Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Flitterwochen mit den Rechtsextremen

In Frankreich bildet sich eine ungewöhnliche Allianz im Europaparlament gegen Viktor Orbán und die Wirtschaftspolitik seiner Regierung, die langjährige EU-Unternehmen aus strategischen Branchen verdrängen soll, was als Verstoß gegen Kernprinzipien des EU-Binnenmarktes gilt. Zu dieser Gruppe gehört der rechtsextreme Jordan Bardella, der in den Umfragen führt und durch seine Präsenz in sozialen Medien, insbesondere bei jungen Wählern, an Popularität gewinnt. Die Unterstützung für Bardella wird teilweise durch die Unzufriedenheit mit Präsident Macron befeuert, dessen Politik, die als bevorzugend für Besserverdienende wahrgenommen wird und seine als autoritär empfundene Reaktion auf Jugendunruhen, dazu führen, dass sich einstige Wählergruppen von ihm abwenden. Diese politische Stimmung in Frankreich führt dazu, dass die rechtsextremen Parteien eine Plattform erhalten, die sie zuvor nicht hatten. Trotz kontroverser Positionen und wiederholter Verbreitung von Unwahrheiten durch Bardella, wie die Falschdarstellung sozialer Leistungen für Ausländer, normalisiert sich der Umgang mit seiner Partei, dem Rassemblement National. Französische Medien und Wirtschaft, die einst Jean-Marie Le Pen mieden, umarmen nun Bardella. Diese Verschiebung zeigt eine beunruhigende Akzeptanz rechtsextremer Ansichten in der französischen politischen Kultur, begünstigt durch die verbreitete Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung Macrons. (Annika Joeres, ZEIT)

Ob Frankreich, Deutschland oder die USA, die Rechtsextremen profitieren immer davon, wenn sie normalisiert werden. Das hier ist einfach nur Beleg 2357235 dafür. Ich finde aber den Teil der Reportage von Joeres, die auf die Politik Macrons eingeht, relevanter, weil dieser Aspekt gerne unterdiskutiert wird. Das Gefühl, von der Politik im Stich gelassen zu werden, ist ja real. Wir diskutieren das hauptsächlich im Kontext der Geflüchteten und der Migration - zurecht, denn das treibt ja massiv -, aber es ist eben nicht alles davon. Debatten um Rentenkürzungen oder Erhöhungen des Eintrittsalters, die extrem schlechte Kommunikation aller Seiten bei der Klimakrise und vieles mehr spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, an die die Populisten aller Couleur andocken können, weil sie weder inhaltliche Kohärenz noch Realitätsgehalt bedenken müssen.

2) How high is support for the AfD 1 month before the EP elections?

Die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) erlebte in den letzten Monaten eine Achterbahnfahrt in den Umfragen. Nachdem sie im letzten Winter regelmäßig über der symbolträchtigen 20%-Marke lag und eine breite öffentliche Besorgnis auslöste, begann ihre Unterstützung zu bröckeln. Mehrere Skandale, darunter Enthüllungen über Verbindungen zur Identitären Bewegung und Pläne für Massenabschiebungen, sowie die Gründung einer neuen Partei durch Sahra Wagenknecht, die teilweise AfD-Wähler anspricht, trugen dazu bei. Obwohl die AfD anfangs von der COVID-19-Pandemie nicht profitieren konnte und in den Umfragen sank, erlebte sie mit dem Aufkommen der Energiekrise und der Unterstützung Deutschlands für die Ukraine wieder einen Anstieg. Ihre offene Opposition gegen Dekarbonisierung und ihre skeptische Haltung gegenüber der Ukraine-Hilfe resonierten bei einem Teil der Bevölkerung. Die Situation änderte sich erneut, als die Ukraine-Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die neue demografische Gruppe führte nicht zu den hohen Spannungen wie die Flüchtlingskrise 2015/16, doch Konflikte über die Kostenverteilung für die Unterstützung der Flüchtlinge zwischen Kommunen und der Bundesregierung erzeugten mediale Aufmerksamkeit. Zudem nutzten die Christdemokraten und die Freien Demokraten, in Anlehnung an die Rhetorik der AfD, das Thema Immigration, um die Wähler zu mobilisieren. Trotz eines Rückgangs der Umfragewerte Anfang 2024 aufgrund von Skandalen und Enthüllungen über extremistische Tendenzen innerhalb der Partei und ihre Verbindungen zu ausländischen Akteuren, bleibt die AfD mit etwa 17% der Stimmen weit über ihrem Ergebnis der letzten Bundestagswahl. Dies könnte ihnen im Europäischen Parlament eine erhebliche Anzahl von Sitzen sichern, was Fragen zur Resilienz rechtsextremer Parteien in der deutschen Politik aufwirft. (Kai Arzheimer)

In meinen Augen sieht man hier die Früchte der langfristigen AfD-Strategie. Die sind den demokratischen Parteien, was strategische Kohärenz und Langfristigkeit angeht, deutlich über. Die konzentrierten Bestrebungen der letzten Jahre, ein eigenes Medienökosystem aufzubauen, das unabhängig von den Leitmedien funktioniert, immunisieren die eigene Anhänger*innenschaft vor Skandalen und Kritik. Da erweisen sich wieder einmal die Bürgerlichen als Wasserträger, denn nichts hilft dieser Strategie so sehr wie die Delegitimierung des ÖRR, die Hetzportale wie NIUS überhaupt erst so wirkmächtig macht. Die Resilienz scheint mir zu einem guten Teil schon auch daher zu kommen: die Versuche der Bürgerlichen, den Rechtsradikalen den Diskursraum streitig zu machen, kommen bei einem guten Teil deren potenzieller Anhänger*innenschaft überhaupt nicht an. Den Endpunkt dieser Bemühungen kann man - siehe Fundstück 1 - in den USA bewundern.

3) Die zwei Probleme mit dem Urteil gegen Höcke

Das Landgericht Halle hat den AfD-Politiker Björn Höcke wegen der Verwendung einer SA-Parole zu einer Geldstrafe von 13.000 Euro verurteilt. Obwohl das Urteil rechtlich fundiert ist, hinterlässt es einen zwiespältigen Eindruck. Kritiker sehen darin eine Bagatelle im Vergleich zu Höckes zahlreichen nationalistischen und volksverhetzenden Aussagen. Das Urteil könnte die AfD-Anhänger weiter mobilisieren, da sie Höcke als unschuldiges Opfer einer Verleumdungskampagne betrachten. Der CDU-Politiker Marco Wanderwitz fordert ein Verbotsverfahren gegen die AfD, weil er glaubt, die Partei politisch nicht mehr bekämpfen zu können. Dies wird jedoch als politische Bankrotterklärung und Wahlhilfe für die AfD kritisiert. Die Diskussion um ein Verbot sollte sich sachlich an der Frage orientieren, ob die AfD mit dem Grundgesetz vereinbar ist, das die Menschenrechte über alles stellt. Ein Verbotsverfahren wäre nur gerechtfertigt, wenn die Verfassungswidrigkeit der AfD nachweisbar wäre, unabhängig von den Reaktionen der Anhänger. (Thomas Schmid, Welt)

Die Meinungen zu dem Prozess gegen Höcke gehen stark auseinander. Ich finde Zustimmung zu dem Prozess und dem Urteil aus Ecken, aus denen ich sie ehrlich gesagt nicht erwartet hätte (die Welt hat einfach eine wirklich gute, plurale Meinungssektion), genauso wie Kritik aus Bereichen, aus denen man spontan eher Begeisterung erwartet hätte. Der Prozess offenbart für mich die ganzen Fallstricke des politischen Strafrechts. Denn natürlich hat Anna Schneider Recht, wenn sie sagt, dass Normalsterbliche weder um den Hintergrund der NS-Parole wissen können noch das Urteil werden gut nachvollziehen können. Nur hat auch Frederik Schindler Recht, wenn er ihr entgegenhält, dass Nachvollziehbarkeit und öffentliche Meinung für den Rechtsstaat irrelevant sind, was gerade eine selbsterklärte Freiheitskämpferin wie Schneider eigentlich wissen sollte.

Und das ist die Crux an der Geschichte: der Rechtsstaat kommt ständig zu Urteilen, die die Durchschnittsbevölkerung nicht nachvollziehen kann, besonders, wenn der Rachedurst ungestillt bleibt oder etwas verurteilt wird, das scheinbar harmlos oder irrelevant ist. Aber so funktioniert Rechtsstaat eben. Ich sitze hier schwer zwischen den Stühlen, denn ich bin studierter Historiker, Geschichtslehrer und beschäftige mich, anders als Höcke das von sich behauptet, durchaus intensiv mit der NS-Zeit. Dass "Alles für Deutschland" eine SA-Parole ist, hätte ich auch nicht gewusst. Daher finde ich diese Aussage als Exempel nicht unproblematisch. Gleichzeitig ist es natürlich zu begrüßen, dass hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird, nur weil es um die politische Sphäre geht. Ihr seht schon, ich oszilliere herum, ohne eine klare Position zu finden; es erinnert mich an die Frage des Parteiverbots, die ich mit Horst Meier diskutiert habe.

Noch als Hinweis am Rande: das Urteil hat auch beamtenrechtliche Folgen für Höcke. Nicht, dass der Mann je wieder in den Schuldienst zurückgekehrt wäre, aber es ist beruhigend zu wissen, dass er es nun nie wieder tun wird.

4) China Has Gotten the Trade War It Deserves

Ein globaler Handelskrieg zeichnet sich ab, mit China im Zentrum. Chinas Wirtschaftsmodell, das auf die Förderung der heimischen Industrie auf Kosten anderer Länder abzielt, stößt auf wachsenden Widerstand. Dies führt zu einer Welle von Protektionismus, was sowohl für China als auch für die Weltwirtschaft schwerwiegende Folgen haben könnte. US-Präsident Joe Biden hat angekündigt, die bestehenden Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge auf 100 Prozent zu vervierfachen und Zölle auf Stahl, Aluminium und andere Produkte zu erhöhen. China protestierte sofort und drohte mit Gegenmaßnahmen. Die chinesische Regierung sei selbst schuld, da sie das globale Handelssystem ausgenutzt habe. Bidens Zölle seien eine natürliche Reaktion, obwohl Protektionismus die Kosten erhöht und den Wettbewerb mindert. Xi Jinpings Versäumnis, Chinas Wirtschaft zu reformieren, habe den Handelskrieg unvermeidlich gemacht. Chinas Überkapazitäten im Automobilsektor und die staatliche Unterstützung für die Elektrofahrzeugindustrie gefährden ausländische Märkte. Länder wie die USA und die EU erwägen, eigene Zölle zu erheben, um ihre Industrien zu schützen. Chinas wirtschaftliches Modell, das Produzenten über Konsumenten stellt, zwingt chinesische Unternehmen, ihren Überschuss ins Ausland zu exportieren. Xi Jinpings Politik der „Selbstversorgung“ verschärft die Handelskonflikte und untergräbt die globale Stabilität und Prosperität. (Michel Schuman, The Atlantic)

Ich teile die Ansicht Schumans, dass dieser Handelskrieg eine gewisse Unausweichlichkeit in sich birgt. Das Freihandelsregime bricht um uns herum zusammen, und ich befürchte, dass das erst der Anfang ist. Meine etwas düstere Prognose ist, dass die liberalen Ökonom*innen belegt werden werden, die in den 1990er und 2000er Jahren erklärt haben, wie sehr Freihandel im Aggregat unseren Wohlstand steigert (unbesehen dessen, dass ihre linken Kritiker*innen durchaus Recht damit hatten, dass er auch viele Verlierer*innen produziert hat). Die Preise einiger Güter dürften dadurch noch ziemlich in Unordnung geraten und den einen oder anderen Inflationssprung à la 2022/23 auslösen. Wir werden deswegen auch nicht umhin kommen, die Lieferketten zu diversifizieren (egal, ob man das Derisking oder Decoupling nennt), auch wenn das wirtschaftliche Effizienzverluste mit sich bringt.

5) Rettet den Green Deal!

Ursula von der Leyen verfolgt mit ihrem Green Deal die Strategie, durch grüne Gesetze wirtschaftliches Wachstum zu fördern. Dennoch ist der Green Deal zunehmend umstritten. In Berlin und Brüssel distanzieren sich Politiker von den umstrittenen Themen wie der Agrar- und Wärmewende. Auch das geplante Verbot von Verbrennungsmotoren wird kritisiert, da es die Abhängigkeit von China verstärke und die heimische Wirtschaft belaste. Trotzdem ist es wichtig, an den Zielen des Green Deals festzuhalten, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sichern. China und die USA investieren massiv in erneuerbare Energien und grüne Technologien, was den globalen Trend zur Dekarbonisierung bestätigt. Europa sollte seine Energiewende beschleunigen und auf erneuerbare Energien setzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die europäische Autoindustrie muss sich ebenfalls anpassen, da China bereits führend im Bereich Elektrofahrzeuge ist. Anstatt auf fossile Technologien zu setzen, sollte die EU den Ausbau von Ladeinfrastrukturen und die Förderung von Elektrofahrzeugen vorantreiben. Ein Handelskrieg mit China könnte die Situation verschärfen. Die nächste EU-Kommission sollte den Green Deal von unnötiger Bürokratie befreien und gleichzeitig den grünen Umbau der Industrie fördern. Europa muss zeigen, dass Modernisierung und Dekarbonisierung zusammen möglich sind. (Michael Sauga, Spiegel)

Schaut man sich die Forderungen Saugas an, erkennt man einen Mix aus typisch grünen Ideen (staatliche Investitionen in Energiewende), sozialdemokratische Ideen (staatliche Investitionen, Industrieförderung) und liberale Ideen (Deregulierung, Schaffung guten Investitionsumfelds). Für mich ist das wieder so ein Beispiel dafür, wo die selbsterklärte "Fortschrittskoalition" durchaus Raum für Gemeinsamkeiten hätte, wenn sie sich denn darauf besinnen würde und jeweils bereit wäre, der anderen Seite entgegenzukommen und ijre jeweilige Schokoladenseite zu präsentieren. Ein "was wäre wenn", das wir wohl leider nicht sehen werden. Ansonsten weise ich noch auf die Befürchtungen Saugas bezüglich der Abhängigkeit von China hin, die zu Fundstück 4 passen.

Resterampe

a) China hat gerade das erste voll elektrische Containerschiff in Dienst gestellt.

b) Nette Kolumne.

c) Das Kalifat zu fordern, ist nicht strafbar – und das ist auch gut so. Immerhin mal ein konsequenter Bürgerlicher. Alan Posener natürlich. Ich halte allerdings weiterhin nicht viel davon, unendlich Toleranz gegenüber Gegner*innen der Demokratie und des Pluralismus aufzubringen, egal ob rechts, links oder islamistisch.

d) Verträumt, verhüllt, verfügbar – Darstellungen von Mutterschaft und der Irrtum absoluter Erfüllung.

e) "Der nächste Redner ist eine Frau" - toller Artikel über die ersten Parlamentarierinnen der Bundesrepublik.

f) Ich sag es immer wieder, der Doppelstandard ist absurd.

g) Spannend.

h) Energiewende: Kretschmann und Kretschmer plädieren für oberirdische Stromtrassen. Sehr vernünftig.

i) Woanders ist das Gras auch nicht grüner.

j) lol

k) Die wöchentliche „Verfassungs-Viertelstunde“ ist ein (schlechter) Witz.

l) 87% of Biden’s new judges haven’t been white men.

m) Auch unsere Demokratie kann kollabieren. Klar, wer bezweifelt das auch?

n) FDP will Achtstundentag abschaffen. Mir ist manchmal echt unklar, wie die sich erhoffen, die 5%-Hürde zu schaffen.

o) The makers of Shogun, Wheel of Time, BSG, and more sound off on Game of Thrones’ true legacy. Für Interessierte. Der Backlash gegen GOT hat eh absurde Ausmaße.

p) Haushalt: Christian Lindner fordert systematische Erfolgskontrolle der Bundesministerien. Die Idee klingt immer gut - bis man feststellt, dass "Erfolg" eine inhärent politische Kategorie ist. Die Katze beißt sich noch jedes Mal selbst in den Schwanz.

q) Yes, of course Biden’s claim of executive privilege is bogus.


Fertiggestellt am 22.05.2024

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