Jubiläum: Er war die Gründungsfigur der bürgerlichen Epoche, und ist mit ihr wieder aus der Zeit gefallen.

Um ein Gefühl für die Bedeutung von Immanuel Kant zu bekommen, muss man wissen woher er kommt, und wohin er aufbrach. Er ist die Symbolfigur einer epochalen Zeitenwende. Während er uns heute mit seiner Perückenfrisur und seinem Livree wie ein Mensch von vorgestern erscheint, war er für seine Zeitgenossen eine Prophetengestalt, die mit adventlichem Pathos den Weg in ein neues Zeitalter wies.

1725 geboren, wuchs Kant in eine spätfeudale Kultur hinein, die in ihren Strukturen noch vollkommen von der Ordnungsklammer von Gott und König bestimmt war, die hierarchisch und autoritär die Welt von oben nach unten strukturierte. Doch befand sich diese Epoche bereits in ihrer Abenddämmerung. Und wie immer in der Spätphase eines Kulturzyklus, klammerte man sich umso mehr an die alte Ordnung, je mehr man spürte, dass sie überständig geworden war.

Das Paradoxe an der Figur Kant ist, dass er eigentlich ein erzkonservativer Charakter war. Ein Mensch mit einem fast obsessiven Ordnungszwang, der durchaus Behagen hatte am funktionierenden preußischen Staatsapparat und pedantischer Universitätsverwaltung. Jemand, der nie das Bedürfnis hatte, aus seiner eng begrenzen Königsberger Welt auszubrechen, der bis zuletzt an alten Moden und Ritualen festhielt.

Doch scheint eben jene Überempfindlichkeit gegenüber Unordnung und Instabilitäten ihn vor allen anderen hellsichtig gemacht zu haben gegenüber den Kataklysmen und dem Chaos, die sich am Horizont abzeichneten. Denn ohne Zweifel war die Französische Revolution von 1789, die den Anfang vom Ende der feudalen Epoche markierte, nicht nur das zentrale Ereignis der Zeit sondern auch der symbolische Fluchtpunkt im Leben von Immanuel Kant.

Vollkommen zu Recht wird Kant ideengeschichtlich mit diesem Ereignis verknüpft, auch wenn er es nur aus der Ferne seiner ostpreußischen Heimat beobachtete. Doch wenn man Kant so oft als „Revolutionär“, als den „Alleszermalmer“ bezeichnet, ist das eigentlich eine perspektivische Täuschung. Kant wollte nicht die alte Welt zerstören. Diese fiel von selbst zusammen, weil sie korrupt und brüchig geworden war. Vielmehr ging es ihm darum, mit seiner kritischen Philosophie ein neues Fundament für eine neue Zeit zu schaffen, auf dass diese nicht im Chaos der Orientierungslosigkeit versinke.

Durchaus zutreffend wird Kants Philosophie als „kopernikanische Wende des Denkens“ bezeichnet. Denn sie trug mit aller Konsequenz dem epochalen Paradigmenwechsel der Französischen Revolution Rechnung. Der neue Weltgeist manifestierte sich in der bürgerlichen Gesellschaft, und es ist eben exakt dieses neue Spannungsfeld des freien Individuums/Bürgers, das sein Verhältnis zur Welt, zur Gesellschaft, zur Kultur und zur transzendentalen Selbstverortung neu definieren muss, worum die kritischen Theorien Kants kreisen. Die neue Welt wurde nicht mehr durch Hierarchien definiert sondern durch die selbstbändigenden Kräfte des menschlichen Geistes.

Gewiss war Kant nicht ohne Voraussetzungen. Zahlreiche Denker der französischen, englischen und deutschen Aufklärung hatten bereits alte Gewissheiten in Frage gestellt und neue Schneißen geschlagen. Doch Kant war der Prophet, der ein neues Buch aufschlug und wie im Buche Genesis die Welt des Denkens vom allerersten Anbeginn Schritt für Schritt neu definierte.

Dass Immanuel Kant erst als alter Mann zu dem wurde, der er war, gehört mit zu seiner mythischen Physiognomie. Er war einer jener Weltweisen, die wie Sokrates, Zoroaster oder Konfuzius ein Leben lang die Vergangenheit studiert und die Gegenwart beobachtet hatten, um in der Reife ihrer Jahre über die zeitgebundenen Horizonte hinweg von der Vergangenheit in die Zukunft zu blicken, um die dunklen Wolken und raunenden Katastrophen vorherzusehen. Sorge war Kants größter Antrieb, um die Welt von morgen vor den drohenden Gefahren der menschlichen Fehlbarkeit zu retten.

Gründungsfigur der deutschen Kulturepoche

Als Symbolfigur des bürgerlichen Paradigmenwechsels war Immanuel Kant auch die Gründungsfigur des deutschen Idealismus und der gesamten deutschen Kulturepoche bis 1945. Die Weimarer und Wiener Klassik sowie die deutsche Romantik zehrten ganz wesentlich von jener Initialzündung des neuen Kantianischen Weltbegriffs. Vor allem Hölderlin und Beethoven verstanden sich als Heilsfiguren, die das prophetische Versprechen Kants der heroischen Sinnstiftung aus der eigenen geistigen Potenz beim Wort nahmen.

Über die ganze deutsche Kulturepoche hinweg, bis hin zu Franz Kafka und Thomas Mann, bis zu Arnold Schönberg und Anton Webern bleibt der Kantsche Nukleus wirksam, wenn auch zunehmend in Negationen und Antithesen. Denn natürlich drehte sich die Welt unerbittlich immer weiter. Auch die bürgerliche Epoche wurde welk und überständig und neue Generationen wollten neue Wege gehen. Und wie die französische Revolution und die Napoleonischen Kriege das Ende der feudalen Epoche markiert hatten, so bildeten die russische Revolution und die beiden Weltkriege das Ende der bürgerlichen Epoche.

Eine Figur seiner Zeit

Es ist denn auch kein Wunder, dass Immanuel Kant seit 1945 immer mehr verblasste. Natürlich ist er eine Figur seiner Zeit und heute aus der Zeit gefallen. Die demokratische Epoche, die die bürgerliche Epoche ablöste, wird erneut von gänzlich anderen Paradigmen bestimmt. Betrachtete der preußische König Friedrich Wilhelm II. Kant mit großem Misstrauen, weil er in ihm instinktiv seine Nemesis erkannte, ist Kant den allermeisten heute gleichgültig, und allenfalls Material wohlfeiler politischer Sonntagsreden oder leichte Beute eines naiven Gutmenschentums.

Immanuel Kants Philosophie, ebenso wie die Kulturepoche die er begründete, hat eine universale Qualität und wird gewiss die Zeiten überdauern, und vielleicht in einem neuen Kulturzyklus irgendwann auch wieder an Relevanz gewinnen. Doch der aktuelle Weltgeist bewegt sich im Moment in eine entgegengesetzte Richtung. Um die Welt von morgen zu retten, bedarf es gänzlich anderer Mittel und Talente.