Möchte man der einschlägigen Literatur oder den unzähligen Life-Coaches glauben, könnte unser Leben ein Quell steter Freude sein, würden wir nur nicht ständig vergessen, regelmäßig mal kurz innezuhalten, tief durchzuatmen, laut TSCHAKKAAA zu brüllen und unserem nur scheinbar gebeutelten Selbst im Spiegel ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen.
So etwas wie Depressionen gäbe es über Nacht nicht mehr und wir alle würden jedes unserer in die Sterne gesteckten Ziele problemlos erreichen - und wenn nicht, dann wüssten wir wenigstens immer gleich, woran es gelegen hat und was wir anders machen müssten.
Es einfach stärker wollen nämlich und im Vorfeld bisschen besser visualisieren, bitteschön. Darauf allein kommt`s an: Kannstes dir vorstellen, kannstes auch erreichen. Und was du nur wirklich, wirklich stark genug willst, das klappt auch. Versprochen. Hand drauf. Tschakka
Klingt toll.
Ist aber Blödsinn.
Zumindest dann, wenn die Probleme in einer psychischen Erkrankung wie einer Depression begründet liegen.
Vermutlich sind Depressive für den Life-Coach das, was der Veganer für den Metzger ist - unnützes Material, das im schlimmsten Fall auch noch als Beweis dafür dient, dass das angebotene Produkt nicht nötig, bzw. nicht notwendig ist. Im wahrsten Sinne des Wortes:
Dass es die NOT nicht WENDEN kann.
Gerade der Depressive bekommt oft genug zu hören, dass das, was er da als so schlimm empfindet, doch sooo tragisch gar nicht sein kann, er müsse sich eben bisschen mehr bemühen, mal raus gehen, Sport machen, Leute treffen und nicht immer nur im Bett oder daheim auf der Couch rumlümmeln.
Er fühlt sich sowieso schon unzulänglich und jetzt soll er auch noch seine Empfindungen grundsätzlich infrage stellen?
Nix kann er. Aber auch echt gaaar nix.
Mit freundlichen, wohlgelaunten und geselligen Menschen kann der Durchschnittsbürger ganz gut umgehen, aber was ist mit den Traurigen, den Stillen, den Wütenden - alles ganz normale, menschliche Gefühlsregungen, aber nicht so gern gesehen. Eine kranke Psyche schon mal erst recht nicht.
"Wir müssen ja sowieso denken,
warum dann nicht gleich positiv?"
lässt Albert Einstein fragen und so sehr ich ihn für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse auch schätze, für diesen Spruch möchte ich ihm sämtliche Metall- und Holzschilder, auf die seine Frage gedruckt ist, am liebsten posthum um die Ohren hauen.
Warum nicht gleich positiv, Albert?
Weil es nichts weiter als eine Phrase ist und weil es Menschen gibt, die aufgrund einer psychischen Erkrankung einfach nicht dazu in der Lage sind und, wenn sie denn mit solchen "Motivationssprüchen" konfrontiert werden, sich noch unzulänglicher fühlen, als ohnehin schon - was ihren Fall durch die Abwärtsspirale nicht selten unnötig beschleunigt.
Ich glaube, es wäre unserer Gesellschaft, sowohl von Depressionen Betroffenen als auch nicht Betroffenen, schon sehr geholfen, bekämen wir nicht ständig vermittelt, der einzig gangbare Weg führe nach oben und wenn darüber hinaus die volle Bandbreite der menschlichen Emotionen gleicher-maßen Beachtung fände, bzw. als normal empfunden würde. Denn das sind sie allesamt. Ja. Auch so unsympathische Gefühlsregungen wie Wut, Zorn oder Verachtung - keiner kann sich davon lossagen. Wir sind nun mal Menschen. Das alles gehört zu uns. Und das alles darf sein. (Stimme aus dem Off: Aber bitte nicht zu lange. Das ist unschicklich.) HALT DIE KLAPPE, DU ELENDES MISTSTÜCK!
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Nehmen wir einfach mal die Trauer. Wir leben in einem Land, in welchem den meisten Arbeitnehmern bei Tod eines Elternteils, des Ehe- oder Lebenspartners oder eines Kindes ganze zwei Tage Sonderurlaub zustehen. ZWEI TAGE! Hhm. Muss dann wohl genug sein, um den Tod des eigenen Kindes zu verkraften. Naja, zumindest für so`n paar läppische 8 oder 9 Stunden wird man sich ja auch bitteschön mal zusammenreißen können, das kann man ja wohl erwarten ...
Sehr viel psychisches Leid geht meiner Meinung nach auf die Tatsache zurück, dass wir es gewohnt sind und von uns erwartet wird, bestimmte Empfindungen zu unterdrücken. Es ist aber alles andere als normal, immer bestens gelaunt zu sein. Es gibt nicht nur weiß. Es gibt ganz, ganz viel bunt und das will beachtet und gelebt werden - einfach seinen Raum bekommen.
Was nicht raus darf, frisst uns irgendwann auf - für mich eine der wichtigsten Lektionen auf dem Weg zu psychischer Stabilität.
Hä? Moment. Was schreibtn die da , die ist doch gar nicht psychisch stabil, die hat doch selbst einen an der Klatsche?
Ja, kann man durchaus so sagen, das heißt aber nicht, dass das, was ich nicht dauerhaft umgesetzt bekomme, nicht dennoch der für mich richtige Weg ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn es mir gut geht und ich weiß, wie ich dort hingekommen bin.
Aber manchmal ist vielleicht der Tank nicht voll genug oder irgendein Verschleißteil gibt unterwegs den Geist auf, sowas kommt vor. Dann muss man eben in die Werkstatt und seine Reise anschließend fortsetzen. So what?
Ich glaube, das positive Denken ist absolut erstrebenswert und ich will auch sicher kein Coach-Bashing betreiben, ich fände es nur sehr viel schöner und vor allem natürlicher, wenn vermittelt würde, dass auch ein schlechter Tag kein Weltuntergang ist und dass auch das Negative zwar nicht zwingend etwas Positives beinhalten muss (noch so ne Phrase ...), dass das aber auch gar nicht nötig und vor allem: wider die Natur wäre.
Schau dich um auf der Welt. Warum zum Henker sollte es ausgerechnet mir immer gut gehen? Wäre das nicht unfassbar ungerecht? Und würde ich dieses Gute überhaupt noch als solches erkennen und wertschätzen, wenn es denn die Norm wäre?
Wir haben die Kunst verlernt, die Dinge einfach mal SEIN zu lassen, wie sie sind, ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Alles muss perfekt sein. Dinge, Menschen, das Wetter, egal.
Ich bin sicher, würden wir weniger von Rückfällen sprechen, sondern eher von Vorfällen, von stinknormalen Begebenheiten eben - der Weg zu psychischer Gesundheit wäre weniger steinig …
In diesem Sinne …
Wenn du diesen Beitrag hier so richtig scheiße findest, dann darfst du das ruhig ausdrücken. Und trotzdem bleibt es nicht mehr und nicht weniger als ein Beitrag von (wie ich hoffe) noch jeder Menge mehr und da kann ja auch mal ein guter dabei sein. - Und so ist es mit allem. ;)
Alles Liebe,
Beccs
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