Auf taz.de ist seit gestern ein Artikel zu lesen, der überschrieben ist mit Demokratie erleben, Nase gebrochen. In dem Artikel geht es um eine Familie A., ein Diplom-Ingenieur, eine Ärztin und ein 14-jähriger Neffe, die am 14. Januar nach Lützerath gekommen waren, weil der Jugendliche "Demokratie live erleben" solle.

Nun, der Titel des Artikels verrät bereits, wie der Tag sich entwickelt, anfangs war die Atmosphäre "locker", am Ende, nachdem die Familie "noch spontan auf einen letzten Demonstrationszug aufgesprungen" war, wurde Herr A. von mehreren Faustschläge eines Polizisten getroffen, Ergebnis: gebrochene Nase, Hämatome im Gesicht, Platzwunde unter dem linken Auge. "Ein Anwalt rät der Familie, gründlich darüber nachzudenken, ob sich eine Anzeige gegen den Polizisten, der A. die Nase gebrochen hat, lohnt.", denn „Solche Anzeigen führen meistens ins Leere“. Vermutlich ist das der Grund, warum, wie es in dem Artikel heißt, die Familie große Zweifel hegt, "nicht nur an der Klimapolitik, sondern auch an dieser Demokratie". Und ich schreibe diesen Artikel, weil ich zumindest dem zweiten Teil dieser Aussage schlicht nicht folgen kann.

Ich kann nachvollziehen, dass die Familie empört ist, dass es womöglich nicht gerechtfertigt gewesen ist, dass A. geschlagen wurde. Aber natürlich steht es A. frei, eine Anzeige zu stellen gegen den Polizisten, und ob diese keine Aussicht auf Erfolg hat, wie "ein Anwalt" behauptet, müssen am Ende die Gerichte klären. Aber so drastisch eine gebrochene Nase und eine Platzwunde unter dem Auge sein mögen, nichts an den beschriebenen Vorfällen bringt mich zu dem Urteil, dass man Zweifel hegen könnte an der praktizierten Demokratie in unserem Land. Im Gegenteil. Die Polizisten waren in Lützerath und haben dort nichts anderes getan, als unsere Demokratie zu verteidigen.

Und das hat nichts zu tun mit der Frage, wie man zum Klimawandel steht oder ob man das Wegbaggern Lützeraths für falsch hält oder nicht. Selbst wenn die Kohle unter Lützerath dafür verantwortlich sein sollte, dass Deutschland das 1,5°-Ziel verfehlt und damit bestehende Verträge bricht, wäre dies kein Ausverkauf der Demokratie. Fakt ist, dass unabhängige Gerichte geurteilt haben, dass die Kohle unter Lützerath abgebaggert werden darf, und die Polizisten vor Ort haben letztlich nichts anderes getan, als die Entscheidung eben dieser Gerichte durchzusetzen. Was sonst sollte in einem Rechtsstaat geschehen?

Wir sollten als Gesellschaft achtgeben, welchem Ideal wir folgen. So sehr es - zumindest aus Sicht der Klima-Aktivisten - geboten scheint, alles zu versuchen, um den CO2-Ausstoß zu verringern, dürfen wir es nicht zulassen, dass dafür demokratische Prozesse geopfert werden. So anachronistisch und schwerfällig diese auch sein mögen. Ob es dabei um Maskenpflicht, das Festkleben auf Straßen oder Demonstrationen wie diese jetzt in Lützerath geht- wenn wir als Gesellschaft zulassen, dass einzelne Interessengruppen für sich in Anspruch nehmen zu wissen, was legitim zu sein hat, dann zerstören wir letztlich das, auf dem eine intakte, demokratisch legitimierte Gemeinschaft fußt: ein unabhängiges und für jeden gleichermaßen gültiges Rechtssystem.

Die Alternative heißt Willkür. Und in Konsequenz wohl irgendeine Form der Diktatur. Will man in einem Land mit einer Verfassung wie der hier Deutschland etwas verändern, so bleibt einem nichts anderes als der Gang durch die Institutionen. Durch den Rechtsweg natürlich in Form von Klagen gegen Windräder oder für ein allgemeines Tempolimit. Durch die Gründung einer Partei. Durch das Erringen von Mehrheiten. Letztlich wieder nur durch (allgemein gültige) Gesetze und Verordnungen. Und so beschwerlich und langwierig dieser Weg auch scheint, es ist der einzige Weg.

Man kann daran viel kritisieren. Etwa, dass immer weniger Wahlberechtigte zur Wahl gehen und die Ergebnisse gar kein echtes Mehrheitsvotum mehr abbilden. Dass in einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik zu wenig direkte Einflussnahme möglich ist, dass gemauschelt wird, Lobby-Gruppen einen zu starken Einfluss ausüben, die Regierung sich anmaßt, in das Leben der Bürger hineinzuregieren, zu viel tut, zu wenig tut und das auch noch für die Falschen. Und überhaupt. Und dass eine Klage gegen einen Polizisten, der sich womöglich der Körperverletzung schuldig gemacht hat, am Ende vom zuständigen Gericht abgewiesen wird oder mit einem Freispruch endet. All das mag falsch sein, ungenügend, ärgerlich, ungerecht womöglich, je nachdem, wen man fragt. Doch es fußt auf allgemeinen und grundsätzlich durchgesetzten demokratischen Prinzipien. Die nichts, aber absolut nicht vergleichbar sind mit Zuständen in Ländern Belarus, Iran oder Afghanistan. Von der "Demokratischen Republik Kongo" und der "Demokratischen Volksrepublik Nordkorea" gar nicht erst zu sprechen.

Ich finde es problematisch, wenn dieses grundlegende und grundsätzlich ziemlich simple Demokratieverständnis in Teilen der Bevölkerung nicht länger akzeptiert wird, wie es den Anschein hat. Und das liegt nicht nur an denjenigen, die sich im Rahmen der Covid-19-Pandemie plötzlich in einer Diktatur wähnten.  Sondern auch durch das Handeln der Regierenden. Wenn - um vielleicht das fragwürdigste Beispiel zu nennen - die ehemalige Bundeskanzlerin nach einer legitimen Wahl sagt, dass eben diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse, so ist dies nichts anderes als Willkür. Da mag man zur vom Verfassungsschutz als verfassungsfeindlicher Verdachtsfall eingestuften AfD stehen, wie man will. Eine solche Forderung, noch dazu von der amtierenden Regierungschefin, ist schlicht verfassungswidrig. Und eben dies wurde Frau Dr. Merkel vom Bundesverfassungsgericht auch bescheinigt. Wie es sich in einer Demokratie gehört.


Nachtrag: eben gelesen, dass RWE nun die Aktivisten, die in Lützerath demonstrierten und teilweise wohl auch randalierten auf Schadenersatz verklagen will. Und auch wenn RWE letztlich das Recht dazu hat, stellt sich für mich die Frage, ob ein solches Recht vollumfänglich in Anspruch genommen werden muss und sollte. Oder ob man nicht die letztlich guten Absichten der Klima-Aktivisten anerkennt und es nicht damit einfach gut sein lässt. Im Großen und Ganzen. Das hätte ich mir auch von den Klima-Aktivisten gewünscht, die den letzten Angriff, den "letzten Demonstrationszug", wie es im Artikel auf taz.de heißt, nicht hätten führen müssen. Da absehbar war, dass die Polizei nicht nachgeben würde, nicht nachgeben konnte und Lützerath zweifellos geräumt werden würde. Ebenso wie Herr Kemmerich die Wahl in Thüringen 2020 schlicht nicht hätte annehmen müssen. Dann wäre einiger Schaden von vornherein vermieden worden.

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