Ukrainekrieg: Warum die westliche Strategie im Ukrainekrieg verfehlt ist, und die Gefahr einer globalen Eskalation größer als viele annehmen.

Zahlreiche Kommentatoren weltweit haben das Jahr 2022, in dem der Ukrainekrieg begann, als historische Zäsur bezeichnet. Was sich bereits seit der Präsidentschaft Barak Obamas abgezeichnet hatte, nämlich dass der unipolare Moment der Geschichte, als die USA alleine der Hüter der Weltordnung waren, sich seinem Ende näherte, war mit diesem Ereignis endgültig zur Gewissheit geworden.

Zwar hatte es auch in den Jahren zuvor in vielen ex-sowjetischen Gebieten und im Nahen Osten immer wieder bewaffnete Konflikte gegeben, die von ähnlichen ethnischen, kulturellen oder interessegetriebenen Differenzen ausgelöst worden waren. Und in zahlreichen dieser Konflikte hatten auch die USA und Russland ihre Finger im Spiel. Was sich jedoch im Ukrainekrieg erstmals in aller Klarheit abzeichnete, ist jenes hegemoniale Kräfteringen zwischen den USA und China, die sich hinter ihren Stellvertretern Ukraine und Russland formierten.

Damit war das Ende des unipolaren Moments zur Realität geworden. Auch die Konflikte in Israel und Taiwan, die ähnlich wie die Ukraine den Rand des Einflussbereichs der USA markieren, bilden in einem ähnlichen globalen Kontext die Demarkationslinien zu den antagonistischen Kräften China, Russland und Iran, die sich auch unter dem BRICS Bündnis organisieren.

Graham Allison, emeritierter Harvard Professor und Berater diverser US-Regierungen, hatte in seinem Buch “Destined For War: Can America and China Escape Thucydides's Trap?” bereits 2017 diesen großen hegemonialen Konflikt zwischen den USA und China proklamiert. Was er als „Thucydides-Falle“ bezeichnete, ist jene historische Dynamik einer „ruling power“, die auf eine „rising power“ trifft, was in drei Viertel der Fälle in der abendländischen Geschichte zu einem großen Krieg geführt hat.

Er ist auch einer der wenigen im US-Establishment, der gleich Kassandra vor weiteren Eskalationen warnt. Denn in der Tat war es, angefangen vom Athen des Thucydides bis hin zu Deutschland im ersten Weltkrieg, immer jene Gemengelage aus einer Gewissheit als stärkste Weltmacht alles unter Kontrolle zu haben und einer gleichzeitig wachsenden Furcht eben jene Kontrolle zu verlieren, was zu irrationalen Überreaktionen führte, die dann die Ursache für die Eskalation zu einem großen Krieg waren.

Es ist denn auch erschreckend, wie wenig in der deutschen Regierung und den deutschen Medien von diesen größeren Zusammenhängen und ihren Gefahren die Rede ist. Wir befinden uns historisch voll auf dem Kurs in den nächsten Weltkrieg. Doch statt alles zu tun, diese globale Katastrophe zu verhindern, schwelgt man in der illusionären Selbstgewissheit moralisch auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Dabei ist die brutale Lektion der Geschichte, dass man Kriege nicht mit Idealen sondern nur mit Macht gewinnt. Auch der berühmte Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz bemerkt in seinem Buch „Vom Kriege“: „in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten.“ Was im Folgenden daher versucht werden soll, ist, frei von allen moralischen und idealistischen Verklärungen, einen nüchternen und realistischen Blick auf die militärischen und strategischen Konstellationen dieses Konflikts zu werfen.

Militärische Kalkulationen

Die primäre Kategorie im Krieg sind die militärischen Machtmittel, die immer auch in einer, durchaus komplexen, Korrelation zur Wirtschaftsmacht des entsprechenden Landes stehen. Die USA sind nach wie vor mit großem Abstand die größte Militärmacht der Welt, gefolgt von China und Russland. Was jedoch oft nicht genügend berücksichtigt wird, ist, dass dabei auch die Zeitachse als historische Dynamik eine bedeutende Rolle spielt.

Denn militärische Macht zu kumulieren ist aufwändig und braucht nicht nur Geld sondern auch Zeit. Während Russland noch von der Stärke der sowjetischen Vergangenheit zehrt, aktuell jedoch nicht in der Lage wäre, auf absehbare Zeit wieder zu den USA aufzuschließen, wachsen die Militärmittel der Chinesen synchron zum Wirtschaftswachstum rasant und werden wohl in naher Zukunft mit den USA gleichziehen.

Deutschland wiederum ist gemessen an seiner Wirtschaftskraft militärisch schwach. Was nicht nur deutsches Versäumnis war, wie heute gerne suggeriert wird, sondern lange Zeit durchaus gewünscht. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts hatten nicht nur die europäischen Nachbarn berechtigte Ängste vor einem militärisch starken Deutschland. Auch für den Weltmacht-Anspruch der Amerikaner war es durchaus sinnvoll, den Abstand im militärischen Gleichgewicht und dadurch auch die damit verbundene Dependenz zu den alliierten Partnern groß zu halten, um die eigene Führungsrolle zu unterstreichen. Donald Trump kann sich immer noch als Bully der Nato gerieren, eben weil dieser Abstand noch besteht.

Gleichzeitig sind die europäischen Nato-Kräfte bei weitem nicht so schwach wie oft getan wird. Vor dem Ukraine Krieg war das jährliche Militärbudget der europäischen Nato Länder ca. 5 Mal so hoch wie das Russlands (inklusive der USA ist der Faktor ca. 15), selbst mit den oft kritisierten niedrigen Quoten der Militärausgaben, einfach weil diese Staaten in ihrer Gesamtheit wirtschaftlich sehr viel stärker als Russland sind. Da Russland zur Kriegswirtschaft übergegangen ist, hat sich dieses Verhältnis inzwischen etwas verschoben, doch ist das Übergewicht nach wie vor überwältigend. Die immer wieder geäußerten Suggestionen, Russland könne bald Nato-Territorien erobern, sind angesichts dessen nicht seriös. Zumal auch die europäischen Militärbudgets wieder wachsen, da man inzwischen verstanden hat, dass man sich allmählich aus der Abhängigkeit von den USA lösen muss.

Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis man sich den Standards der USA oder Chinas angenähert hat, wenn man überhaupt wirtschaftlich dazu in der Lage sein wird. Dabei ist auch der europäische Föderalismus ein ernsthaftes Problem. Denn die Reibungsverluste und Redundanzen der nationalen Verteidigungssysteme und Nato-Koordination sind ein schweres Handicap, das man sich eigentlich auf militärischem Gebiet im Ernstfall nicht leisten kann. Sinnvoll wäre eine zentralisierte Verteidigungspolitik mit umfassenden eigenen Kompetenzen.

Neue militärische Entwicklungen

Hinzu kommen neue Entwicklungen, die in den aktuellen Konflikten in der Ukraine und Israel zu Tage traten und durchaus besorgniserregend sind. Insbesondere die Nutzung billiger Drohnen könnte für zukünftige Kriege ein bedeutender Faktor werden. Hatte die westliche Militärtechnik der letzten Jahrzehnte vor allem auf technischen Fortschritt gesetzt, damit aber die Preise für einzelne Systeme in immer exorbitantere Höhen getrieben, könnte sich diese einseitige Strategie als fatal erweisen.

Denn wenn etwa die sehr teuren Abrams Panzer, die die USA in kleiner Stückzahl an die Ukraine geliefert hatte, kaum ein Vorteil brachten während man gleichzeitig mit der Artillerieproduktion Russlands nicht schritthalten kann, offenbart sich darin exemplarisch das Problem, dass teures Gerät in einem Abnutzungskrieg durchaus problematisch sein kann. Ebenso war der iranische Drohnen Angriff auf Israel ein Menetekel. Zwar gelang es Israel mit seinen Verbündeten diesen Angriff fast vollständig abzufangen, doch mit exorbitantem finanziellem Aufwand. Und es ist offensichtlich, dass man bei wiederholten Angriffen dabei irgendwann an Grenzen stoßen würde. Darauf muss sich die westliche Militärproduktion einstellen.

Wirtschaft und Bevölkerung

Ein anderer zentraler Aspekt, der noch nicht in das Bewusstsein vieler Menschen im Westen eingedrungen ist, ist die gewaltige Verschiebung der globalen ökonomischen Verhältnisse. Chinas Bruttosozialprodukt wird in wenigen Jahren das der USA übertreffen, und während die europäischen Wachstumsraten stagnieren, wachsen Länder wie Indien sowie einige Staaten Afrikas und Südamerikas rasant.

Zwar sind alle diese aufsteigenden Länder immer noch arm in Relation zum westlichen pro-Kopf-Einkommen. Doch bei der gewaltigen Größe dieser Bevölkerungen von mehreren Milliarden Menschen, ist es eine simple Kalkulation, dass diese Regionen selbst bei niedrigem pro-Kopf-Einkommen bald ein ökonomisches Übergewicht gegenüber dem Westen haben werden. Und wie immer in der Geschichte wird sich die ökonomische Verschiebung über kurz oder lang auch auf der militärischen Seite widerspiegeln.

Auch die Vorstellung, man könne China durch „decoupling“ oder „derisking“ wirtschaftlich noch irgendwie einhegen, ist unrealistisch. Gerade der aktuelle Streit um Zölle auf chinesische Autos illustriert das unmissverständlich. Dass gerade die Autoindustrie, die eigentlich vor diesen Importen geschützt werden soll, angesichts der eigenen Geschäftszahlen gegen diese Zölle ist, zeigt auf brutale Weise, dass die Chinesen ökonomisch bereits am längeren Hebel sitzen.

Der andere Faktor

Wenn nun aber das Nato Bündnis aktuell immer noch so mächtig ist, warum hat die Nato dann den Ukraine Konflikt nicht längst für sich entschieden?

Der Grund ist der, dass es in der Logik des Krieges neben der quantitativen noch eine zweite Komponente gibt, die von mindestens genauso großer Bedeutung ist. Nämlich, was die jeweiligen Kriegsparteien bereit sind, für einen Krieg zu opfern. Auch Clausewitz redet neben dem primären Faktor der Militärmittel von diesem zweiten Faktor der „Willenskraft“. Wobei gleichermaßen ideelle Komponenten wie Nationalität, Religion oder humanitäre Werte hereinspielen wie geostrategische und ökonomische Komponenten, sprich wie weit man ins Risiko gehen will, um aus einem Krieg eventuelle hegemoniale oder materielle Vorteile zu erzielen.

Denn Krieg ist ein extremes Risiko, kostet enorm viel, an Geld, Material, Zerstörung und Menschenleben sowie an politischer und sozialer Stabilität. Zudem haben Kriegskosten eine proportionale Komponente, denn je geringer die Machtasymmetrien sind desto exponentieller steigt der Preis. So blieben die Kosten für die USA bzw. die Nato im Irak- oder Kosovo-Krieg überschaubar, weil man es mit einem weit unterlegenen Gegner zu tun hatte. Würde es jedoch theoretisch zu einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland kommen, würde die Nato zwar sehr wahrscheinlich obsiegen, doch die Kosten wären (selbst wenn man eine nukleare Eskalation ausschließt) für beide Seiten exorbitant.

Verbunden mit diesen Kalkulationen sind jene Schwellen, die man als Abschreckung bezeichnet. Wobei die Abschreckung eben nicht nur darin besteht, dass man fürchtet, dass die Gegenseite sich als stärker erweisen könnte, sondern auch darin, dass man in eine Unternehmung investiert, die sich als Verlustgeschäft erweist und die eigene Position in Relation zu den globalen Rivalen schwächt.

Entsprechend ist auch das Narrativ, dass, wenn wir in Bezug auf die Ukraine Schwäche zeigen, China dazu ermuntert würde, in Taiwan tätig zu werden, nicht zutreffend, da es von falschen Proportionen ausgeht. Diese Abschreckungsdoktrin funktioniert nur bei einem dominanten Hegemon, der allen anderen weit überlegen ist, was für die USA im unipolaren Moment durchaus eine Zeitlang der Fall war. Doch ist China längst zu groß für diese Abschreckungs-Asymmetrie. Ganz im Gegenteil besteht eher die Gefahr, dass, wenn die USA tiefer in die Konflikte in der Ukraine und Israel hineingezogen wird, China in der Bindung von amerikanischen Ressourcen seine Chance zum Handeln in Taiwan sieht.

Die strategische Fehlkalkulation des Westens

In der Inkongruenz dieser beiden Faktoren liegt der strategische Fehler des Westens. Im Bewusstsein der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der Nato-Staaten, die in der Tat immer noch erdrückend ist, konnte man sich nicht vorstellen, dass jene anderen Komponenten ein Übergewicht bekommen könnten.

Doch genau das ist der Fall, und war auch absehbar, gerade für die Amerikaner, die in den Konflikten der Nachkriegszeit von Korea über Vietnam bis hin zu Afghanistan immer wieder in eben dieses Dilemma geraten waren. Man hat den Krieg in Vietnam nicht verloren, weil man militärisch unterlegen war, sondern weil die Amerikaner nicht bereit waren, den Preis für einen Sieg zu zahlen.

Der große Fehler des Westens war denn auch in der Ukraine, auf Rhetorik zu Vertrauen, die nie von der Realität gedeckt war. Und auf wirtschaftliche Sanktionen, die in den neuen ökonomischen Kräfteverhältnissen nicht mehr wirken konnten. Das „whatever it takes“ Bidens, ebenso wie die Bodentruppen, die Macron nicht ausschließen wollte, waren immer leere Formeln, da vollkommen klar war, dass es vor allem in der amerikanischen Bevölkerung keine Mehrheit für eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland geben würde.

Denn darüber, dass China der primäre hegemoniale Rivale ist und daher eine direkte Beteiligung der USA in der Ukraine nicht zu rechtfertigen wäre, herrscht in amerikanischen Politikkreisen weitgehendes Einvernehmen über alle Parteigrenzen hinweg. Es gibt lediglich unterschiedliche Auffassungen über das aktuelle Engagement in der Ukraine. Ein Teil ist der Ansicht, der Ukraine Krieg sei eine gute Möglichkeit Russland als Alliierten Chinas zu schwächen ohne dafür eigene Soldaten opfern zu müssen, ein anderer hält schon das für einen Fehler, da man sich voll auf China konzentrieren sollte.

Doch sind die Kriegsbefürworter, die nach wie vor die Oberhand haben, in ein gefährliches Dilemma hineingeraten. Denn, und auch davor warnt Clausewitz, Kriege zu beenden ist unendlich viel schwerer als sie zu beginnen. Eben weil Krieg so teuer ist, ist der Widerwillen, ein Ende mit Verlusten oder gar einer Kapitulation hinzunehmen, enorm groß. Hinzu kommt, dass es in jedem Krieg zu gegenseitigen Dämonisierungen kommt, die es immer schwerer machen, zu einer diplomatischen Lösung zu kommen. Auch viele deutsche Politiker haben sich inzwischen diese Rhetorik angeeignet, dass man mit einem Verbrecher wie Putin nicht verhandeln könne.

Die letzte Hoffnung, an die sich viele westliche Politiker klammern, nämlich mit sukzessiv steigender Nato Unterstützung das Blatt in der Ukraine langfristig noch zu wenden, lässt außer Acht, dass China der eigentliche Antagonist in diesem Konflikt ist, der eine drohende Niederlage seines wichtigsten Alliierten Russland nicht zulassen wird. Und gerade ein Abnutzungskrieg wäre gegen China, das bereits heute die größte Weltmacht von industriellen Kapazitäten ist, völlig aussichtslos.

Nuklearwaffen

Das Thema Nuklearwaffen ist besonders heikel. Denn die extremen Parameter dieser Waffen sind etwas, womit die menschliche Rationalität nur schwer umgehen kann. Man merkt das auch an den Äußerungen von Politikern, die das Drohen mit Nuklearwaffen für einen Bluff halten. Dass die Vernichtung der Menschheit selbst bei einer minimalen Wahrscheinlichkeit eine enorme Gefahr ist, lässt sich nur schwer vermitteln.

Beide Seiten verfügen über genügend Nuklearwaffen, um die Gegenseite vollständig auszulöschen. Und keine Seite hat eine reelle Chance die Angriffe der Gegenseite wirksam abzuwehren. Darüber war man sich schon in den 50er Jahren im Klaren: „a nuclear war can not be won“. Damit rückt die nuklear Option einerseits als wahrscheinliches Szenario weit in die Ferne, da unter normalen Umständen kein rationaler Spieler diesen Schritt wagen würde.

Doch zeigt die Erfahrung vergangener Kriege, dass es in verzweifelten Situationen immer wieder zu irrationalen Eskalationen kommen kann. Denn jenes Spiel mit der Eskalation (populär auch „chicken game“ genannt), das essentieller Teil jeder Kriegsführung ist, spielt genau mit jenem Rest von Irrationalität, der alle rationalen Erwägungen durchkreuzt.

Strategische Konsequenzen

Es ist offensichtlich, dass es angesichts dieser Kalkulationen und Zwänge keinen günstigen militärischen Ausgang für den Westen geben kann. Dass es vielmehr an der Zeit ist, die Verluste zu begrenzen und zu einer Verhandlungslösung mit Russland zu kommen. Andernfalls wird man, auf kurz oder lang, gewollt oder ungewollt, in einen Weltkrieg geraten.

Doch damit wird der hegemoniale Konflikt der Thucydides-Falle nicht verschwinden. Der Westen muss sich daher gleichzeitig bemühen ein stabiles militärisches Gegengewicht gegenüber China zu organisieren. Dazu wird man nicht nur auf die bisherigen Verbündeten setzten müssen, sondern auch auf unentschiedene Partner wie die Türkei oder Saudi Arabien (die auch militärisch bereits eine Weltmacht sind) sowie neue Verbündete in Afrika und Südamerika.

Gerade wenn wir unsere eigenen Werte von Freiheit und Gerechtigkeit auch in Zukunft bewahren wollen, müssen wir lernen mehr in realistischen und pragmatischen Kategorien zu denken. Der momentane Kurs wird uns nicht in diese Zukunft führen.

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