Patricia ist 26 Jahre alt, verlobt und steht ganz kurz vor dem 2. Juristischen Staatsexamen. Sie geht gerne wandern, übt ein Ehrenamt aus und hat MS. Multiple Sklerose. Die Diagnose bekam sie als Schülerin – da war sie gerade 18 Jahre alt. Ihre Hand kribbelte damals ohne ersichtlichen Grund, wie Ameisen unter der Haut. Am Anfang ignorierte sie es. Der Hausarzt konnte nichts entdecken. Schließlich tauchten helle Flecken in einem MRT-Bild auf.
Die Erkrankung war von Anfang an ein Thema in der Beziehung
Ihren Verlobten Sebastian, auch 26 Jahre alt, hat Patricia im Studentenwohnheim kennengelernt. Schon zu Beginn des Studiums. "Na klar, die Erkrankung war von Anfang an ein Thema", erinnert sich Sebastian. Die beiden sitzen nebeneinander auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. "Natürlich habe ich als Partner Angst. Am Anfang der Beziehung habe ich mich schon gefragt, will ich das, bin ich bereit das zu tragen, traue ich mir das zu? Ich habe diese Fragen für mich selber immer bejaht. Ja, ich will mit Patricia zusammen sein." Die beiden wohnen direkt am Seepark, ihre Wohnung ist von Licht durchflutet, auf dem Balkon wachsen Salat, Tomaten und Erdbeeren. Sogar ein kleiner Apfelbaum steht dort draußen. Die Blütezeit ist gerade vorbei und die Früchte beginnen sich zu bilden.
Patricia erinnert sich gerne an die Anfangszeit ihrer Beziehung.
"Mir wurde schnell klar, das mit Sebastian ist was Ernstes. Wir haben damals stundenlang im Studentenwohnheim zusammengesessen. Wir haben viel gelacht. Und dabei auch ernste Gespräche geführt. Ich habe ihm dann Schritt für Schritt alles erklärt, was er über meine Erkrankung wissen muss. Gerade wenn man sich etwas Ernstes vorstellen kann, berührt die Erkrankung das Leben des Partners zu sehr, als dass man nicht darüber spricht." Sie blickt zu Sebastian. Er lächelt, fast ein wenig verlegen. Auch Sebastian steht kurz vor dem Abschluss seines Studiums. Geschichte. Im Anschluss geht es für die beiden erstmal in den Urlaub nach Dänemark. Nächstes Jahr wird geheiratet.
Multiple Sklerose als "Krankheit mit tausend Gesichtern"
Die Multiple Sklerose ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark umfasst und meist im frühen Erwachsenenalter beginnt. Multiple Sklerose ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung. Auch sind häufig verbreitete Vorurteile, etwa dass MS in jedem Fall zu einem Leben im Rollstuhl führt, so nicht richtig. Die Krankheit lässt noch viele Fragen unbeantwortet und ist in Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg von Patient zu Patient so unterschiedlich, dass sich allgemeingültige Aussagen nur bedingt machen lassen. Aus diesem Grund ist die MS auch als Krankheit mit den tausend Gesichtern bekannt.
Die Krankheit kommt in Schüben
Patricia möchte beschreiben, wie sie die Erkrankung erlebt. "Meine größten Probleme sind die Schwäche und das Kribbeln in der rechten Hand, zeitweise Gleichgewichtsprobleme, sowie das Sehen. Die Erkrankung kommt in Schüben. Es gibt auch lange Phasen, wo ich nichts oder wenig davon merke. Bei einem dieser Schübe entzündete sich ein Sehnerv, seitdem sehe ich auf dem linken Auge bisweilen schlecht. Außerdem ist ein Nerv im Unterschenkel beeinträchtigt, weshalb sich die Ferse nicht ausreichend hebt. Das stört mich nicht sehr, ich merke es aber beim Laufen."
Sebastian weiß die Zeit an Patricias Seite zu schätzen. Er habe in den Jahren viel dazu gelernt. "Durch die Erkrankung von Patricia ist es schon so, dass ich einen anderen Blick auf das Leben bekommen habe. Es tut mir gut, die Welt durch Patricias Augen zu sehen. Als Angehöriger lernt man ein gesundes Maß an Demut, man lernt das Leben und die kleinen Dinge wertzuschätzen. Es inspiriert mich, wie mutig Patricia ist. Ich finde es bewundernswert, wie sie für andere Betroffene da ist."
Die AMSEL ist eine Selbsthilfegruppe für Betroffene
Patricia ist ehrenamtliche Sprecherin der jungen AMSEL, eine Kontaktgruppe für junge MS-Betroffene zwischen 18 und 40 Jahren. "Die Gruppe ist dazu da, um dir die Möglichkeit zu geben dich mit anderen Betroffenen auszutauschen. In geschützter Atmosphäre, wo man nicht alles erst noch erklären muss. In der Gruppe erhältst du Lösungen für Probleme, die andere schon gefunden haben. Du musst nicht alles alleine machen, wir sind für dich da. Wir helfen dir", erklärt Patricia. Ihre Worte richtet sie direkt an jede und an jeden Betroffenen. "Wenn du gerade die Diagnose erhalten hast, dann steck nicht den Kopf in den Sand. Du wirst weiterhin alles machen können. Alles geht, es geht nur anders."
Patricia ist gleich nach ihrer Diagnose auf die AMSEL gestoßen. Damals gab es nur eine Kontaktgruppe, in der alle Altersgruppen zusammengefasst waren. Gemeinsam mit einer anderen Betroffenen entschied sich Patricia dazu, eine Gruppe nur für junge Betroffene zu eröffnen.
"Wir hatten das Bedürfnis über die Themen junger Menschen zu sprechen. Themen wie Familie, Freundschaft und Beziehung. Aber vor allem berufliche Ängste. Das sind Themen, mit denen ältere Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung anders umgehen können. Die haben gewisse Ängste schon hinter sich gelassen.
Es gibt zwischen den Generationen ohnehin Unterschiede im Umgang mit der Erkrankung. Früher war MS eine Krankheit, die man über sich ergehen lassen musste. Heute gibt es wahnsinnig viele Möglichkeiten, selber aktiv zu werden, es gibt vielfältige Therapieansätze und die medizinische Forschung macht ständig Fortschritte."
Austausch über Ängste, Zweifel und Alltagsprobleme
In der jungen AMSEL treffen sich in regelmäßigen Abständen etwa acht bis zehn Betroffene aus Freiburg und Umgebung. Meist finden die Treffen in entspannten Cafés statt, oder in ruhigen Parks. Die Atmosphäre ist gelöst, man ist unter sich und darf auch mal Schwäche zeigen. Es gibt eine WhatsApp-Gruppe, in der täglich kommuniziert, geplaudert und diskutiert wird. Man erhält immer wieder Termine zu Fachvorträgen und Beratungsangeboten. Aufgrund ihrer Rolle als Sprecherin der jungen AMSEL kennt Patricia die Ängste, Zweifel und alltäglichen Probleme einer Vielzahl von Betroffenen.
"Es tut mir als Betroffene sehr gut, mal mit Leuten zu reden, die ganz ähnliche Erfahrungen machen müssen wie ich", sagt Patricia. "Die meisten Betroffenen, die ich kenne, haben Angst vor beruflichen Einschränkungen. Das sind Existenzängste. In den Köpfen der meisten Arbeitgeber stecken immer noch diese alten Vorurteile, da hat jemand MS, die oder der landet irgendwann im Rollstuhl, die oder der wird später keine Familie haben, da lass ich als Arbeitgeber lieber die Finger davon. Manche Betroffene sprechen aber selbst im engeren Freundes- und Bekanntenkreis nicht so gerne über die Erkrankung. Sie wollen keinen Stempel aufgedrückt bekommen. Das Schlimmste sind so Floskeln wie, uh, das tut mir aber leid, das hätte ich gar nicht gedacht, dass ausgerechnet du davon betroffen bist. Wenn man einer oder einem Betroffenen nahesteht, sollte man in der Lage sein auch mal zu schweigen und zuzuhören".
Trotz der Krankheit ist ein glückliches Leben möglich
Patricia möchte mit ihren Ratschlägen vor allem Bekannte, Freunde und KollegInnen von Betroffenen erreichen. All jene die mit dem Thema konfrontiert werden, ohne selber unter den Auswirkungen zu leiden.
"Im besten Fall bietet man einfach mal Hilfe an, fragt, wobei kann ich dich konkret unterstützen. Ein ganz wichtiger Aspekt im gesellschaftlichen Umgang mit Betroffenen ist auch die Einsicht, dass es Menschen gibt, denen es trotz ihrer Erkrankung gelingt ziemlich glücklich zu sein oder die es zumindest versuchen. Und letztlich müssen nahe Angehörige akzeptieren, dass es auch Krankheitsverläufe gibt, gegen die man nichts unternehmen kann, die nicht heilbar sind. Es ist aber wirklich nicht leicht, da immer den goldenen Mittelweg zu finden. Einerseits Hilfe anzubieten, auf die Erkrankung Rücksicht zu nehmen, und andererseits die Erkrankung nicht ständig in den Vordergrund zu stellen. Es ist schließlich auch für Betroffene das schönste, mal ganz unbeschwert man selber sein zu dürfen."
Mehr Bewusstsein für das Leben
Auf die Frage, ob die Erkrankung irgendetwas Gutes mit sich bringe, weiß Patricia nicht sofort eine Antwort. Sie setzt einige Male zu reden an, dann hält sie wieder inne. Ihr Blick wandert zum Balkon, dann sieht sie Sebastian an.
"Ich sag mal so, man entwickelt schon gewisse Stärken. Ich bin dazu gezwungen mir zu überlegen, was für mich selber gut ist. Welchen Menschen gebe ich mein Vertrauen? Welche Menschen machen mich stark?", antwortet sie mit fester Stimme. Ihre Hand sucht Sebastians. "Ich denke, dass man durch solch eine Erfahrung, wie es meine Erkrankung ist, viel über das Leben lernt. Man lebt jeden Tag seines Lebens ganz bewusst. Man schließt besonders tiefe und loyale Freundschaften. Durch meine Erkrankung weiß ich, auf wen ich mich verlassen kann. Und ich denke, das ist etwas wert, darauf kann ich stolz sein und dafür kann ich dankbar sein."
Ihre Augen lächeln.