Egal auf welcher politischen Seite man steht, so ziemlich jeder stimmt der Auffassung zu, dass die EU reformbedürftig ist. Wie genau diese Reformen aussehen sollen und welche Ziele ihre Advokaten verfolgen, unterscheidet sich jedoch teils deutlich.
Dabei ist die EU an sich gar nicht schlecht. Der freie Verkehr von Personen und Waren innerhalb von Schengen hat nachweislich zu einer gewaltigen Wohlstandssteigerung aller Mitgliedstaaten geführt. Gleichzeitig kann nicht geleugnet werden, dass die stärkere wirtschaftliche und auch politische Verflechtung der Mitgliedstaaten zu einer zuvor nie gekannten Periode des Friedens geführt hat. Das liberale Programm von Frieden und Freihandel wurde in der EU tatsächlich zu einem großen Teil umgesetzt.
Jedoch, wie es stets der Fall ist, wurde auch die EU nicht ohne Fehler erbaut. Es fängt bei der undemokratischen Konzeption des EU-Rats und dem im Vergleich relativ machtlosen Parlament an, erstreckt sich weiter über Fehlschläge wie den Euro und endet in der heute offensichtlichen Planungs- und Regulationsbestie.
Eine kurze Würdigung
Allerdings kann keine gute Kritik mit den schlechten Punkten beginnen, daher wollen wir hier noch einmal die positiven Entwicklungen der EU gesondert herausstellen.
Niemand kann die Wohlstandssteigerung im EU-Raum leugnen. Die Umsetzung der Ideen alter Liberaler wie David Ricardo und Adam Smith: Freihandel und freier Personenverkehr – kurzum: die Etablierung des europäischen Binnenmarktes – haben unwiderlegbar die Lebensumstände der Menschen verbessert.
Ein Beispiel: Im Jahr 1948 lag die mittlere Lebenserwartung in Schweden bei knapp 71 Jahren, das BIP pro Kopf lag bei ca. $12.000. Im Jahr 2018 lag die mittlere Lebenserwartung bereits bei ca. 84 Jahren und das BIP pro Kopf lag bei bemerkenswerten $54.500.
In knapp 50 Jahren wurde eine unglaubliche Verbesserung der Lebensumstände von Millionen von Menschen erreicht; ein größtenteils europäischer Verdienst. Der neu gefundene Frieden nach den beiden Weltkriegen, die Etablierung von Freihandel und Marktwirtschaft als grundlegende Prinzipien der EU und ihrer Vorgänger und das florieren der innereuropäischen Arbeitsteilung hat uns einen nie zuvor gekannten Wohlstand gebracht.
Und der eben erwähnte Frieden ist ein zweiter europäischer Verdienst: Wirtschaftliche Verflechtung, die Ausdehnung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und auch die stärkere politische Integration waren bislang ein Segen sondergleichen. Für eine Zeit lang sah es so aus, als ob die Ideen großer Liberaler wie Friedrich Hayek und Ludwig von Mises tatsächlich praktische Anwendung fanden.
Jedoch, wie wir heute wissen, war all das nicht von Dauer. Die EU hat sich verändert. Es gab ein Umdenken in Brüssel. Am meisten leiden darunter die Prinzipien, die die EU einst groß gemacht haben. Immer häufiger schwingt sich die EU zum Retter der Menschheit auf; kein Thema zu unwichtig, dass es nicht von Brüssel durchreguliert wird.
Und eine längere Kritik
So wurde das Prinzip der Marktwirtschaft offenbar ad acta gelegt, immer häufiger tritt die EU tritt im Stil eines zentralen Planungskomitees auf. In Brüssel meint man es selbstverständlich nur gut mit uns, deswegen werden die Krümmung von Bananen reguliert, Mentholzigaretten und Plastikbesteck verboten, das Urheberrecht unter andauerndem Lobbydruck zum Nachteil von Kreativen und Konsumenten reformiert und vermutlich auch bald ein Vermögensregister eingeführt. Was soll da schon schief gehen?
Die EZB mutiert derweil zu einer Gelddruckmaschine, aus deren Augen jedes Problem durch etliche neue Milliarden gelöst werden kann. Und die EZB würde nicht mit der Zeit gehen, würde sie ihr eng definiertes Mandat (Preisstabilität) nicht in Zeichen des Klimawandels neu deuten. So möchte EZB-Präsidentin Lagarde – womöglich eine der monumentalsten Fehlbesetzungen der letzten 50 Jahre – schon seit Jahren “Green Bonds” einführen, kurzum: eine Neuausrichtung der Geldpolitik mit unbekannten Folgen für die finanzielle Stabilität des Euroraums.
Der nie endende Geldfluss und die planwirtschaftlichen Ambitionen der EU können die Konsequenzen ihrer Politik jedoch inzwischen nicht mehr verdecken, und dennoch scheint die Politik nicht von diesem Kurs in den Abgrund abweichen zu wollen. Im Gegenteil: ‘More of the same’ scheint die Devise der EU-Politik zu sein. Anstatt zu reflektieren und die eigenen Methoden zu hinterfragen, wird Scheitern schlichtweg auf externe Faktoren abgewälzt oder als ‘wir haben es nicht hart genug versucht’ gerechtfertigt. Hauptsache: Nicht die Schuld in der eigenen Politik suchen.
Die Probleme, die diese Politik mit sich bringt, sind mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Ich möchte das an ein paar Beispielen verdeutlichen:
Ein Thema, das auf deutscher und europäischer Ebene stets große Relevanz innehat ist Ungleichheit. Während sich die EU anfangs für jedes Mitglied vorteilhaft zeigte, hat sich das mit der Einführung des Euros gewandelt. Der Euro als politisches Projekt ist gescheitert: Er trägt zur positiven Entwicklung der Mitgliedsstaaten kaum bei und treibt die wirtschaftliche Ungleichheit weiter voran:
»Die Wirtschaften der Mitgliedsländer haben sich zunehmend auseinanderentwickelt. Starke Länder – weil produktiver und innovativer – werden immer stärker, schwache immer schwächer, so der Befund des Internationalen Währungsfonds« – Dr. Daniel Stelter
Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung nur verstärkt. Je niedriger das BIP pro Kopf, desto stärker der BIP-Rückgang des jeweiligen Landes. Das Problem: Der Euro kann nicht ohne mindestens ebenso gravierende wirtschaftliche Einbußen wieder abgeschafft werden. Kurzum: Der Euro trägt nicht zu einer positiven Entwicklung der europäischen Währungsunion bei, lässt sich ohne starke wirtschaftliche Einbrüche jedoch auch nicht mehr abschaffen. Die EU als ganzes würde eine solche Rezession womöglich nicht überleben. Einer Analyse der Deutschen Bank zufolge, würde sich das auch auf die internationalen Finanzmärkte auswirken; eine monetäre Kernschmelze.
Im Zuge der steigenden Ungerechtigkeiten schlagen immer mehr Politiker eine Schulden- und Transferunion vor. Der Plan dahinter ist, dass so die starken Länder die Verluste der schwachen ausgleichen können. Auch hier verbirgt sich ein fauler Kompromiss: Die im Vergleich ärmere Bevölkerung von Deutschland, den Niederlanden und Österreich soll die deutlich Reicheren in Italien, Spanien und Frankreich unterstützen.
Die Aufzählung mag verwundern, ist aber nicht sonderlich verwunderlich: Der deutsche Staat ist reich, seine Bevölkerung relativ gesehen arm. Beim italienischen Staat ist dies genau anders herum. Die Löcher im Staatshaushalt der armen Länder könnten über Steuererhöhungen in ebendiesen genauso geschlossen werden, wie durch eine Transferunion, die letztlich von Hochsteuerländern in Niedrigsteuerländer umverteilt.
»So kann es sein, dass mit den EU-Transfers (beziehungsweise den subventionierten Krediten) schlecht ausgestaltete Wohlfahrtsprogramme finanziert werden, die zum fortdauern der Krise beitragen.« – Fabrizio Zilibotti
In Deutschland selbst haben wir mit dem Länderfinanzausgleich bereits genügend Negativfolgen eines solchen Umverteilungsmechanismus miterlebt. Nur statt dass Bayern die Politik Berlins finanziert, wird das dann Deutschland mit Italien oder Frankreich machen.
Die planwirtschaftlich anmutende EU-Wirtschaftspolitik tut dem ihr übriges: Die angepeilten Produktivitätsziele werden Jahr um Jahr verfehlt, die Außenwirtschaftspolitik beschränkt sich vornehmlich auf Protektionismus und der Wettbewerb (zwischen den Ländern) wird immer stärker eingeschränkt. Wettbewerb und Marktwirtschaft, der kreative Ideenwettstreit der Unternehmer untereinander, wurde zugunsten von Regulierungen und Mikromanagement aufgegeben.
Ein weiteres Problem verbirgt sich im grundsätzlichen Aufbau der europäischen Institutionen. Die letzten Jahrzehnte sahen eine stetig zunehmende Zentralisierung von Aufgaben; weg von den Nationalstaaten und hin zur EU. Diese Entwicklung ging nicht mit einer zunehmenden Demokratisierung dieser Institutionen einher. So wird die Politik der EU weitestgehend vom Rat bestimmt, das Parlament hat keine Kompetenz zur eigenen Gesetzesinitiative. Außerdem kann es nicht sein, dass die Stimmen der einzelnen Bürger unterschiedliches Gewicht haben. Vom liberalen Ideal der Gleichberechtigung ist das meilenweit entfernt. In dem Sinne ist es gradezu paradox, dass Deutschland bei vielen Reformen auf der Bremse steht, müsste es doch selbst die Privilegien für wirkliche Reformen nutzen.
Doch genau das passiert nicht. Der bürokratische Apparat der EU ist in dem Sinne ein perfektes Beispiel für das von Milton Friedman beschriebene “Eiserne Dreieck”: Politiker, Interessensgruppen und Bürokraten die zusammen jede Reform verhindern. Dennoch müssen wir uns der Frage annehmen, ob und wie die gegenwärtigen Probleme überwunden werden können.
Viele Wege in die falsche Richtung
Die wohl wichtigste Regel der Politik hat der Ökonom Thomas Sowell einst treffend formuliert:
»Es gibt keine Lösungen, sondern nur Kompromisse«
Diese unglückselige Wahrheit sollte uns bei der Analyse sozialer Phänomene stets im Hinterkopf begleiten. Unsere soziale Welt ist zu komplex, um “kostenlose” Gewinne zu realisieren. Jede Handlung hat Konsequenzen, Politik insbesondere hat stets zwei Seiten derselben Medaille.
Die oben angesprochene Transferunion ist dafür ein Beispiel: Die maroden Sozialsysteme der südeuropäischen Länder werden durch Transferleistungen aufrechterhalten anstatt durch Besteuerung der lokalen Bevölkerung und Budgetrestriktionen Reformen zu incentivieren.
Politiker sind sehr fähig darin, ihre eigenen Probleme und Fehlschläge zur Erweiterung ihrer Macht zu nutzen. Wenn eine Policy fehlgeschlagen ist, dann liegt das eben nicht daran, dass die Policy ungewollte Nebenwirkungen mit sich bringt, sondern dass die eigenen Befugnisse zur Erreichung des Ziels schlichtweg nicht ausgereicht haben. Das vereinfacht auch die Rechtfertigung des eigenen Versagens vor den Wählern. Staaten sind inhärent expansive Konstrukte, die sich zwecks des Erwerbs politischer Mehrheiten in immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens einmischen. Allerdings hat diese Ausweitung der Machtbefugnisse der Politik einen hohen Preis:
»Die bittere Wahrheit lautet, Parteiapparate sind käuflich.« – Ralf Dahrendorf
Es ist kein Geheimnis, dass Korruption in der EU keine Seltenheit ist. Aber selbstverständlich hat nicht jede Machtausweitung der EU bisher schlechte Ergebnisse hervorgebracht. Sicherlich mag es stimmen, dass einige Regulierungen der EU vernachlässigbare Nebenwirkungen haben, jedoch sind Institutionen nicht dafür da, dass “die Weisen” oder “die Experten” tun können was “richtig” oder “notwendig” ist. Wir nehmen die Nachteile der Machtbeschränkung der Politik in Kauf, damit wir die Probleme und Gefahren des Machtmissbrauchs verringern.
Behalten wir das im Hinterkopf, kann eine weitere Zentralisierung der politischen Entscheidungen kein guter Kompromiss sein. Die selben Politiker, die jetzt an der Macht sind, werden die derzeitigen Probleme nicht in den Griff bekommen, wenn wir ihnen mehr Macht zugestehen. Dennoch gibt es genügend Parteien, deren politische Programme eben das fordern. Einige gehen sogar so weit, einen EU-Bundesstaat zu fordern. Selbstverständlich ist auch diese Idee nicht ohne Probleme:
»Indes, wenn wir die dritte dieser Fragen [über den Inhalt von Demokratie] betrachten – die Frage, wie das Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen kann – erkennen wir rasch, dass sie auf die EU gar nicht übertragbar ist, weil es ein “europäisches Volk”, einen europäischen “demos” für eine europäische Demokratie gar nicht gibt.« – Ralf Dahrendorf
Centerum censeo: Anstatt mehr und mehr Aufgaben auf die EU-Ebene zu verlagern, sollten wir uns wieder an den Lehren der klassischen Liberalen orientieren und den Föderalismus ins Zentrum unserer Überlegungen rücken:
»Die Macht, die einer internationalen Instanz zufallen muß, besteht nicht in den Befugnissen, die der Staat sich in jüngster Zeit angemaßt hat, sondern in jenem Minimum an Befugnissen, ohne die keine friedlichen Beziehungen aufrechterhalten werden können, d. h. im wesentlichen in den Befugnissen des ultraliberalen „Laisser- faire“-Staates.« – F. A. Hayek
Das gilt auch unter dem Gesichtspunkt veränderter geopolitischer Tatsachen, die gerne als Rechtfertigung zur Ausdehnung der Befugnisse der EU herhalten. Hier soll die Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten, ihrer internationalen Verantwortung nachzukommen, durch Zentralisierung erzwungen werden. Die EU wird allerdings nicht bestehen können, wenn sie sich am nationalen Chauvinismus von China oder Russland orientiert.
Ohne Zweifel muss sich die europäische Gemeinschaft der Bedrohung durch den Neo-Nationalsozialismus Chinas und Russlands stellen. Es ist weiterhin richtig, dass sich die EU in dieser Frage nicht von den USA abhängig machen kann. Jedoch braucht es dafür kein neues EU-Verteidigungsministerium, die einzelnen EU-Staaten müssen “nur” ihrer Verantwortung gerecht werden.
Ich möchte daher die These vertreten, die ich bereits anfangs angedeutet habe: Die EU muss zu den Prinzipien zurückfinden, die sie einst groß gemacht haben: Wettbewerb und Marktwirtschaft, Freihandel und Freizügigkeit. Die Ausflüchte in die Planwirtschaft sollten schnellstmöglich beendet werden. Gelingt das nicht, wird sich die EU durch innere Konflikte selbst zerstören.
Der unreformierbare Koloss
Diese sind bereits jetzt absehbar: Angeregt von Russland und China, verfallen Polen und Ungarn mehr und mehr dem Autoritarismus. Die Corona-Pandemie hat indes verdeutlicht, dass die europäische Einmischung in die Wirtschaft und auch die nationale Wirtschaftspolitik unüberschaubare Interessenskonflikte zwischen den Mitgliedsländern hervorbrachte. Auch hier wird ist eine zunehmende Teilung zwischen den west- und osteuropäischen Ländern offensichtlich. Das ist alles kein Zufall; Ludwig von Mises wusste schon 1927 zu schreiben, dass die fortschreitende Einmischung der Politik immer mehr Interessenskonflikte hervorbringen wird. Eine Folge: Populismus und autoritäre Politiker.
Anders als in der Katallaktik lassen sich in der Politik nicht gleichzeitig mehrere Vorstellungen realisieren, sondern stets nur eine. Der Abwägungsprozess der Politik zeichnet sich nicht über die Harmonie der Interessen aus, wie das im freiwilligen Tausch der Fall ist. Es kommt notwendigerweise zu einer Abwägung der verschiedenen Interessen gegeneinander. Je weiter sich der Einflussbereich der Politik ausdehnt, desto mehr Interessenskonflikte werden aufkommen. Genau das ist der Nährboden für Populisten, die anti-liberale Ressentiments bedienen.
Jedoch werden sowohl Populisten als auch Reformer nicht weit kommen, die politischen Ambitionen werden sich im Niemandsland verlaufen. Die EU bietet einen unreformierbaren institutionellen Rahmen, der dieselben Interessenkonflikte repliziert, die sich in der Realpolitik abzeichnen. Im EU-Rat, der Ausgangspunkt von Reformen sein müsste, stehen die einzelnen Länder auf der Bremse – warum sollten sie auch Macht abgeben? Das Parlament, das echte Reformen auf den Weg bringen könnte, hat kein Recht zur Gesetzesinitiative.
Die EU hat sich ihre Probleme größtenteils selbst zuzuschreiben.
Fazit
Dennoch ist ein Austritt, oder “Dexit”, wie ihn bspw. die AfD fordert, eine schlechte Idee. Wie gesagt profitieren wir übermäßig stark vom Binnenmarkt, einen abrupten Euro-Austritt würden wir wohl nicht überstehen.
Der einzige Weg, um wirkliche Reformen auf den Weg zu bringen, bestünde in der völligen Abschaffung der EU und einem anschließendem Wiederaufbau. Eine neue Verfassung müsste in Kraft treten, die der EU klare politische Grenzen aufzeigt. Der Euro müsste durch nationale Zweitwährungen ergänzt werden, die diesen langsam im Wettbewerb ersetzen würden. Eine natürliche Auslese des Euros könnte die Schäden, die ein politisches Ende mit sich bringen würde, womöglich umgehen. Die EZB müsste den nationalen Zentralbanken weichen.
Kernpunkt ist, dass die EU kein Staat werden kann. Europa ist zu unterschiedlich um ein solches Vorhaben politisch und wirtschaftlich nachhaltig zu ermöglichen. Aber als liberaler Staatenbund, der Marktwirtschaft, Freiheit und Frieden in Europa voranbringt und bewahrt, kann die EU zu alter Größe zurückfinden.
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