Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Hochnäsige Unkenntlichkeit

Olaf Scholz scheint vergessen zu haben, welche Aufgaben ein Bundeskanzler hat. Er vernachlässigt die Führung der Koalition, die Stimmung in der Gesellschaft und Deutschlands Position in der Welt. Scholz hat es versäumt, einen klaren Kurs vorzugeben und die Koalition zu einen. Die Regierungsparteien streiten sich ungebremst, während Scholz sich im Hintergrund hält und seine Führungskompetenz nicht nutzt. Er genießt kaum noch Respekt und hat das Vertrauen einiger Kabinettsmitglieder verloren. Scholz fehlt es an einem klaren Plan und einem angemessenen Umgang mit Unternehmern und Managern. In der Außenpolitik hat er zu einem offenen Zerwürfnis mit Frankreich geführt und Deutschland international in eine seltsame Position gebracht. Wenn Scholz nicht bald die Führung übernimmt, ist er als Bundeskanzler ungeeignet. (Dirk Kurbjuweit, Spiegel)

Ich will nicht großartig Scholz verteidigen, weil ich tatsächlich wenig beeindruckt von ihm, weder von seinen Führungsfähigkeiten her noch von der Politik, die er mit seiner Richtlinienkompetenz vertritt. Dass er keinen Plan hat - geschenkt, er ist Merkel 2.0, dafür wurde er gwählt, das haben wir jetzt. Auf der anderen Seite habe ich aber wenig Geduld für diesen Green-Lantern-ismus, den Kurbjuweit hier zur Schau stellt. Der Bundeskanzler mag der mächtigste Akteur im deutschen politischen System sein, aber er besitzt schlicht nicht die Fähigkeit, Konflikte in einem demokratischen System einfach per Fiat aufzulösen. Das wollen wir eigentlich auch nicht, und diese reflexhaften Rufe nach "Führung" tun wenig. Scholz im Speziellen hat zudem das Problem, dass er eine sehr schwierige Koalition zu managen hat. Wo genau auftrumpfendes Auftreten hier irgendwie mehr helfen soll, weiß ich nicht. Was im Hintergrund passiert, kann zudem niemand außer den Beteiligten wissen. Er erinnert ein wenig an Kurt Georg Kiesinger, was das angeht, und es ist gut möglich, dass das der korrekte Vergleichsmaßstab hier ist ("Wandelnder Vermittlungsausschuss" und so). Meine Kritik als außenstehender Beobachter wäre eher, dass das Vermitteln nicht so pralle läuft. Aber letztlich haben andere Akteure viel mehr agency und damit auch Verantwortung.

2) Warum Claudia Roth richtigliegt

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat ein neues, modernisiertes Konzept für die deutsche Erinnerungskultur vorgeschlagen, das neben den bisherigen Schwerpunkten auf nationalsozialistischen Verbrechen und DDR-Diktatur auch die deutsche Kolonial- und Migrationsgeschichte sowie die Demokratiegeschichte Deutschlands einbeziehen soll. Dieser Vorschlag hat heftige Kritik, besonders von bestehenden Gedenkstätten, ausgelöst. Kritiker befürchten eine Unterfinanzierung vorhandener Gedenkstätten und eine Relativierung der NS-Verbrechen. Historiker und Experten, die in den neu hinzukommenden Erinnerungsbereichen arbeiten, wurden in der Debatte bislang wenig gehört. Claudia Roth wird vorgeworfen, einen wichtigen und notwendigen Prozess ohne umfassenden und transparenten Konsultationsprozess angestoßen zu haben, was als schwerer handwerklicher Fehler gesehen wird. Das Konzept soll jedoch nicht nur auf finanzieller Ebene sondern auch in der inhaltlichen Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur eine bedeutende Neuerung darstellen, indem es die Erfahrungen von Migranten und die Geschichte des deutschen Kolonialismus in den Fokus rückt. Es gibt Bedenken, dass dies zu einer finanziellen und inhaltlichen Konkurrenz zu etablierten Erinnerungen führen könnte, was jedoch von Befürwortern des Konzepts bestritten wird. Einige Kritiker befürchten, dass die neue Ausrichtung der Erinnerungskultur die Aufarbeitung und Würdigung des Holocausts gefährden könnte, was jedoch von Roth und anderen Befürwortern zurückgewiesen wird, indem sie auf die Notwendigkeit hinweisen, eine inklusive und zeitgemäße Erinnerungskultur zu schaffen, die auch den historischen Erfahrungen von Migranten und kolonialen Verbrechen gerecht wird. (Jürgen Zimmerer, Spiegel)

Ich denke ebenfalls, dass Roths Initiative richtig ist. Zimmerer betont wenig überraschend positiv die Einbindung der Kolonial- und Migrationsgeschichte, aber der verlangte Fokus auf Demokratiegeschichte ist für mich ebenfalls wichtig. Deutsche Erinnerungskultur ist aktuell doppelt negativ: einmal der Holocaust und die NS-Vergangenheit, andererseits die DDR-Diktatur. Letztere wird oft von einem hohlen Triumphalismus begleitet, der eine Art "Ende der Geschichte" für die Bundesrepublik zu postulieren versucht. Aber eine Rückbesinnung auf positive, demokratische Aspekte der deutschen Geschichte ist für mich gerade auch vor dem Hintergrund der Versuche der AfD, die NS-Diktatur zum "Fliegenschiss" zu erklären und eine positive Erzählung für sich zu reklamieren, dringend geboten. Ich sehe in Roths Ansatz Echos von Hedwig Richters "Demokratie - Eine deutsche Affäre" (hier rezensiert), und die Widerlegung der Kritiker*innen gegenüber diesem Ansatz, die Zimmerer in dem Artikel vornimmt, halte ich unabhängig davon, wie man zu Roths Konzept steht, für völlig zutreffend.

3) The Price We Pay for Having Upper-Class Legislators

Seit 2021 gab es in den USA verstärkte Bestrebungen, die Gesetze zum Schutz von Minderjährigen bei der Arbeit zu lockern. Laut dem Economic Policy Institute haben 28 Bundesstaaten Vorschläge eingebracht, von denen 12 Gesetze verabschiedet wurden, die unter anderem längere Arbeitszeiten für Minderjährige erlauben. Diese Entwicklung wird hauptsächlich von republikanischen Gesetzgebern vorangetrieben und spiegelt eine konservative Agenda wider. Eine Studie zeigt, dass nur 1,6% der Staatsgesetzgeber aus der Arbeiterklasse stammen, während etwa 50% der US-Arbeitskräfte in solchen Berufen tätig sind. Die meisten Staatsparlamente sind Teilzeitinstitutionen mit niedriger Bezahlung, was es Arbeitern schwer macht, ohne finanzielle Einbußen politisch aktiv zu sein. Die aktuelle politische Struktur und der Mangel an Vertretung der Arbeiterklasse führen zu einer Gesetzgebung, die oft nicht die Interessen der breiten Bevölkerung widerspiegelt. Es besteht Bedarf an Reformen, um die politische Teilhabe und Repräsentation zu verbessern. (Jamelle Bouie, New York Times)

Bouie hat vollkommen Recht mit seiner Analyse. Deswegen bekämpften Konservative ja auch stets Diäten für Abgeordnete und polemisieren bis heute gerne gegen den "Berufspolitiker". Die Struktur einer Honoratiorenpartei ist für diese politische Richtung wesentlich angenehmer. Interessant ist in diesem Zug auch die Rolle des Mehrheitswahlrechts, das es wesentlich schwieriger macht, ohne die entsprechenden Ressourcen gewählt zu werden; da ist eine Listenwahl WESENTLICH besser. Mich stört auch wahnsinnig, wie viele Leute das nicht zu verstehen scheinen, auch professionelle Beobachtende nicht. Die populistische Kritik daran, dass Leute hauptberuflich Politiker*in sind, war schon immer auf rein sachlicher Ebene bescheuert (weil diese Professionalisierung eigentlich ja bezüglich der Kompetenz der Leute gut ist!), macht aber auch demokratietheoretisch überhaupt keinen Sinn. Gleichzeitig wird sie aber immer als besonders demokratisch verkauft.

4) Auch Worte verletzen Kinderseelen tief

Körperliche Strafen in der Erziehung, wie Ohrfeigen oder härtere Maßnahmen, werden von einem signifikanten Anteil der Bevölkerung noch immer als akzeptabel angesehen, obwohl ihre Schädlichkeit wissenschaftlich belegt ist. Besonders Personen, die in ihrer Kindheit selbst solche Gewalt erfahren haben, neigen dazu, diese Praktiken fortzusetzen. Dies zeigt eine Studie der Universitätsklinik Ulm. Darüber hinaus rückt die emotionale Gewalt zunehmend in den Fokus der Forschung. Geringschätzige Bemerkungen oder demotivierendes Feedback können ebenfalls tiefgreifende psychische Schäden verursachen. Der Deutsche Kinderschutzbund und Wissenschaftler betonen die subtile und oft nicht sichtbare Natur emotionaler Gewalt, die in alltäglichen Situationen wie Sportvereinen oder im familiären Umfeld stattfindet. Sabine Andresen und Tobias Hecker heben hervor, dass auch emotionale Gewalt langfristige negative Auswirkungen wie Depressionen oder Ängste nach sich ziehen kann. Die Notwendigkeit einer bewussten und reflektierten Erziehungshaltung wird betont, um solche schädlichen Einflüsse zu vermeiden. (Mark Herwig, NTV)

Wir haben vor längerer Zeit einmal im Zusammenhang mit Tassilo Peters darüber gesprochen, dass Gewalt in der Erziehung auch jenseits von Körperstrafen leider sehr häufig ist. Man kann über die Sinnhaftigkeit dieser Ausweitung des Gewaltbegriffs diskutieren und von mir aus auch andere Begriffe verwenden (ich kenne allerdings eine gute Alternative); das Konzept selbst scheint mir aber völlig unbestreitbar. Verbale und psychische Gewalt haben schwerwiegende Auswirkungen, und wir Erwachsenen wissen oft gar nicht, was wir mit unseren Bemerkungen anrichten. Ich stelle das gerade immer wieder an mir selbst fest. Genauso wie Kinder, die Gewalt erlebt haben, Gewalt an ihren Kindern reproduzieren, so reproduzieren wir Verhaltensmuster unserer Eltern an unseren Kindern. Es ist ein furchtbarer Zyklus, in dem wir die Sünden unserer Eltern an unsere Kinder übertragen, indem wir sie wiederholen. Andere Eltern kennen das vermutlich auch: das "ich mache das mal anders" weicht allzu oft der Erkenntnis, dass man genau das tut, was man an den eigenen Eltern schrecklich fand. Warum ist die menschliche Psyche so?

5) Von Arbeit und Moral

Der 1. Mai, als internationaler Kampftag der Arbeiterklasse bekannt, symbolisiert den Stolz und das Pathos der Arbeit, das tief in den Traditionen der Handwerker- und Facharbeitermilieus verwurzelt ist. Dieser Tag erinnert an den Wert harter Arbeit und die Forderung nach einem gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, welcher durch die Arbeitskraft der Arbeiterklasse geschaffen wird. Historisch gesehen wurde Arbeit als einziger Weg zu Respekt und Einkommen betrachtet, und es wurde ein Anrecht auf faire Löhne und Anerkennung eingefordert. Heute allerdings wird die Arbeitsethik oft missbraucht, um soziale Spaltungen zu fördern, indem zum Beispiel Angestellte gegen Empfänger von Sozialleistungen ausgespielt werden. Dies zeigt sich in Debatten um das Bürgergeld, wo Arme oft als motivationslos dargestellt werden. Die rhetorische Vereinnahmung des Arbeitsbegriffs durch konservative und rechtsextreme Gruppen dient dabei der Delegitimierung des Wohlfahrtsstaates. Die moderne Arbeitswelt und ihre Herausforderungen sind vielschichtig. Trotz der ökonomischen Fortschritte und gestiegenen Anerkennung, fühlen sich viele Arbeiter austauschbar und unterbewertet. Diese Unsicherheit und die zunehmende Individualisierung führen zu einem Rückzug ins Private und zu einem Anstieg des depressiven Individualismus in unteren sozialen Schichten. Politische Bewegungen und die Europäische Union haben jedoch begonnen, auf diese Veränderungen zu reagieren, indem sie Mindestlohnrichtlinien einführen und die Tarifbindung stärken. Diese Entwicklungen zielen darauf ab, die Bedingungen für die Arbeiterklasse zu verbessern und ihnen eine stärkere Stimme und Sicherheit in der modernen Arbeitswelt zu geben. (Robert Misik, taz)

Wir haben gerade ja einmal mehr die große "Debatte" um Arbeitszeiten und Arbeitskultur, die letztlich vor allem das Wiederkäuen irgendwelcher moralischer Standpunkte ist. Die Vorstellung, dass "die Deutschen" gerade irgendwie zu faul seien und dringend mal wieder in die Hände spucken müssen, um das Bruttosozialprodukt zu steigern, ist kaum totzukriegen. Ich halte von dieser Idee nicht viel, aber die moralisierende Forderung, dass (natürlich andere) mehr arbeiten müssten (man selbst arbeitet ja bereits hart), erschallt in letzter Zeit besonders aus konservativen Kreisen. Neu ist daran nichts, und an und für sich wäre es auch nicht ernstzunehmen, wenn es nicht reale Folgen in der Arbeitsmarkpolitik hätte, wo diese ideologischen Versatzstücke die Lebensrealität von Millionen Menschen betreffen.

Die von Misik besprochene Überhöhung von Erwerbsarbeit durch Linke ist denke ich auch ein guter Punkt für die stetige Frage nach der Ursache des Abstiegs der Sozialdemokratie: Der "Abschied vom Malocher" hat dazu geführt, dass die Identitätsbindung daran abgenommen hat. Der Dienstleistungssektor hat nie dieselbe identitäre Bindungskraft entwickelt wie der industrielle, weswegen diese Rufe nach "mehr Arbeit" und "härter Arbeiten" da auch nicht so gut funktionieren.

Die genau entgegengesetzte Kolumne findet sich im Spiegel von Henrik Müller, der in das Horn des mehr Arbeitens bläst.

Resterampe

a) Porträt von Serap Güler.

b) Sehr guter Artikel zu den Campusprotesten in den USA. Siehe dazu auch Vox.

c) Germany should get serious on de-risking. Werden wir aber nicht.

d) Die Hybride scheinen eine weitere Sackgasse zu sein, mit viel Tramtram, Lobbyarbeit und Subventionen.

e) Lesenswerter Essay zur Geschichte der Zwischenkriegszeit.

f) The Trumpification of the Supreme Court. SKOTUS, Supreme Kangoroos of the United States.

g) Auch ein blindes Aiwanger findet einmal ein Korn.

h) Ernährung am Existenzminimum.

i) Musks Businessstrategie ist weird.

j) How The Phantom Menace Predicted Hollywood’s Prequel Future.

k) Giving poor people money helps them find homes. Einmal mehr.

l) AI is going to replace low-wage workers. Jepp, viel zu wenig diskutiert.

m) Auch bei der Cicero gilt: Cancel Culture ist immer nur, wenn es die anderen machen.

n) Rechtschreibung in der Schule, Philologen gekonnt am Thema vorbei.


Fertiggestellt am

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