Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren muss

Staatsanwältin Anne Brorhilker schildert ihre Erfahrungen bei der Durchsuchung von Banken im Rahmen von Ermittlungen zu Steuerhinterziehung. Sie berichtet, dass die Banken oft mit einer großen Anzahl von Anwälten reagieren, um Eindruck zu schinden und die Ermittlungen zu erschweren. In einem Fall wurde ihr sogar physisch der Zugang verweigert. Brorhilker betont, dass Ermittler auf die Kooperation der Banken angewiesen sind, da wichtige Daten oft auf ausländischen Servern oder in Clouds gespeichert sind. Häufig wird behauptet, die Daten seien gelöscht oder aus rechtlichen Gründen nicht verfügbar. Brorhilker kritisiert die strukturellen Defizite in der Bekämpfung von Finanzkriminalität und fordert spezialisierte Teams auf Bundesebene. Sie hat ihre Position als Staatsanwältin aufgegeben, um sich bei der Organisation Finanzwende für die Interessen der Allgemeinheit einzusetzen. Trotz ihrer Ermittlungen laufen kriminelle Cum-Ex-Geschäfte weiter, oft mit komplexen Methoden und mangelnder staatlicher Kontrolle. Sie betont die Notwendigkeit von Reformen, um effektiv gegen solche Finanzverbrechen vorzugehen. (//)

Genauso wie die schier endlose Nachgiebigkeit des Staates gegenüber Gesetzesverstößen von Autofahrenden stellt auch das Steuerrecht ein Feld dar, auf dem bis heute eine Mentalität besteht, die die Durchsetzung des geltenden Rechts als irgendwie illegitim zu betrachten scheint, und im Umkehrschluss die damit verbundene Kriminalität nicht als solche, sondern als etwas, das bis zur Anwendung staatlicher Gewaltmittel versucht werden kann, so wie Raser*innen auch nie ein Unrechtsbewusstsein haben, sondern allenfalls "erwischt" werden. Dazu passt auch die konsequente Unterausstattung der entsprechenden Behörden; von den Ermittelnden zum Personal in der Justiz besteht ein eklatanter Graben zu den Ressourcen, die die Kriminellen benutzen, um sich zu schützen. Und das ist Absicht und hat nichts mit dem jüngsten Fachkräftemangel zu tun; diese Unterausstattung besteht seit Jahrzehnten und zieht sich auch durch sozialdemokratische Finanzminister hindurch, bei weitem nicht nur konservative oder liberale. Man denke nur an Scholz und die CumEx-Affäre; die entsprechenden Anreize sind wahnsinnig stark.

2) Die Professionalisierung der AfD scheint weitgehend geglückt

Beim Parteitag der AfD in Essen blieben offene Konflikte weitgehend aus, da hinter den Kulissen erfolgreiche Absprachen getroffen wurden. Dies ist eine strategische Entscheidung angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland. In der Vergangenheit waren Parteitage oft von innerparteilichen Streitereien geprägt, doch dieses Mal herrschte in der Öffentlichkeit Harmonie. Ein Netzwerk um Sebastian Münzenmaier und René Springer, das die Partei professionalisieren möchte, zeigte sich kompromissbereit und setzte ein Tableau für den Bundesvorstand durch. Alice Weidel und Tino Chrupalla wurden als Parteichefs bestätigt, und Stephan Brandner, der radikale Ansichten vertritt, erhielt 91 Prozent Zustimmung. Die AfD, einst als Alternative zu den „Altparteien“ gestartet, hat sich inzwischen weitgehend auf eine gemeinsame Linie geeinigt, sodass ideologische Abgrenzungen kaum noch notwendig sind. Die Vermeidung offener Machtkämpfe ist eine bewusste Strategie, um Wähler nicht abzuschrecken. (Frederik Schindler, Welt)

Hierbei handelt es sich tatsächlich um besorgniserregende Nachrichten. Die interne Zerstrittenheit der Populisten, ihre immanente Unprofessionalität, war lange der größte Schutz vor ihnen (man sieht das ja auch gut an Trumps erster Präsidentschaft, die in einer zweiten nicht mehr existent wäre). Ähnlich wie in anderen rechtsextremen Parteien, die erfolgreich aus der Nische herausgekommen sind, ist die interne Professionalisierung ein wichtiger Meilenstein. Der nächste wird, wenn die AfD dem "Handbuch" folgt, vermutlich die rhetorische Moderation und vor allem eine Anpassung der außenpolitischen Positionen sein; es ist aber auch möglich, dass dies nicht geschieht. - Eine etwas differenziertere Sicht auf den Parteitag findet sich beim Stern, der deutlich stärkere Konflikte innerhalb der Partei sieht.

3) Die unerträgliche Faulheit der anderen

Christian Lindner hat schon lange keine wirtschaftliche Erwerbsarbeit im engeren Sinne mehr ausgeübt. Seit er mit 21 Jahren Abgeordneter wurde, lebt er von Steuergeldern. Auch Markus Söder arbeitet seit 30 Jahren als Berufspolitiker. Beide fordern regelmäßig, dass Deutsche mehr arbeiten sollen. Lindner kritisiert, dass die Deutschen zu faul seien und fordert, dass sie mehr arbeiten, um höhere Steuern zu zahlen. Gleichzeitig lehnt die FDP Steuererhöhungen für Reiche ab. Jens Spahn äußert ebenfalls Kritik an der Arbeitsmoral und spricht von einem "Freizeitpark Deutschland". Dabei gehen Spahn und Lindner seit Jahren keiner nicht steuerfinanzierten Beschäftigung nach. Auch Arbeitgeberverbände beklagen sich über den "unrealistischen Traum der Viertagewoche" und fordern mehr Arbeitseinsatz. Das DIW widerspricht diesen Forderungen und betont, dass Deutschland bereits eine Rekordzahl an Arbeitsstunden erreicht hat. Die Forderung nach einer Steuerbefreiung für Überstunden sei unsinnig. Stattdessen sollten Kinderbetreuung ausgebaut und Migranten besser integriert werden. Die Forderungen nach mehr Arbeit von Seiten der Politiker wirken heuchlerisch, da sie selbst seit Jahrzehnten von Steuergeldern leben und wenig zum BIP beitragen. (Christian Stöcker, Spiegel)

Ich halte von dieser Kritik überhaupt nichts. Auch wenn Stöcker in seinem Artikel Lippenbekenntnisse zur Achtung vor dem Politikberuf abliefert, so bleibt die Kritiklinie doch Politiker*innenverachtung, die sich nur in ihrer Stoßrichtung - Markus Söder und Christian Lindner statt Ricarda Lang oder Annalena Baerbock - von der Masse dieser Artikel unterscheidet. Lindner lebt nicht "auf Steuerzahlendenkosten", sondern er wird für eine hoch anspruchsvolle und verantwortungsvolle Aufgabe bezahlt, und das nicht überragend gut. Auch dass er ungefähr so viel Recht darauf hat, sich als Unternehmer zu bezeichnen, wie Baerbock als Völkerrechtlerin - geschenkt. Dasselbe gilt auch für die Kritik, dass Söder nur in 5 von 30 Landtagssitzungen war. Als ob ein Ministerpräsident nicht Besseres zu tun hätte, als sich sinnlos in Sitzungen den Hintern breit zu sitzen! Stöcker müsste es eigentlich echt besser wissen, und ich vermute, dass hier vor allem der gefühlte gerechte Zorn mit ihm durchging. Sinnvoller wird die Kritik dadurch nicht, und letztlich steckt er doch alle in einen Sack und haut drauf.

4) Die Mitte der Gesellschaft will einfach nur Respekt vor ihrem Lebensentwurf

In einem alten Abgeordnetenbüro im Bundestag habe ein Zettel gehangen, den ein Mädchen bei einer Probeabstimmung zur Bundestagswahl beschrieben habe: „Wahrscheinlich SPD, es sei denn, sie werden noch wesentlich schlechter.“ Heute wählten noch weniger Menschen die SPD, zuletzt 13,9 Prozent. Die SPD kämpfe nicht mehr um 40 Prozent, sondern um 15 Prozent, und betrachte es bereits als Erfolg, Dritter statt Vierter zu werden. Obwohl Olaf Scholz 2021 Kanzler geworden sei, habe er hinter den Erwartungen zurückgeblieben und nicht geführt. Die Regierung konzentriere sich auf Reglementierungen und vernachlässige zentrale Themen wie Verteidigung, Wirtschaft und Migration. Populäre liberale Themen wie Geschlechteridentität und Cannabis-Legalisierung würden zu sehr betont. Das bevormundende Auftreten der SPD, das auf Identitätspolitik und Quoten setze, führe dazu, dass die Partei ihre Wähler entfremde. Es fehle an Selbstkritik und die Partei wirke oft losgelöst vom realen Leben. Ein Neustart der SPD könnte von Olaf Scholz ausgehen, ähnlich wie Labour in Großbritannien sich von Jeremy Corbyns Linkskurs befreit habe. Boris Pistorius könnte eine Rolle spielen, aber eine echte Veränderung müsse von der Parteispitze ausgehen. (Hans-Peter Bartels, Welt)

Politisch gesehen gebe ich Bartels völlig Recht. Tatsächlich will die Mitte der Gesellschaft nichts so sehr, als einfach nur behütet zu werden und vor Änderungen verschont zu bleiben, hat ein brennendes Bedürfnis danach gesagt zu bekommen: "Du bist in Ordnung, alles, was du tust, ist gut so." Das ist eine menschliche Grundforderung, die beileibe nicht nur die gesellschaftliche Mitte in sich trägt. Es hat allerdings etwas Komisches, das ausgerechnet in der Welt zu finden, in der sonst Kommentator*innen nicht müde werden, den unteren Schichten mangelnden Änderungswillen zu unterstellen und sie moralintriefend dazu aufzufordern, doch gefälligst mehr nach ihren Vorstellungen zu leben.

Hier liegt die politische Crux: der Mitte der Gesellschaft zu sagen, dass sie sich und ihren Lebensstil ändern muss und dass er eben nicht so aufrechterhalten werden kann, ist politischer Selbstmord. Es nicht zu tun bedeutet, die Krisen unbewältigt zu lassen und nur den Niedergang zu managen. Das ist übrigens politisch ein farbenblinder Prozess; das Gesagte lässt sich problemlos sowohl auf die konservative Kritik an progressiven Migrations- und Sozialstaatsvorstellungen wie progressive Kritik an konservativer Klimakrisenhaltung anwenden. Nur dass die jeweils kommentierenden Personen gerne die jeweils eigene Seite ausblenden und nur die Weigerungshaltung der anderen sehen. Denn Respekt hat jeweils man selbst verdient, weil Respekt stets verdient werden muss. Und wer hat schon in seinem Selbstbild, keinen Respekt zu verdienen?

Zum Artikel selbst: ich finde die Vorstellung, Olaf Scholz stehe an der Spitze einer woken Bewegung, so albern, dass wir gar nicht darüber reden müssen. Ansonsten reiht sich der Artikel in das beliebte "die SPD muss machen, was ich sage, dann wird sie wieder stärker" ein.

5) Ein bisschen Versöhnungskitsch würde nicht schaden

Vor 30 Jahren prägte Klaus Bachmann den Begriff "Versöhnungskitsch" für den Umgang der Deutschen mit Polen. Dieser Begriff beschreibt die Tendenz, Konflikte zu beschweigen und normale nachbarschaftliche Gesten als große Schritte zur Versöhnung zu feiern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen viel gegenüber den Polen wiedergutzumachen, und die Polen strebten eine Annäherung an Deutschland an, um ihren Weg nach Westen zu sichern. Die Regierungskonsultationen zwischen Kanzler Olaf Scholz und dem neuen polnischen Premier Donald Tusk sind die ersten seit sieben Jahren. Es wird gehofft, dass dieses Treffen pragmatische Nachbarschaftsbeziehungen wiederherstellt, da Deutschland und Polen ein stabiles Verhältnis brauchen. Die EU benötigt eine starke Mitte, und Polen könnte diese Rolle übernehmen, da Frankreich möglicherweise von rechten Kräften regiert wird. Polen hat gezeigt, wie man dem nationalistischen Diskurs der Rechten begegnet und wie man die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellt. Tusk hat es geschafft, die rechtspopulistische PiS zu besiegen und könnte ein Vorbild für andere sein. Scholz hat Tusk Unterstützung zugesagt, auch in Bezug auf die Entschädigung von Opfern des Zweiten Weltkriegs. Die antideutschen Narrative der Rechten in Polen werden von einer Minderheit geglaubt, aber es bleibt wichtig, dass die Deutschen ihre Vergangenheit besser kennen. Ein Deutsch-Polnisches Haus in Berlin zum Gedenken an polnische Opfer könnte dazu beitragen. Polen könnte ein besserer Partner für Deutschland in der EU sein als Frankreich, besonders angesichts der Herausforderungen im Osten Europas. Beide Länder teilen das Interesse, Russland in Schach zu halten und die Ukraine zu unterstützen. Eine solche Zusammenarbeit könnte die Versöhnung fördern – mit weniger Kitsch und mehr Realpolitik. (Jan Puhl, Spiegel)

Ich bin auf jeden Fall soweit bei der Analyse, dass die Rolle Polens in der EU bei den allermeisten Deutschen nicht angekommen zu sein scheint. Die Analogie hierfür scheint mir Afrika zu sein, wo der "Brot für die Welt"-Kitsch der 1980er Jahre immer noch das bestimmende Referenzbild zu sein scheint; für die meisten ist Polen wohl auch immer noch das Urlaubsland, in dem vor allem billige Raubkopien von Markenware und Zigarettenstangen gekauft werden können und wo Diebe umgehen. Dass es sich um eine boomende, rapide aufholende und vor allem ungeheuer selbstbewusste Nation handelt, die sich gerade anschickt, zur vorrangigen Militärmacht innerhalb der EU zu werden, ist kaum jemandem bewusst.

Ich bin allerdings skeptisch, ob so etwas wie ein deutsch-polnischer Motor tatsächlich zu schaffen ist. Nicht nur die im Artikel genannten antideutschen Ressentiments und die Reparationsforderungen stehen dem kulturell im Wege; die politischen Interessen Deutschlands und Polens liegen auch öfter über Kreuz. Viel mehr müssen Deutschland und Polen auf EU-Ebene zunehmend Verhandlungen vorentlasten und sich vorher verständigen, wo vielleicht Kompromisse geschlossen werden können.

Resterampe

a) Sagaland – Den Deutschen Wald spielen.

b) Super außenpolitische Analyse der Wahlen in Frankreich. Und noch Interview. Und diese ausführliche Analyse.

c) Christopher Lauer hat eine Meinung zur Wehrpflicht. Ich halte das für quatschig, aber hey...

d) Drosten gewohnt stabil.

e) Nichts hat Konsequenzen.

f) Thread von David Frum zu Biden.

g) Deutschland mittlerweile beim Klimaschutz auf den letzten Plätzen. Slow clap.

h)Wie Technologie unsere Aufmerksamkeit lenkt: Neue Herausforderungen im Zeitalter von TikTok und automatisierten Videos

i) Die Welt hat eine Gegenrede zu Kristina Schröders Kritik an einer Frauenwehrpflicht jüngst von einer Kampfpilotin, spannend zu lesen.


Fertiggestellt am 04.07.2024

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