„Bio“ und „Natur“ sind die zentralen Botschaften im Marketing für Nahrungsmittel und auch für Mittel und Methoden der alternativen, komplementären und ganzheitlichen Medizin. Die Vorstellung, dass Produkte mit einem Label „Bio“ oder „Natur“ unter allen Umständen gesund, sicher und ungefährlich sind, ist sehr weit verbreitet. „Bio“ und „Natur“ im Namen stehen für nicht chemisch, nicht technisch und verheißen, in ein gelobtes Land zurück zu führen, wo es noch keine Probleme mit Ernährung und Gesundheit gab. Der Glaube an die guten Eigenschaften von „Bio“ und „Natur“ wurde und wird gezielt mit Bildern eines gesunden und natürlichen Bio-Paradieses erzeugt. Es wird eine nostalgische Sicht auf eine Vergangenheit erweckt, wo alles natürlich und daher gesund war. Eine Nostalgie schlechthin, aber, wie es eben mit Nostalgien so ist, sie sind ein Schein.
Die eigentlichen Bedeutungen von „Bio“ und „Natur“ haben mit den Werbebotschaften nichts gemein. Im Duden ist zur Bedeutungsübersicht für „natürlich“ an erster Stelle nachzulesen: „zur Natur gehörend, in der Natur vorkommend, nicht künstlich vom Menschen nachgebildet, hergestellt“. Unter dem Stichwort „biologisch“ ist zu lesen: „die Biologie betreffend, zu ihr gehörend, auf ihr beruhend“ und weiter „ den Gegenstand der Biologie, die lebendige Natur, Lebensvorgänge und -beschaffenheit, betreffend, dazu gehörend, darauf beruhend, aus natürlichen Stoffen hergestellt, Kurzform: bio“. Die beiden Begriffe sind in ihrer Bedeutung umfangreicher, als hier zitiert. Sie überschneiden sich, sind sehr allgemein und lassen viel Interpretationsspielraum zu. Es ist Konvention wie „natürlich“ und „biologisch“ im jeweiligen Zusammenhang definiert sind. In diesem Sinne war in der Jungsteinzeit alles natürlicher und biologischer als heute. Ob alles gesund war, darf mehr als bezweifelt werden.
Die freie, ungebändigte Natur wurde früher notgedrungen als lebensfeindlich bis lebensbedrohend erlebt. „Natürlich“ wurde mit verderblich, vergänglich, gefährlich etc. assoziiert. Ohne entsprechende Vorkehrungen war kein Überleben gesichert. Man musste sich vor der Natur schützen. Die Natur ist kein heilsamer Streichelzoo. Dieses natürliche Leben war kein Honiglecken. Unser heutiges gesundheitliches Wohlergehen und unsere gestiegene und immer noch steigende Lebenserwartung beruhen darauf, dass es meist erfolgreich gelungen ist, die in aller Regel überwiegend „gesundheitsfeindliche“ Natur abzuwehren. Es ist das ein Verdienst von Aufklärung, Bildung und vor allem der modernen Naturwissenschaften, die auf den Bildungsidealen von Humboldt beruhen.
Diese, aus menschlicher Sicht gesehen, feindliche Seite der Natur ist vollkommen aus dem allgemeinen und auch aus dem Bewusstsein ganzer Berufsgruppen verschwunden. Natur wird zurzeit weder mit für Mensch und Tier lebensbedrohen Seuchen, Krankheiten und Leiden in Verbindung gesehen und wird auch nicht mit Hunger und Nahrungsmangel assoziiert. In der guten alten Zeit war aber mit alledem täglich zu rechnen. Das krankheitsfreie Paradies mit gesunden Lebensmitteln im Überfluss, dieses Schlaraffenland hat es für Mensch und Tier nie gegeben.
Eine Voraussetzung für die Nostalgie, dass früher das Leben, weil es natürlicher zuging, gesünder gewesen sei, ist, dass Leid und Krankheit vergangener Tage unvorstellbar geworden sind. So glaubt man heute, dass in einer guten alten Zeit alles Eitel und Wonne war, weil es noch keine Chemie und Technik gab, die als besondere Übel unserer modernen Zivilisation empfunden werden.
Das Paradies ist eine sehr alte und verbreitete Vorstellung aus der Bibel. Viele andere Vorstellungen, z.B. aus der griechisch römischen Philosophie wurden auch tradiert und werden es immer noch. Sie alle sind in unseren Hinterköpfen bei Entscheidungen und Einschätzungen vor dem Urteilen unterschwellig präsent. Das Bild eines Paradieses, in dem es Krankheiten und Leid nicht gibt, weil die Menschen dort in Harmonie mit der Natur lebten, existiert immer noch und wird von der Werbung gezielt angesprochen. Das religiöse Versprechen eines jenseitigen Paradieses durch Sündenfreiheit und gottgefälliges Leben wurde vom modernen Marketing übernommen und wird hier und jetzt zum Kauf angeboten. Dieses Paradies wird hinter „natürlichen“ und „biologischen“ Produkten gesehen.
Die biologische und natürliche Lebensmittelindustrie verspricht uns beinahe ein diesseitiges Paradies, wenn wir nur sogenannte natürliche und biologische Lebensmittel essen. Dann werden wir noch gesünder, noch freier von Krankheiten sein und länger leben, als die Konsumenten konventioneller Lebensmittel. Der wirtschaftliche Erfolg gibt diesem Konzept Recht. Die Inflation natürlicher, biologischer Lebensmittel ist unübersehbar. Wo immer es opportun ist, wird das Blickfeld mit „Natur- u. „Bio-Bildern“ verstellt. Konventionelle Nahrung wurde zu einer Sünde mit schädlichen Nebenwirkungen wider die Natur.
Werbung und Verpackung von Lebensmitteln vermitteln ein vergoldetes Trugbild. Auf der sonnigen Alm inmitten einer Blumenwiese sitzt auf einer Naturholzbank an einem Naturholztisch, mit kariertem Tischtuch gedeckt, ein kerngesunder Biobauer und streichelt mit seiner Tochter das glückliche Bioschweinchen. Dieser paradiesische Zustand, ist Bio- Kitsch jenseits jeder Realität. Leider fehlt die „Bio-Fee“, die das Bioschweinchen als Bio- Schnitzel mit ihrem Bio-Zauberstab auf die Bio-Teller der verklärten Bio-Konsumenten zaubert. Diese unvermeidliche Arbeit erledigt die moderne Agrar- u. Nahrungsmittelindustrie für alle Lebensmittel gleich und effizient. Die Natur hat nicht das Ziel Nahrung für uns zu erzeugen und bereitzustellen. Ackerbau und Viehzucht gibt es in der Natur nicht. Von der Erntetechnik beginnend bis hin zur Konfektionierung und Verpackung sind für alle Lebensmittel unzählige Arbeitsschritte notwendig. Getreide, Gemüse, Fleisch, Milch, Obst etc. können nur dann täglich unverdorben und preiswert auf den Tisch kommen, wenn sie nach modernsten Richtlinien und Verfahren verarbeitet werden. Dabei ist eine Unzahl von Faktoren zu beachten. Unser heutiger Standard ist das Ergebnis jahrhundertlanger Erfahrungen. Der Liefer-LKW ist das einzige, das die Verbraucher gelegentlich sehen. Mit der vielbeschworenen Natur, karierten Tischtüchern, Naturholzbänken u.-tischen, Almen und Blumenwiesen und einem bärtigen Senner hat die moderne und notwendige Verarbeitung wenig zu tun.
In der sogenannten alternativen, komplementären und ganzheitlichen Medizin passiert das Gleiche. Auch hier ist Naturnostalgie Basis einer Verheißung. Nur mit natürlichen und biologischen Mitteln und Methoden könnten Krankheiten wirklich verhindert und geheilt werden. Der konventionellen Medizin wird unterstellt, zu wenig zu wissen, um heilen zu können. Sie sei eben nicht natürlich, sondern künstlich, chemisch, technisch usw., verkünden die Anhänger und Anhängerinnen alternativer Medizin und Ernährung nicht selten mit quasireligiösem zelotischem Eifer.
Trotz und gerade wegen aller Erfolge versprach die moderne Medizin niemals alles heilen zu können. Die Möglichkeiten der konventionellen Medizin sind begrenzt. Dieser Realismus enttäuscht so sehr, dass der modernen Medizin generelles Unvermögen vorgeworfen wird. Sie wird noch immer mit dem Begriff Schulmedizin gezielt als unpraktisch und weltfremd (ab)gewertet. Der Homöopath Franz Fischer machte diesen Begriff 1876 in diesem Sinn populär.
Wir diskutieren ausgehend vom heutigen allgemeinen Lebensstandard über Gesundheit und Ernährung. Wohlgemerkt, lebensgefährliche und gesundheitsbedrohliche Zustände der Vergangenheit sind keine Rechtfertigung für heute vermeidbare Risiken und mögliche unerwünschte Wirkungen. Trotz allem aber muss man sich immer vor Augen halten, dass Wohlergehen und gesunde Ernährung noch nie so selbstverständlich waren wie heute.
Wenn aber Erinnerungen an Krankheit und Leid vergangener Zeiten verblasst bzw. nicht mehr vorhanden sind, können auch Methoden und Mittel einer alternativen, komplementären und ganzheitlichen Medizin boomen, obwohl es mit Wirkungsnachweisen hapert. Probleme mit unerwünschten Wirkungen (Nebenwirkungen) oder Risiken gibt es in diesem Wunderland der Medizin nicht. Hoffenden und Verzweifelten konnte schon immer (fast) alles versprochen und teuer verkauft werden.
Im Gegensatz zu den scheinbar zweifelhaften Segnungen der Zivilisation und der modernen Medizin ist auch hier endlich alles auch wieder so natürlich, biologisch und sinnvoll wie früher. Die Natur wurde ja für den Menschen geschaffen und der liebe Gott ließ für jede Krankheit ein Kräutlein wachsen. Diese „Natur“ zu verstehen und zu nützen, ist eines der Markenzeichen von Heil(s)praktikern, Homöopathen und diversen anderen alternativen, komplementären und ganzheitlichen Medizinern. Im Gegensatz zu „wissenschaftlich verbildeten“ Medizinern könnten sie dieses Traumziel, dieses verlorene Paradies realisieren, aber ihr Beitrag zu unserem heutigen Wissenstand in Medizin und Biologie tendiert gegen null. Der vergleichsweise leidfreie Zustand von heute wurde durch Aufklärung und moderne Naturwissenschaft erreicht und nicht etwa durch Homöopathie und andere Unsinnigkeiten.
Der biblische Schöpfungsmythos, nach dem der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen wurde, ist eine zutiefst menschliche Geschichte. Die Schöpfungsgeschichte gibt unserem Leben Zweck und Sinn. Darwin hat diese Sichtweise überwunden und wurde deswegen auch entsprechend bekämpft, aber noch immer wollen wir nicht Ergebnis einer Evolution, eines ziel- u. sinnlosen Prozesses sein. Eine ziellose Welt widerstrebt unseren Gefühlen zutiefst, weil wir einen Sinn erwarten. Diese Erwartungshaltung ist das Ergebnis der Evolution. Wir haben nie in einem Paradies gelebt, das nach dem Sündenfall verlassen werden musste, aber nach wie vor träumen wir von diesem Paradies. Heute wird es uns mit „natürlich“ und „biologisch“ teuer verkauft. Der Natur- und Bioglaube hat seinen Preis. E. Berndt