Raupenzeit - Übers Heranwachsen und Überleben im Kokon der Depression

„Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, was Ihnen Ihre gegenwärtige Situation erleichtern würde – was wäre das?“

Sofort schlug ich die Augen nieder und versuchte, möglichst leise zu denken. Diese Ärztin war eine von den Guten. Sie schien ernsthaft um mich bemüht, nahm sich viel zu viel Zeit und so langsam aber sicher hatte ich das befremdliche Gefühl, ich könnte ihr vertrauen.

Diese Erkenntnis verwirrte mich sehr, hatte ich bei meinem letzten, zugegeben, eher kläglichen Versuch,  mein Seelenheil in fachkundige Hände zu überantworten, doch erfahren dürfen, dass man sich mit mir nicht intensiver befassen müsse, solange meine psychische Gesundheit es mir nicht einmal wert sei, auf die probatorischen Sitzungen zu verzichten und stattdessen ein läppisches Dutzend selbst zu finanzierender Hypnose-Sessions zu ordern. Und das, wo dies doch zweifelsohne der Weg zu meiner Spontanheilung gewesen wäre! Fachkundiges Fazit: Ich hatte offensichtlich gar kein Interesse daran, gesund zu werden, da meine Krankheit mir  anscheinend mehr Vorteile brachte, sonst würde ich ja nicht so verzweifelt daran festhalten.
Aha. Nu denn. Alles klar. Du mich auch, du Arsch. Und tschüss.

Die Ärztin, der ich gerade gegenübersaß, hatte nichts dergleichen erwähnt. Nur zugehört und ab und an mal kurz etwas nachgefragt, ansonsten hämmerte sie ununterbrochen und auffallend zügig in die Tasten. Noch während ich erzählte, wurde mir klar, dass ich dem Inbegriff von Multitasking gegenübersaß. Sie fragte, hörte zu, verarbeitete und tippte den kurzen Abriss meines verkorksten Lebens, der in wirren Sätzen auf ihren Schreibtisch rieselte, in Windseile in ihre leise klackernde Tastatur. Das war echt beeindruckend. Nicht minder die Tatsache, dass sie mir in keiner Sekunde das Gefühl vermittelte, ich müsse mich für irgendetwas schämen. Und jetzt wollte sie auch noch wissen, was ich mir wünsche.

Ich wollte sie auf gar keinen Fall enttäuschen. So jemand musste schließlich gefördert werden, gar keine Frage. Irgendeine Belohnung bekommen. Etwas Motivierendes. Irgendwas, woraus sie würde schließen können, dass sie einen echt guten Job machte und ich froh war, ausgerechnet bei ihr gelandet zu sein. Das wäre den Umständen durchaus angemessen, fand ich.

„Sterben. Das würde es mir erheblich erleichtern. Einfach sterben. Aber ich glaube, das ist nicht ganz die Antwort, die Sie hören wollten?“ Huch. Jetzt hatte ich`s doch gesagt. Mein Leben lang hatte ich meist den Mund gehalten, wenn ich ihn mal besser hätte aufmachen sollen und ausgerechnet jetzt versagte dieser Mechanismus. Schöne Scheiße.

Vor meinem inneren Auge wand sich die Ärztin wie ein glitschiger Aal aus meinen Händen, plumpste zurück in ihren trüben Tümpel und ward fortan nie wieder gesehen.
Doch sie hielt still. Ich auch.
Und dann fluteten meine Augen den Tümpel mit klarem Wasser.

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