflicht zur Inkorporation bundesstaatlicher Elemente in die Regelung des Wahlrechts trifft, kann hier offen bleiben. Fest steht jedenfalls, dass die Existenz der CSU nicht bloß das Produkt einer machiavellistischen politischen Strategie ist, sondern auf eine mehr als 150-jährige Parteiengeschichte zurückgeht: Bereits das Nebeneinander von BVP und Zentrum in der Weimarer Republik als Folge der bayerischen Regionalisierung innerhalb der Zentrumspartei schon im Kaiserreich belegt ein solches, auf dem föderalen Gedanken beruhendes Modell, das sich in Form einer Fraktionsgemeinschaft beider Parteien im Reichstag auch organisatorisch zementierte.

Ferner ist der Gesetzgeber bei der Konstruktion des Wahlrechts und den damit verbundenen Prognoseentscheidungen zu einer Orientierung an der politischen Wirklichkeit verpflichtet.26 Die Wahl des Deutschen Bundestages lässt sich funktional als Integrationsvorgang begreifen, der darauf angelegt ist, dass relevante Anliegen des Staatsvolkes in der Zusammensetzung des Parlamentes ihren Ausdruck finden.27 Der Sache nach hat der Gesetzgeber also die konfligierenden Abwägungspositionen zu bewerten und auszugestalten. Gegen die Integrationsfunktion der Wahl lässt sich die Sicherstellung der Handlungs- und Funktionsfähigkeit des Parlamentes in Stellung bringen; letztere ist als Belang von Verfassungsrang gebilligt. 28 Die Reform stellt sich ausdrücklich als Reaktion auf die als unbefriedigend empfundene Größe des Bundestages dar, der Gesetzgeber hat sie damit in eine Zweckbeziehung mit der Arbeitsfähigkeit des Parlaments gebracht.29 Die Koalition bezieht sich nicht nur auf das in den letzten Legislaturperioden kontinuierliche Anwachsen der Zahl der Abgeordneten, sondern hat auch Modellrechnungen zur Grundlage ihrer Entscheidung gemacht, die von einer Vergrößerung des Bundestages auf bis zu 900 Abgeordnete ausgehen.30 Der Rechtfertigungsmaßstab bemisst sich nach der Wahrscheinlichkeit spürbarer Funktionsstörungen. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts und dem Gewicht solcher Störungen der Arbeitsfähigkeit des Bundestages scheint der ausbleibende Einzug nahezu aller direkt gewählten Kandidaten eines Landes nicht rechtfertigungsfähig. Ein solches Szenario ist auch nicht gänzlich ausgeschlossen, sodass es sich durchaus in die politische Realität einfügt, die der Wahlgesetzgeber zum prognostischen Maßstab seiner Regelungskonzeption machen muss. Es geht nicht darum, Rücksicht auf oberflächliche Parteistrategien zu nehmen, sondern auf potentielle Repräsentationsdefizite zu reagieren. Parteien müssen sich nicht bedingungslos dem Wahlrecht fügen, andernfalls stünde die Parteienfreiheit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers, Art. 21 GG wäre normativ entwertet. Derartige Schuldzuweisungen an ein vermeintliches „Geschäftsmodell“ der Partei sind wohl eher von einer politisch gefärbten Antipathie gegen die CSU getragen.

Eine weitere Problemdimension findet sich in der praktischen Konsequenz der Reform, dass unabhängige Wahlkreiskandidaten weiterhin aufgrund eines Sieges im jeweiligen Wahlkreis ihr Mandat antreten können, ohne dabei an die Hauptstimmendeckung der Listenwahl gebunden zu sein. Eine Streichung der listenunabhängigen Kandidatur kam im Angesicht ihrer verfassungsrechtlich zwingenden Natur des Rechts, Wahlvorschläge zu machen, als „Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl“31 nicht in Betracht – die Bundesrepublik ist damit kein totaler „Parteienstaat“.32 Der Legitimationsmaßstab bewegt sich hier also wieder in den Bahnen des alten Systems, während listenangehörige Direktkandidaten an das Ergebnis der Hauptstimmen gebunden sind. Die bereits zuvor konstatierte Inkonsistenz innerhalb des modifizierten Wahlsystems setzt sich an dieser Stelle fort, indem die umfassende legitimatorische Wirkung der Wahlkreisstimme ihr für die einen Bewerber genommen wird, für andere jedoch verbleibt. Am Ende bleibt nur der Verweis auf einen praktifizierten Lösungsansatz, indem wahlrechtlich prekarisierten Parteien nur die Möglichkeit verbliebe, sich auf unabhängige – aber von ihrer jeweiligen Partei unterstütze – Kandidaturen zurückzuziehen, um die Gefahr eines über die fehlende Zweitstimmendeckung gesperrten Einzuges in den Bundestages zu eliminieren. Ein solches Vorgehen stellt jedoch mitnichten eine viable Alternative dar und kann die Beeinträchtigungsintensität der vorliegenden Ungleichbehandlung nicht abfedern. Dies gilt umso mehr, als ein solches Vorgehen bisher bereits im Hinblick auf § 20 Abs. 3 BWahlG als Rechtsmissbrauch gedeutet wurde.33

Zuletzt ist das verfassungsrechtliche Augenmerk auf die prekäre Regelung des § 20 Abs. 2 S. 2 BWahlG n. F. zu richten, nach der Parteien nur dann Wahlkreiskandidaten aufstellen können, wenn die betreffende Partei zugleich für eine Landesliste zugelassen ist. Dies wiederum richtet sich für nicht in einem Landtag oder Bundestag vertretene Parteien nach dem in § 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG a. F. u. n. F. formulierten Unterschriftenquorum, sodass die Direktkandidatur effektiv von der Zusammenstellung von 2000 Unterstützungsunterschriften abhängt. In der Praxis weichen Kleinstparteien oft darauf aus, lediglich Direktkandidaten aufzustellen, um vom deutlich niedrigeren und im Zuge der Reform unverändert gebliebenen Quorum des § 20 Abs. 2 S. 3 BWahlG n. F. bzw. § 20 Abs. 2 S. 2 BWahlG a. F. (200) zu profitieren. Die damit tangierte Chancengleichheit der Parteien an der Schnittstelle von Parteienfreiheit und Demokratieprinzip führt zu einer weiteren Erhöhung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte. Im Ergebnis sieht man sich also nicht nur mit einer Gefährdung der Offenheit des politischen Prozesses, sondern auch einer weiteren Ungleichbehandlung konfrontiert, die nur durch „zwingende Gründe“ gerechtfertigt werden kann.34 Die Notwendigkeit eines Unterschriftenquorums stellt grundsätzlich keinen Verstoß gegen ebenjene Chancengleichheit dar,35 der partielle Systemwechsel im Wahlrecht führt jedoch auch hier zu einer Verschiebung der Beurteilungsperspektive. Die Kopplung der Direktkandidatur an die Zulassung einer Landesliste verschärft dieses Problem in nicht zu rechtfertigender Weise.

Fazit und Ausblick
Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist immer ein Politikum. Ein „Anschlag auf die Demokratie“ (so Jan Korte, parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, in der Bundestagsdebatte) lässt sich in der neuen Änderung des BWahlG wohl nicht erblicken. Abseits der „Nebenkriegsschauplätze“ verleiht insbesondere die vollständige, mit heißer Nadel gestrickte Abschaffung der Grundmandatsklausel als möglicher Korrekturmechanismus zur Vermeidung legitimatorisch problematischer Ergebnisse dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit der beschlossenen Reform gleichwohl ihr Fundament. Die Beibehaltung der Klausel wurde der Bundesregierung auch gerade deshalb von den eigenen Sachverständigen im Rahmen der Wahlrechtskommission nahegelegt.36 In Gesetzesform gegossen wurde diese ausdrückliche Empfehlung nicht – ob nun aus speziell gegen die Christlichsozialen gerichtetem politischen Kalkül oder nicht. Die bereits mehrfach artikulierte Kritik hieran aus den Reihen der Koalition selbst stellt insoweit keine Überraschung dar.

Damit aber noch nicht genug: Die Ampel will ihr Reformprogramm weiter abarbeiten. Dazu gehört auch die Absenkung des Stimmrechtsalters auf 16. Praktisch dürfte dies jedoch schwierig umzusetzen sein, fehlt der Regierungskoalition doch (selbst mit der Linksfraktion) die dafür angesichts Art. 38 Abs. 2 GG notwendige verfassungsändernde Mehrheit, die Union dürfte im Zuge der politischen Dramaturgie der Wahlrechtsreform eher kooperationsunwillig sein. Befremdlich und obendrein wie eine Drohung erscheint demgegenüber die Ankündigung eines sog. Paritätsgesetzes: Dieses geradewegs aus dem Gruselkabinett verfassungswidriger Absurditäten stammende Konzept dürfte im Angesicht landesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen aus der jüngeren Vergangenheit37 sowie einer kritischen Stellungnahme aus Karlsruhe38 verfassungsrechtlich wohl kaum Bestand haben. Verlierer dieser wahlrechtlichen Tragikomödie ist also nicht die Union, sondern vor allem das Grundgesetz.

Fußnoten:

  1. BVerfGE 6, 84 (90); 13, 127 (129); 16, 130 (139); 66, 291 (304); 95, 335 (357 f.); 121, 266 (297); 131, 316 (359).
  2. BVerfGE 131, 316 (357).
  3. 22.Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 9. Mai 2013 (BGBl. 2013 I, S. 1082).
  4. BT-Drs. 20/5370, S. 2.
  5. BT-Drs. 20/3250, S. 20.
  6. Dazu jedenfalls Bedenken in BVerfGE 146, 327 (359 f.), dort jedoch als „Eventualstimme“ bezeichnet.
  7. Vgl. BT-Drs. 20/6015, S. 7.
  8. Die Partei erreichte bei der Bundestagswahl 2021 lediglich 4,9 Prozent der Zweitstimmen, errang jedoch in den Wahlkreisen Berlin-Lichtenberg, Berlin-Treptow-Köpenick und Leipzig II ein Direktmandat.
  9. Im Grundsatz BVerfGE 3, 19 (24).
  10. Erstmals BVerfGE 50, 290 (333).
  11. Übereinstimmend Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 12. Aufl. 2021, Rn. 535 und v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit (1992), S. 156. Ausweichend BVerfGE 88, 203 (262): „Ob sich hieraus für die verfassungsgerichtliche Prüfung drei voneinander unterschiedliche Kontrollmaßstäbe herleiten lassen, bedarf keiner Erörterung; die verfassungsrechtliche Überprüfung erstreckt sich in jedem Fall darauf, ob der Gesetzgeber die genannten Faktoren ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum ‚in vertretbarer Wese‘ gehandhabt hat.“.
  12. Ipsen, Wahlrecht im Spannungsfeld von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 2013, S. 265.
  13. BVerfGE 146, 327 (352); Vgl. auch schon BVerfGE 120, 82 (113); 129, 300 (322 f.); 130, 212 (229); 135, 259 (289).
  14. BVerfGE 135, 259 (290).
  15. BVerfGE 1, 208 (246); 6, 84 (90); 34, 81 (100); 131, 316 (334 f.). Das Spektrum diskutierter Vorschläge ist nahezu unüberschaubar breit, vgl. den Überblick bei Schröder, Wahlrecht – Reformoptionen und Pfadabhängigkeiten – eine verfassungsrechtliche Inventur, Ad Legendum 2021, S. 1 ff., der in der Tendenz ein reines Verhältniswahlsystem befürwortet (S. 8) und aus der aktuellen Diskussion exemplarisch Behnke, Einfach, fair, verständlich und effizient – personalisierte Verhältniswahl mit einer Stimme, ohne Direktmandate und einem Bundestag mit Regelgröße, ZParl 2019, S. 630 ff.; Die Verfassungswidrigkeit eines Grabenwahlrechts konstatierend Kluckert, Das Grabenwahlrecht auf dem Prüfstand der Verfassung, NVwZ 2020, S. 1217 ff. und für die Einführung einer Ersatzstimme (s. o.) plädierend Träger/Jakob, (Wie) Lässt sich das deutsche Wahlsystem reformieren? Modellrechnungen anlässlich der Bundestagswahl 2017 und Plädoyer für eine „ent-personalisierte“ Verhältniswahl, ZParl 2018, S. 531 ff. Ein reines Mehrheitswahlrecht ist demgegenüber vor allem in der Zeit der ersten „Großen Koalition“ (1966-1969) gefordert worden.
  16. BVerfGE 95, 335 (354); 120, 82 (104).
  17. https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2021/52_21_endgueltiges-ergebnis.html.
  18. BT-Drs. 20/5370, S. 10.
  19. BVerfGE 3, 19 (24 f.); 3, 383 (394); 51, 222 (238); 135, 259 (289); 146, 327 (357).
  20. BVerfGE 95, 408 (420 ff.).
  21. BVerfGE 1, 208 (247 ff.); 4, 31 (39); 6, 84 (93); 51, 222 (235 ff.); 82, 322 (337 ff.); 95, 335 (366); 95, 408 (417 ff.); 120, 82 (109 ff.); 122, 304 (314 ff.). Das Gericht hielt die Klausel selbst nach dem Ergebnis der Bundestagswahl 2013 für verfassungsrechtlich unbedenklich, als sie zu dem allgemein als unbefriedigend kritisierten Zustand führte, dass während der 18. Legislaturperiode 15,7 Prozent der Zweitstimmen unberücksichtigt blieben.
  22. BVerfGE 1, 208 (256); 51, 222 (237).
  23. BVerfGE 82, 322 (338).
  24. BVerfGE 131, 316 (342 f.). Diese Einschätzung deckt sich damit, dass das Gericht im Hinblick auf die Grundmandatsklausel in den erfolgreichen Wahlkreiskandidaturen ein Indiz für die Rechtfertigung einer parlamentarischen Repräsentanz gesehen hat (BVerfGE 95, 408 [423]).
  25. BVerfGE 96, 335 (350); 121, 266 (303); 131, 316 (335). Eine dem Bundesstaatsprinzip zu entnehmende Pflicht ablehnend jedenfalls Thum/Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, Erläuterungen zum BWahlG Rn. 42.
  26. BVerfGE 120, 82 (107); 129, 300 (321); 135, 259 (287); 146, 327 (352).
  27. BVerfGE 6, 84 (92 f.); 14, 121 (135 f.); 24, 300 (341); 41, 399 (421); 51, 222 (236); 74, 81 (97); 95, 408 (419); 136, 327 (355). Die Interpretation der Wahl als Integrationsvorgang stellt eine konzeptionelle Weiterentwicklung der Integrationslehre Rudolf Smends dar, vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), S. 18 ff.
  28. So BVerfGE 82, 322 (338); 95, 335 (366); 95, 408 (419); 120, 82 (111); 131, 316 (344); 146, 327 (353 f.).
  29. Vgl. auch BT-Drs. 20/5370, S. 1.
  30. BT-Drs. 20/5370, S. 1. Weitere Prognosen mit Blick auf unterschiedliche Reformvorschläge bei Pukelsheim, Bundestag der Tausend – Berechnungen zu Reformvorschlägen für das Bundeswahlgesetz, ZParl 2020, S. 469 ff.
  31. BVerfGE 41, 399 (417).
  32. Klassisch Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966, S. 118 ff.
  33. Wolf/Schreiber, BWahlG, 11. Aufl. 2021, § 20 BWahlG Rn. 18.
  34. BVerfGE 6, 273 (280); 8, 51 (64 f.); 73, 40 ( 88 f.).
  35. BVerfGE 3, 19 (26 f.).
  36. Ausschuss für Inneres und Heimat, A-Drs. 20(4)171 H, S. 6 f.
  37. VerfGH TH, Urt. v. 15.07.2020 – VerfGH 2/20 und VerfG Bbg, Urt. v. 23.20.2020 – VfG Bbg 55/19.
  38. BVerfG, Beschl. d. 1. Kammer d. Zweiten Senats v. 06.12.2021 – 1 BvR 1470/20 Rn. 42. Eine kritische Stellungnahme findet sich bereits in BayVGH Entsch. v. 26.03.2018 – Vf. 15-VII-16 Rn. 109 ff.

Foto: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_Reichstag_Building_-Bundestag(Ank_Kumar).jpg.

Dir gefällt, was Jonas von Zons schreibt?

Dann unterstütze Jonas von Zons jetzt direkt: