Jubiläum: Mehr noch als Richard Wagner war Anton Bruckner die disruptive Figur der abendländischen Musikkultur.

Die Kunst entsteigt dem Numinosen, und diffundiert wieder ins Numinose. Das war das Schicksal aller Kulturepochen. Versuchten die Komponisten der frühen Vokalpolyphonie Guillaume de Machaut und Josquin Desprez aus der Welt der Töne noch vor allem die göttliche Ordnung im Wesen aller Phänomene zu erlauschen, nahmen mit zunehmender Säkularisierung die die Menschen die Musik zunehmend in ihren Besitz, um in ihr die eigenen Empfindungswelten widerzuspiegeln. Johann Sebastian Bach bildete in gewisser Weise den Scheitelpunkt dieser Entwicklung, als die religiös numinosen Elemente mit den handwerklich exploitativen Elementen ein Equilibrium ergaben.

Anton Bruckner markiert die Rückkehr des Numinosen. Und leitete damit gleichzeitig das Ende der abendländischen Musikepoche ein. Denn diese Widerkehr des Numinosen stand unter neuen Vorzeichen. Es war eine von Goethe und Beethoven inspirierte Selbstsetzung und Selbstvergöttlichung, die sich hier Bahn brach, und, erfüllt von angehäufter artistischer und ästhetischer Potenz einer langen Tradition, neuartige babylonische Türme baute, um aus eigener Kraft den Himmel und das Göttliche zu berühren.

Persönlichkeit als Katalysator

Bruckners eigentümliche Persönlichkeit spielte dabei eine zentrale Rolle. Für viele Zeitgenossen Bruckners, ebenso wie zahlreiche Biographen und Feuilletonisten, war die Person Anton Bruckner schon immer Anlass zur Verlegenheit. Etwas, das man entweder vornehm beschwieg, oder mit einer dichotomischen Bemerkung, dass man Mensch und Künstler trennen müsse, in den Hintergrund drängte.

Tatsächlich gibt es über Bruckners Wunderlichkeit zahlreiche Anekdoten. Die, mal Hans von Bülow mal Gustav Mahler zugeschriebene, Bemerkung Bruckner sei „halb Genie, halb Trottel“, die zahlreichen gutgemeinten Ratschläge seiner Freunde in Bezug auf seine Garderobe und seine Umgangsformen, die immer wiederkehrenden peinliche Vorkommnisse in seinem Berufs- und Privatleben, all dies verweist auf signifikante Defizite im Sozialverhalten.

Ebenso überliefert sind sein Abzählzwang - von Pflastersteinen, Kirchtürmen oder ähnlichem - sowie andere zwanghafte und neurotische Verhaltensweisen. Bei einer Begegnung mit Richard Wagner in München soll er, als Wagners „Parsifal“ am Klavier vorgeführt wurde, die Musik mit permanenten musikologischen Analysen begleitet haben, bis ihn der Meister sanft aber bestimmt zum Schweigen brachte.

Inzwischen ist man sich ziemlich sicher, dass Bruckner wohl eine autistische Veranlagung hatte, für die eben diese Art von Symptomen charakteristisch ist. Doch weil man diese Merkmale immer eher als Sonderlichkeit denn als Krankheit betrachtet hatte, wurden sie eigentlich nie als ästhetisch und künstlerisch signifikant in Erwägung gezogen. Anders als bei Friedrich Nietzsche, bei dem Thomas Mann in den enthemmenden Symptomen der Syphilis einen zentralen Faktor für dessen epochale Ausstrahlung sah.

Rückblickend kommt man nicht umhin, doch einen Zusammenhang zwischen diesen spezifischen Persönlichkeits-Merkmalen einer sozialen Entkoppelung und tunnelhaften Wahrnehmung auch in seiner völlig eigentümlichen Ästhetik wiederzuerkennen. Nicht zuletzt lag darin etwas fremdartig Monolithisches, ein Element von transformativer Querständigkeit, das das Ende der abendländischen Musikkultur katalytisch in Bewegung gesetzt hat.

Neurose und Apotheose

Auch wenn Bruckner eine ganze Reihe durchaus bemerkenswerter kirchenmusikalischer Werke geschrieben hat, würde wohl niemand in Frage stellen, dass sich sein Werk vor allem in seinen neun Sinfonien verdichtet. Diese Form war Bruckners einsame Insel, auf der er seine künstlerische Begabung entwickeln und entfalten konnte. Und natürlich waren es die neun Sinfonien Ludwig van Beethovens, die den Ausgangs- und Fixpunkt bildeten für Bruckners obsessive Beschäftigung.

Namentlich Beethovens 9. Sinfonie bildet den Nukleus, von dem er ausging und zu dem er neurotisch immer und immer wieder zurückkehrt. Nicht nur die fanfarenartigen punktierten Quarten und Quinten kehren immer und immer wieder, auch die absteigenden Bässe der Coda des ersten Satzes tauchen in unzähligen Iterationen in zahlreichen Sinfonien auf. Das Sonatensatzmodell dieses Satzes ist die Grundlage praktisch aller Außensätze bei Bruckner, wie das Scherzo im ¾ Takt und das hymnischen Adagio das Modell für fast alle Binnensätze bilden.

Es ist kaum verwunderlich, dass Bruckners Sinfonien oft eine gewisse Schablonenhaftigkeit vorgeworfen wurde, können sie doch Merkmale eines Baukastenprinzips nicht gänzlich verleugnen. Doch wie so oft bei bedeutender Kunst liegt in den vermeintlichen Fehlern gleichzeitig das Merkmal ihrer Exzeptionalität. Denn die Kavernen von Bruckners engen Höhlenlabyrinthen bilden gleichzeitig die Resonanzwälle für den immersiven Sog seiner Musik.

Eng damit verknüpft ist die Idee der Apotheose, dem gleißenden Licht am Ende des Tunnels. Nicht nur haben praktisch alle Final-Sätze diese Intention eines krönenden Endes (mag es auch nicht immer in gleichem Maße gelingen), auch die Sukzession hin zu seiner eigenen 9. Sinfonie trägt dieses Prinzip der permanenten Steigerung in sich. Was man schon an der Äußerlichkeit ablesen kann, dass die 7. Sinfonie dem bayerischen König, die 8. dem österreichischen Kaiser und die 9. dem lieben Gott gewidmet ist.

Brahms und die Form

Die Aversion von Johannes Brahms gegenüber Anton Bruckner ist in diesem Kontext durchaus bezeichnend. Während Brahms etwa Richard Wagner, namentlich dessen „Meistersinger“, durchaus ehrliche Bewunderung entgegen brachte, löste Bruckner bei ihm regelrechte Allergien aus. Und das nicht ohne Grund.

Joseph Haydn, der in gewisser Weise die Kantianische Figur der Musikgeschichte war, hatte mit der Sinfonie das zentrale Vehikel der bürgerlichen Musikkultur erschaffen. Das formale Prinzip der Sonatensatzform symbolisiert im produktiven Umgang mit widerstreitenden Kräften zu einer versöhnenden Synthese die Idee einer sich im kategorischen Imperativ selbst regulierenden, immer weiter vervollkommnenden Gesellschaft. Gleichzeitig stand das Orchester mit seinen heterogenen Klangfarben für eine Gesellschaft, in der jedes Element seinen Kräften gemäß der gemeinsamen Sache dient.

In der Epoche der Romantik mit seiner zunehmenden Individualisierung und Emotionalisierung wurde diese Synthese immer schieriger. Bei Mendelssohn droht das Equilibrium in apollinischer Blässe, bei Schumann in dionysische Verkrampfung zu kippen. Die epochale Leistung von Johannes Brahms war es, durch Intelligenz und moralische Selbstbeschränkung noch einmal jenes magische Gleichgewicht, jenen gesellschaftlichen Konsens, wiederherzustellen.

Diese Idee von formaler Synthese als ethische Leistung spielt für Anton Bruckner überhaupt keine Rolle mehr. Und genau das war es, was Brahms so tief kränkte und irritierte. Er spürte instinktiv, dass damit ein Band der Tradition zerschnitten wurde und die Musik als kulturbildendes Phänomen damit ihrer allmählichen Auflösung entgegen gehen würde.

Das bedeutet nicht, dass Bruckners Musik formlos wäre. Die Sinfonien sind sehr wohl durchaus streng geordnet, doch kommt diese Ordnung nicht mehr von innen sondern wird von außen appliziert. Hier kommt Bruckners dissoziative Veranlagung ins Spiel, die eben für jene gesellschaftlichen Aspekte von Form und Kommunikation kein Organ hat. Dass bei der formalen Beschreibung von Bruckners Musik häufig musikfremde Kategorien wie Architektur bemüht werden, verweist auf jenen externalen Aspekt der Formgebung, der stark von Zahlen und Proportionen bestimmt ist.

Darin besteht auch die Brücke zum Numinosen. Die Ordnung kommt aus dem Abstrakten und einer Ahnung des Transzendentalen gleich einer Offenbarung. In Arnold Schönbergs 12-Tontechnik wird diese Idee eines numinos externalen Prinzips seine Vollendung finden.

Wagner und die Harmonik

Neben Beethovens spielte sicher Richard Wagner eine bedeutende Rolle für Bruckners Entwicklung. Vor allem die grandiosen Effekte von Wagners Harmonik und Orchesterbehandlung befruchteten Bruckner ganz entscheidend. Oft ist die Grenze zwischen bewussten Zitaten und unbewussten Anleihen kaum zu ziehen.

Die größte Verwandtschaft mit Wagner besteht darin, dass Bruckner ganz ähnlich primär in harmonischen Progressionen denkt, und Satz und Melos dem nachgelagerte Elemente sind. Praktisch überall bei Bruckner kann man diese Schablone des Choralsatzes hinter aller seiner Musik erkennen.

Doch bleibt der Einfluss Wagners durchaus beschränkt. Gerade der exzessive Chromatismus von „Tristan und Isolde“, der wohl musikhistorisch Wagners größtes modernistisches Vermächtnis war, spielt für Bruckner eigentlich kaum eine Rolle. Was einerseits sicher mit Bruckners religiöser und antihedonistischer Haltung zu tun hat, doch eben darin auch auf jenen Richtungswechsel vom Exploitativen zum Aspirativen verweist.

So gegensätzlich Richard Wagners Ästhetik zu der von Brahms auch ist, auch ihm gelingt es noch, alles der Musik exploitativ neu abgerungene noch vollständig zu amalgamisieren und synthetisieren. Alle harmonischen Exzentrizitäten des Tristan werden am Ende durch den Dominantseptakkord wieder eingefangen. Friedrich Nietzsches Abwendung von Wagner hatte, über die persönlichen Zerwürfnisse hinaus, auch seinen Grund in dieser Erkenntnis, dass Wagner Zerstörungswerk immer unter Vorbehalt blieb und nie die Fundamente des bürgerlichen Konsenses in Frage stellte.

Und so sehr Gustav Mahler, Richard Strauss und Arnold Schönberg zunächst vor allem an Wagners exploitativen Pfad angeknüpften, sie kamen alle an irgendeinem Punkt zur Erkenntnis, dass der Weg nach Vorne am Ende nur über die Zerstörung dieses Konsenses führt, im Aufbruch ins Numinose, den Bruckner vorgezeichnet hat.

Später Durchbruch

Anton Bruckner musste lange auf seinen Durchbruch warten. Einzelne Aufführungen seiner Sinfonien trafen lange Zeit allenfalls auf gemischtes Echo, woran gewiss der renommierte Wiener Kritiker und Brahms-Freund Eduard Hanslick großen Anteil hatte, der mit seiner scharfen Zunge über die Sinfonien herzog. Einige seiner Sinfonien hat Bruckner nie mit Orchester gehört. Die Wende kam erst als Hermann Levi, Uraufführungsdirigent des „Parsifal“, am 10. März 1885 Bruckners 7. Sinfonie in München aufführte. Gewiss nicht zuletzt deswegen, weil man nach dem Tod von Richard Wagner 1883 in Bruckner eine neue Identifikationsfigur zu finden glaubte, auf die man die verwaiste Verehrung richten konnte.

Doch selbst dann tat man sich immer noch schwer mit Bruckner. Trotz des sensationellen Erfolgs der 7. Sinfonie konnte Hermann Levi dann mit der 8. Sinfonie nichts anfangen und drückte sich um eine Aufführung. Auch die 5. Sinfonie hielten die Zeitgenossen zunächst für ein monströses Ungetüm. Es waren vor allem die 3., 4. und 7. Sinfonie, die allmählich Eingang in die Konzertsäle fanden.

Heute zählen seine Sinfonien zu den Säulen des Repertoires. Gerade in ihrer querständigen Idiosynkrasie, die jeder Sinfonie ihre völlig einzigartige Physiognomie und ihr unverwechselbares Relief verleiht, offenbart sich eine ungeheure kreative Potenz, die wie eine furchteinflößende monolithische Präsenz in die abendländische Musikgeschichte hineinragt.