Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) The Philosophy of Liberty – On Liberalism

Der Artikel beleuchtet die politischen Grundsätze des Liberalismus, auf denen die Vereinigten Staaten gegründet wurden, und setzt sich mit deren Bedeutung und Wirksamkeit auseinander. Liberalismus im ursprünglichen Sinne betont individuelle Freiheiten und Rechte gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaft. Historisch gesehen entstand der Liberalismus als Antwort auf die intensivere staatliche Kontrolle und religiöse Fragmentierung im frühmodernen Europa, insbesondere nach den Religionskriegen und dem Englischen Bürgerkrieg. Der Liberalismus setzt darauf, bestimmte persönliche Freiheiten – wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Eigentumsrechte – aus der politischen Sphäre herauszunehmen, um gesellschaftliche Konflikte zu minimieren. Die USA wurden 1776 als erste liberale Nation gegründet, basierend auf den Prinzipien der Gleichheit und unantastbaren Rechten. Diese Ideale wurden jedoch oft unvollständig umgesetzt, was die Abschaffung der Sklaverei und den Kampf um Bürgerrechte und Gleichberechtigung einschloss. Trotz dieser Unvollkommenheiten haben liberale Demokratien im Vergleich zu anderen politischen Systemen enorme Erfolge in Bezug auf Lebensqualität, Stabilität und Sicherheit erzielt. Aktuell steht der Liberalismus vor Herausforderungen durch anti-liberale Bewegungen und autoritäre Regime. Der Artikel betont, dass die USA an ihren liberalen Grundsätzen festhalten müssen, um Freiheit und Wohlstand zu sichern. (Bret Deveraux, A Collection of Unmitigated Pedantry)

Ich empfehle den kompletten Artikel zur Lektüre, wie üblich bei Bret Deveraux ist er lang, ausführlich und absolut lesenswert. Seine Betonung des Liberalismus als Problemlösungsmaschine finde ich super wichtig, weil das Narrativ von seiner angeblichen Ineffizienz gegenüber autoritären Lösungen einfach nicht totzukriegen ist. Sein Hinweis darauf, dass es gerade liberale Gesellschaften sind, die sich in den Kriegen des 20. Jahrhunderts als besonders resilient erwiesen haben, finde ich an der Stelle besonders wertvoll. Deveraux arbeitet auch schön die dem Liberalismus inhärenten Spannungen heraus, vor allem bezüglich der verschiedenen Lösungsansätze, und vermag es, allzu platte Kontraste zu vermeiden und eine tiefschürfende wie detailreiche Erklärung zu bieten. Absolute Leseempfehlung!

2) Prüfungen in Räumen mit hohen Decken führen zu schlechteren Ergebnissen

Eine neue Studie von Wissenschaftlerinnen der University of South Australia und der Deakin University zeigt, dass größere Räume mit hohen Decken negative Auswirkungen auf die Prüfungsergebnisse von Studierenden haben. Die Forscherinnen Isabella Bower und Jaclyn Broadbent analysierten die Daten von 15.400 Studierenden und stellten fest, dass diese in Räumen mit höheren Decken schlechter abschnitten als erwartet. Dabei wurden individuelle Unterschiede und frühere Leistungen berücksichtigt. Die Ergebnisse legen nahe, dass hohe Decken und große Räume möglicherweise Konzentrationsprobleme verursachen. Faktoren wie die Nutzung der Räume für andere Zwecke, schwankende Temperaturen und schlechte Luftqualität könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Vorhergehende VR-Experimente zeigten, dass größere Räume zu einer Gehirnaktivität führen, die mit erhöhter Konzentration auf schwierige Aufgaben verbunden ist, was die Leistung negativ beeinflussen könnte. Die Forscherinnen betonen die Wichtigkeit, die physischen Umgebungen so zu gestalten, dass alle Studierenden gleiche Chancen auf Erfolg haben. (News4Teachers)

Man sollte die Überschrift nicht überbewerten; wie der eigentliche Artikel deutlich zeigt, ist die Kausalität nicht eindeutig beweisbar. Relevant ist für mich etwas anderes: Prüfungen in anderen Räumen zu schreiben hat eine signifikante Korrelation zu den Noten, signifikanter als viele andere Faktoren. Das belegt einmal mehr, wie wenig objektiv Noten sind und wie viele Faktoren in ihre Bildung hineinspielen, die völlig außer Kontrolle der Schüler*innen liegen. Sie messen einfach nicht, was sie vorgeben zu messen, sie sind scheingenau. Das sollte man immer im Hinterkopf haben, wenn man sie begutachtet oder bewertet. Siehe zum Thema auch dieses Fundstück von cimourdain und Resteramp n).

3) Let’s Talk About Trump’s Gibberish

Donald Trump hat es geschafft, seine bizarren Reden als normale politische Äußerungen erscheinen zu lassen, so dass sie von vielen Menschen und den Medien akzeptiert werden. In Las Vegas sprach er kürzlich über die hypothetische Situation, wie man einen Hai mit einer Bootsbatterie elektrokutiert – ein weiteres Beispiel seiner seltsamen Monologe. Solche Momente zeigen deutlich, dass er emotional instabil ist und nicht für ein politisches Amt geeignet ist, besonders nicht für das Präsidentenamt mit der Kontrolle über das Nukleararsenal. Trump wird oft dafür bewundert, dass er seine emotionalen Ausbrüche als Ausdruck seiner New Yorker Art oder seiner Leidenschaft darstellt. In Wirklichkeit aber weisen sie auf tiefere Probleme hin. Seine Reden beinhalten oft unzusammenhängende Fantasien und zeigen seine Unfähigkeit, bei einem Thema zu bleiben. Seine Mitarbeiter versuchen, einige politische Aussagen in seine Reden einzubauen, um sie als substanzielle politische Statements erscheinen zu lassen, was Trumps irrationale Kommentare verdecken soll. Ein weiteres Problem ist die Reaktion der Medien und der politischen Gegner. Während jeder Fehler von Joe Biden als Zeichen von Demenz interpretiert wird, werden Trumps viel gravierendere Ausrutscher oft ignoriert oder verharmlost. Viele in den Medien und der demokratischen Partei vermeiden es, seine mentale Stabilität direkt in Frage zu stellen, aus Angst, als voreingenommen oder elitär zu gelten. Es ist höchste Zeit, die offensichtliche Wahrheit anzuerkennen: Donald Trump ist emotional und kognitiv nicht in der Lage, das Amt des Präsidenten auszuführen. Ein zweites Trump-Präsidium würde mit Opportunisten und unqualifizierten Personen besetzt sein, was die Gefahr von Fehlentscheidungen in kritischen Momenten erhöhen würde. Trumps Unfähigkeit, rational zu handeln, stellt eine Gefahr für die nationale und globale Sicherheit dar. (Tom Nichols, The Atlantic)

Nichols kommentiert entsprechend auch The Double Standard in Trump-Biden Coverage. Relevant sind seine Analysen vor allem deswegen, weil er nicht dabei stehen bleibt, diesen Doppelstandard zu erkennen, sondern auch, ihn als gegebenen Faktor einzuplanen. Es hilft nun einmal wenig, sich hinzustellen und ihn zu beklagen. Die New York Times wird deswegen nicht ihre Berichterstattung ändern, CNN keine Redaktionskonferenz abhalten. Die Medien werden weiter an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Genauso wichtig festzustellen ist, dass Trumo zwar mindestens genauso psychisch unzuverlässig ist wie Joe Biden, ein Proto-Faschist dazu und generell wesentlich ungeeigneter und ungefährlicher; dass aber nichts davon die Probleme Joe Bidens in irgendeiner Weise beseitigt. Diese Denkweise, die sich gerade leider bei vielen Parteigänger*innen der Democrats feststellen lässt, ist genau die, die uns in das Trump-Desaster geführt hat: dass der Kandidat irgendwie dadurch geadelt würde, dass der jeweilige Gegner völlig unakzeptabel ist. Das amerikanische Mehrheitswahlrecht macht es nur praktisch unmöglich, eine andere Handlungsoption zu wählen, die nicht die jeweils befürchtete Katastrophe herbeiführt, und da beißt sich die Maus selbst in den Schwanz.

4) Macrons Scheinsieg

Die gute Nachricht der gestrigen Wahl ist, dass die rechtsradikale Partei Rassemblement National (RN) trotz massiver Stimmenzuwächse nicht regieren wird. Die schlechte Nachricht jedoch ist, dass Emmanuel Macrons Entscheidung, Neuwahlen auszurufen, nicht gerechtfertigt war, da seine Fraktion stark an Sitzen verloren hat. Trotz einer beeindruckend hohen Wahlbeteiligung, die größte in den letzten 40 Jahren, wurde der RN auf den dritten Platz verwiesen, hinter dem Linksbündnis und Macrons Regierungsmehrheit. Das Wahlergebnis zeigt, dass das französische Mehrheitswahlrecht an seine Grenzen stößt, da es den politischen Willen der Wähler nicht korrekt widerspiegelt. Trotz 32,05 Prozent der Stimmen für den RN im zweiten Wahlgang, verhinderte eine Allianz aus konservativen, liberalen und linken Parteien eine Regierungsübernahme durch den RN. Diese sogenannte republikanische Front hat zwar kurzfristig funktioniert, aber langfristig bleibt die Gefahr bestehen, dass viele Wähler das Gefühl haben, ihre Stimmen würden nicht ernst genommen. Macrons Ziel, durch die Neuwahlen politische Klarheit zu schaffen, wurde nicht erreicht. Die politische Zukunft Frankreichs bleibt ungewiss, und das Land steht vor einer potenziellen Phase der Instabilität. Der RN könnte in den kommenden Jahren von dieser Situation profitieren, sich weiter professionalisieren und moderater auftreten, um sich als einzige politische Alternative zu präsentieren. Die Herausforderung für die moderaten Kräfte wird es sein, stabile Koalitionen zu bilden und die Anliegen derjenigen Wähler zu berücksichtigen, die den RN stark gemacht haben. (Britta Sandberg, Spiegel)

Ich verstehe die Prämisse des Artikels nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass das irgendjemand (außer vielleicht Macron selbst. und ich glaube, der tut auch nur so) das als Macrons Sieg betrachtet. Es ist vor allem eine Niederlage des RN. Dazu scheinen wir gerade einen generellen Trend von Siegen der Linksparteien im Jahr 2024 zu haben, der kurios unterbelichtet bleibt. Was sowohl der Sieg Labours in Großbritannien als auch der Front Populaire in Frankreich zeigen ist, dass ihre Siege tendenziell als illegitim betrachtet werden: sie zählen alle aus irgendwelchen Gründen nicht - das Mehrheitswahlrecht (siehe auch Resterampe r)) und die Stimmenanteile werden hier vor allem vorgebracht - während die exakt spiegelbildlichen Argumente gerne bei Trump angebracht wurden: da wurde gerne darauf verwiesen, wie irrelevant das popular vote ist und dass das Resultat alles ist, was zählt, während es bei den Linken nun genau umgekehrt gelten soll. Diese transparent parteipolitische Argumentation ist nicht ernstzunehmen.

Das ändert an den Realitäten wenig. Relative Mehrheiten im Parlament übersetzen sich nicht in gesellschaftliche Mehrheiten, sie übersetzen sich in politische Macht (und in Frankreich vielleicht nicht einmal in das). Dass Wahlbündnisse zum Verhindern der Rechten keine sonderlich attraktive Option sind, ist auch allen klar. Dass Kolumnisten wie etwa im Spiegel Maria Fiedler ("nicht ideal") das für eine umstrittene Erkenntnis halten, mit der sie gegen den Strich bürsten, ist ein alberner Habitus: Niemand sieht die reine Abwehr von Rechtsextremisten als Hauptziel als ideal; sie ist nur gerade das Gebot der Stunde. Das ist ähnlich wie der linke Vorwurf, man wolle die Aufrüstung gegen Russland um ihrer selbst Willen und nicht, weil sie eben eine durch die Zeiten bedauerliche Notwendigkeit ist.

5) Was die CDU aus Macrons Scheitern lernen kann

Die politischen Turbulenzen in Frankreich bieten wichtige Lehren, auch für Deutschland. Emmanuel Macron hatte das Ziel, die traditionellen politischen Lager der Konservativen und Sozialisten zu überwinden und eine neue mittige Partei zu etablieren. Dieses Vorhaben scheiterte, trotz seines Überraschungserfolgs als zweitstärkste Kraft bei den Neuwahlen. Die Linken mit ihrem Bündnis „Nouveau Front Populaire“ landeten auf dem ersten Platz, gefolgt vom Rassemblement National (RN) auf Platz drei. Macrons Plan, die politische Landschaft zu verändern, führte jedoch zu einer Schwächung der bürgerlichen Mitte und einem Wiedererstarken der extremen Kräfte. Sein Erbe ist eine fragmentierte politische Mitte, was dem RN zugutekommen könnte. Die rechte Partei Marine Le Pens nutzt diese Spaltung geschickt und könnte sich mit einem moderateren Auftreten weiter professionalisieren und mehr Wähler gewinnen. In Deutschland zeigt sich eine ähnliche Situation, wo die CDU/CSU als Volkspartei eine wichtige Rolle spielt. Sie bietet konservativen und rechten Wählern eine politische Heimat und verhindert somit den Aufstieg der AfD. Ein starker Union bleibt die beste Verteidigung gegen den Einfluss rechtsradikaler Parteien. Es wäre ein Fehler der Ampel-Koalition, die CDU/CSU weiterhin als rechtsradikal zu diffamieren, da dies letztendlich die AfD stärkt. Stattdessen sollten linksliberale Kräfte ein Interesse an einer starken und moderierenden Union haben, um die politische Mitte zu stabilisieren und extremen Parteien den Wind aus den Segeln zu nehmen. (Thomas Schmid, Welt)

Ich halte wenig von den direkten Analogien. Die AfD ist nicht der RN, weil die AfD aktuell grundsätzlich regierungsunfähig ist, und die Vorstellung, dass Sahra Wagenknecht ein republikanisches Bündnis gegen Rechts anführen könnte, ist nachgerade albern. Unser Wahlsystem schafft außerdem ganz andere Möglichkeiten, mit dem Problem umzugehen. Wir BRAUCHEN keine front populaire, weil das Verhältniswahlrecht es unnötig macht: solange die AfD keine 51% der Stimmen bekommt - und zur Erinnerung, das gelang in der Geschichte der Bundesrepublik EINMAL der CDU - wird es immer möglich sein, sie von der Macht fernzuhalten.

Als eine Nebenbemerkung: ich halte es auch für albern, Macron als völlig Gescheiterten darzustellen. ALLE Politiker*innen scheitern am Ende, immer. Aber der Mann hat eine komplett neue Bewegung aus dem Nichts geschaffen und nicht nur eine, sondern zwei Präsidentschaftswahlen gewonnen. Jetzt so zu tun, als wäre er quasi schon immer ein Problemfall gewesen und Hollande (!) positiv mit ihm zu vergleichen, taugt für mich überhaupt nicht. Macrons zweite Amtszeit ist kein Erfolg, aber man kann kaum behaupten, dass er ohne Wirkung geblieben sei.

Resterampe

a) Sascha Lobo über Antisemitismus von Progressiven.

b) Diese Zahlen sind echt krass.

c) Wow, ich stimme Maschmayer zu.

d) Wie die Tories das britische Universitätssytem zerstörten.

e) Gute Einschätzung zum Haushalt 2025.

f) Noch so ein optimistischer Artikel zum Stand von Wissenschaft und Technik.

g) Nachtrag zum Biden-Podcast. Und noch einer.

i) Nachtrag zum Supreme-Court-Artikel.

j) Annalena Baerbock und die feministische Außenpolitik: Im Auswärtigen Amt stößt sie an ihre Grenzen. Kein Zweifel, die Obstinenz des AA ist legendär ("uns ist egal, wer unter uns Außenminister*in ist"). Es gibt kein Ministerium, das seine Minister*innen dermaßen nach seinem Willen formt wie das AA. Von daher wundert mich das keine Sekunde.

k) NS-Gedenkstätten: Schulklassen rauschen in 90 Minuten durch – „das war’s“. Ich spreche mich ja immer vehement gegen Pflichtbesuche von Schulklassen in KZs aus, und da hat man mal wieder einen super Grund dafür, warum das dummer Aktionismus ist.

l) Europe has a lot more elevators than the US. Immer wieder spannend, wie wenig das Klischee von den weniger verregulierten USA zutrifft.

m) Behold the 2024 Republican Party platform. Spannend. Trump scheint seine Strategie von 2016 wiederholen zu wollen statt den Blödsinn von 2018, 2020 und 2022: Weitgehender Verzicht auf Kulturkampf, Inszenierung als die moderate Alternative.

n) Tschüss Noten? Schulsenatorin: Schulen dürfen bis zur 9. Klasse auf Zensuren verzichten.

o) There’s no embarrassment in getting something wrong. So wichtig!

p) Wie viele Arbeiter brauchten die Pyramiden von Gizeh?

q) Annalena Baerbock verzichtet sie auf grüne Kanzlerkandidatur, Weg für Robert Habeck frei. Nur konsequent. Ich halte immer noch wenig von der Kandidatur überhaupt, aber schauen wir mal.

r) Zum Mehrheitswahlrecht.


Fertiggestellt am 11.07.2024

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