Berlin / Kabul 16.08.2021 #Afghanistan #USA #Taliban
Ergänzung am 17.08.2021 zum Antrag der Grünen hinzugefügt.

Spätestens seit dem gestrigen Tage war klar: Kabul und Afghanistan sind gefallen, das Land ist gescheitert und die Taliban haben die Macht an sich gerissen.
Ein Text zwischen Angst, Wut und der Unfähigkeit von Geheimdiensten.

Auch als Hörversion verfügbar:

Zeitlicher Ablauf der letzten Woche

Wer die Lage seit einigen Wochen begleitet hat, dem sollte klar gewesen sein: Es geht viel schneller, als man es für möglich hielt. Aus Kreisen der US-Geheimdienste hieß es vor kurzem erst, dass das Land in 30 Tagen bis 3 Monaten unter die Kontrolle der Taliban kommen würde. In der letzten Woche zeigte sich dies jedoch etwas anders und immer mehr Provinzen kamen unter die Kontrolle der islamistischen Terrororganisation. Die Menschen im Land haben Angst, wer konnte nahm den erstbesten Flieger und kehrte seiner Heimat den Rücken. Eines war schon am vergangen Montag klar: Lange dauert es nicht mehr.

Die deutsche Regierung hielt noch lange an den Abschiebeflügen nach Afghanistan fest, obwohl zu dem Zeitpunkt schon einige Länder einen zumindest vorzeitigen Abschiebestopp verfügten. Am 4. August wurde ein Abschiebeflug abgesagt, jedoch wollte man weiter daran festhalten:

Abschiebeflug nach Afghanistan abgesagt
Die Taliban sind auf dem Vormarsch und dennoch werden Menschen weiterhin nach Afghanistan abgeschoben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte Österreich eine Abschiebung und in München setzte man einen Abschiebungsflug ab...
Dazu passt diese Meldung vom 4.August

Und selbst noch am Vormittag des 11. Augustes sprachen sich Seehofer und andere EU-Innenminister für die Abschiebung aus und wollten die EU zu Verhandlungen darüber zwingen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Taliban schon auf den Vormarsch, selbst in Kabul gab es schon einige Anschläge und einige Provinzhauptstädte waren unter Kontrolle der Taliban.
Bereits 66 Prozent des Landes waren unter der Kontrolle der Taliban und Seehofer musste an dem Tag auch von seinem Vorhaben ablassen. Acht Diplomaten warnten vor Abschiebungen nach Afghanistan. Die Sicherheitslage würde es nicht zulassen. Recht behielten die Botschafter, unter anderem auch der deutsche. Zu diesem Zeitpunkt sprach man noch von 30 bis 90 Tagen und der US-Präsident Joe Biden sagte am Dienstag die Afghanen müssen "selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen".

Karte vom 11.August

Doch bereits am Freitag den 13.08 zeigte sich ein deutlich verschärftes Lagebild. Die meisten Provinzen waren schon unter die Kontrolle der Taliban gefallen. Um Kabul zogen sich die ersten Kräfte zusammen. Maidan Shar und Mihtarlam sind zwei Städte, welche sehr nahe bei Kabul liegen. Beide Städte wurden bereits am Freitag angriffen und im Laufe des Tages unter die Kontrolle der Taliban gebracht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte Deutschland mit Evakuierungsmaßnahmen beginnen müssen. Britten und Amerikaner verlegten Truppe nach Kabul. Ziel der Maßnahme war es den Abzug von Botschaftspersonal zu ermöglichen und den Flughafen in Kabul zusichern. Tagelang wurde das Personal aus der Botschaft gebracht und auch andere Kräfte, sowie die Ortshelfer wurden mit Hilfe von Flugzeugen und Hubschraubern aus Kabul gebracht und werden es immer noch. Mithilfe des Hubschraubers Boeing CH-47, besser bekannt als Chinook, wurden die Menschen von der Botschaft zum Flughafen verbracht und von dort aus in Sicherheit. Eine Luftbrücke entstand bei dem Amerikanern und auch die Britten beteiligten sich mit Personal und Flugzeugen. Im Verlaufe des Wochenendes beteiligten sich unter anderem auch die Franzosen an der Evakuierung, schließlich auch um die eigenen Leute aus dem Land zubekommen, hauptsächlich Zivilisten.
Zu diesem Zeitpunkt, an diesem Freitag, war der Fall des Landes klar. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Meine Kontakte und auch unabhängige Beobachter machten dies klar.
Der Plan war bereits erkennbar: Die Einkesselung von Kabul.
Die Elitetruppen aus der afghanischen Hauptstadt und auch die Luftangriffe konnten kaum etwas ausrichten. Den Aufmarsch der Taliban konnte man kaum verhindern. Zu diesem Zeitpunkt ergaben sich bereits Soldaten oder flüchteten außer Landes. In Usbekistan ersuchten 80 Soldaten Schutz.
West-Afghanistan war bereits fest in den Händen der Islamisten.

Karte vom Freitag, 13. August

Tausende Menschen waren bereits auf der Flucht und für viele ehemalige Helfer war das Ziel Kabul. Zu diesem Zeitpunkt waren noch etwa 1000 Ortskräfte  und Familienangehörige in Afghanistan und das obwohl sie schon ein Visum hatten.
Etwa 4400 Personen wären insgesamt Visumberechtigt, doch ausgestellt wurden zu dem Zeitpunkt nur etwa 2850 Visa. Marcus Grotian, Vorsitzender des Vereins "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V.", sagte dem Redaktions Netzwerk Deutschland (RND) gegenüber folgendes: "Es herrscht wirklich großes Unverständnis, die Menschen hier, die für die Bundeswehr und das Innenministerium gearbeitet haben, empfinden das jetzige Verhalten der deutschen Politik als Wortbruch."

Die Bundeswehr war fast 20 Jahre im Einsatz, dennoch werden derzeit alle Kräfte pauschal abgelehnt, welche vor dem Jahr 2013 für die Bundeswehr tätig waren. Der Bundeswehr dürfte es schwer fallen in Zukunft noch genügend Ortskräfte zu finden, denn diese Nachricht dürfte sich auch in anderen Krisengebieten der Welt rumsprechen. Das Verteidigungsministerium drängte noch im Juli auf die Unterstützung der Ortskräfte, etwa durch Charterflüge. Selbst die Kanzlerin sagte damals "Ich setze mich sehr dafür ein, dass wir pragmatische Lösungen finden".
Jedoch fand sich bis jetzt keine Lösung dafür, was die betroffenen Menschen verärgert und diese sich in Stich gelassen fühlen.

Evakuierung durch Regierung abgelehnt?

Bereits im Juni hätte man die Ortshelfer und ihre Familienangehören aus dem Land holen können. Die Grünen und die Linken machten sich dafür stark. Am 23- Juni wurde der Antrag der Grünen von CDU/CSU, SPD, FDP und AFD abgelehnt.

Der Union-Vizechef Thorsten Frei sagte in einer Rede vor dem Bundestag dazu:
"Es ist eben nicht so, dass man alleine aufgrund der Tätigkeit für die Bundesrepublik Deutschland automatisch Rückschlüsse auf lebensgefährdende Situationen ziehen kann, weil die Sicherheitslage in Afghanistan höchst unterschiedlich ist. Wenn man beispielsweise auf das Vordringen der Taliban schaut, erkennt man: Das betrifft vielleicht 10 von 400 Distrikten in Afghanistan."

Für die AFD sprach danach Rüdiger Lucassen: "Für die Versorgung der afghanischen Ortskräfte hat die Bundesregierung bereits eine Regelung getroffen. Sie ist angemessen und reicht aus."

Dieser Antrag hätte zwar nicht unmittelbar zu einer sofortigen Evakuierung geführt, jedoch wäre der Personenkreis ausgeweitet worden. Der Antrag sah auch eine Widerspruchsmöglichkeit vor, dies ist bisher nicht möglich. Nach aktuellen Stand muss eine unmittelbare Gefährdung vorliegen. Nach der Argumentation der Bundesregierung liege diese nicht automatisch vor, auch wenn man für die Bundesrepublik Deutschland oder die Bundeswehr tätig wäre oder war.
Die Grünen wollten diesen Personen auch eine geordnete Evakuierung bzw. das verlassen des Landes ermöglichen, jedoch lehnten die Fraktion der Union und SPD, sowie die AFD ab. Die FDP enthielt sich und stellte später einen eigenen Antrag.  Am Ende blieb es so bei der bisherigen Regelung, welche für Beobachter und auch viele Ortskräfte nicht weitgenug geht.

Kabul das neue Saigon?

Das der Westen und die USA nicht jeden Krieg gewinnen können, dies zeigte sich auch schon bei den Bildern aus Saigon. Viele Jahrzehnte ist dieser Rückzug nun her. Damals musste man überstürzt evakuieren und die Bilder sind noch heute erschreckend. Man schmiss sogar die Hupschrauber von Bord, um Platz zu schaffen. Doch all das ist verglichen mit der aktuellen Situation ein Fliegenschiss. Entschuldigt diese Aussage, doch besser kann man es nicht beschreiben. Die Bilder aus Kabul sind unvorstellbar, fast wie in einem Zombiefilm versuchen sich Leute Zugang zu Flugzeugen zu verschaffen und es gibt dabei auch Tote. Mit Hilfe von Kampfhubschraubern räumt man das Flugfeld, diese fliegen vor den Flugzeugen und sollen die Leute verscheuchen.

Die Verzweiflung und Angst ist groß bei den Menschen. Im Verlaufe des Wochenendes verlor ich alle Kontakte zu Leuten vor Ort, was jedoch eher einer Sicherheitsmaßnahme ist. Man hat Angst vor den Taliban, Angst das man erwischt wird mit Nachrichten an Pressevertretern und ich verstehe das. Um einige Leute vor Ort habe ich persönlich auch Angst, gerade um die eher modernen Leute und vor allem um die Frauen. Bei Berichten war ich immer vorsichtig und habe nie Bilder oder Namen verwendet, weil dies auch zu den Leuten zurückgeführt werden könnten. Über Todeslisten sollen die Taliban schon länger verfügen, dort drauf Journalist*innen, Frauenrechtler*innen, Aktivist*innen und alle die so massiv gegen ihre Vorstellung verstoßen. Ein Kontakt aus meiner Zeit beim DRK, dort war ich in der Flüchtlingshilfe, schrieb mir. Er hat Angst um seine Eltern, sein Vater war für eine ausländische Hilfsorganisation tätig. Gestern konnte J. seine Eltern zum letzten mal erreichen. Wut, Angst und Verzweiflung sind in dem Land spürbar, auch gegen Deutschland. Man fühlt sich verraten und im Stich gelassen. "Die Deutschen haben ihr Wort nicht gehalten", lese ich nicht nur von Js Eltern, auch von anderen und auch andere Journalisten berichten mir ähnliches.

Die Verzweiflung ist spürbar und zum Teil kommt sie auch bei mir an. Die Wut und Hilflosigkeit. Wir schauen zu, wenn dort ein ganzes Land untergeht und all das war absehbar.

RAUS, RAUS, Raus!

Afghanistan müsse für sich selbst sorgen, das war schon Trumps Idee und er sorgte für den Abzug von Truppen. Der neu gewählte Demokrat Joe Biden verhinderte diesen Abzug jedoch nicht. Die USA wollten nicht mehr in Afghanistan sein, zu groß seien wohl die Opfer und das Land ist dem Kriege gegenüber müde geworden. Kein Gewinn für den Westen. Die Demokratie ist nun am Ende, zumindest in Afghanistan und die westliche Wertegemeinschaft hat tatenlos zugeschaut. Nun stellt sich die Frage: Warum sind wir dann überhaupt rein?

Das Land steht jetzt nicht viel besser dar, nur die Taliban haben neues militärisches Spielzeug erhalten. US-Waffen, Humvee und anderes Kriegsgerät fiel in ihre Hände.

Die afghanischen Truppen seien gut ausgebildet und die Taliban sowie so nur eine Gurkentruppe, so oder so ähnlich wurde das Bild von den Nato-Kräften gezeichnet. Nur am Ende stimmte dies eben nicht und man hat die Hartnäckigkeit der Taliban vernachlässigt. Die Taliban sind nicht eben irgendeine militärische Gruppierung, sie sind kein Militär oder Para-Militär im klassischen Sinne. Bei den Taliban verknüpft sich eine bestimmte Weltanschauung mit der Bereitschaft zum Kampf und das macht sie zu einer Art islamistischen Sekte. Sekten haben ganz eigene Dynamiken und die einzelnen Mitglieder sind hier eben auch bereit zu sterben. Auf Verluste in den eigen Reihen nimmt man die Organisation seltener Rücksicht, es passt eben auch nicht zu einer terroristischen Sekte und dies vor allem wenn man auch Selbstmordanschläge praktiziert.

Wie geht es weiter?

Afghanistan ist gefallen, Kabul eingenommen und die Taliban am Ziel der Machergreifung. Wie es die nächsten Tage weitergeht ist kaum gewiss. Viele, darunter auch ich, rechnen mit einer Säuberungswelle. Wenn die Amerikaner und die Europäer weg sind, dann werden einige ganz sicher zu Opfern werden. Hilfe ist leider nicht in Sicht. Deutschland hat es am Wochenende nicht einmal geschafft die "Schnelle Einsatztruppe", die Division Schnelle Kräfte, nach Kabul zu verbringen. Aus Kontakten in der Bundewehr heißt es dazu, dass die Verlegung schon am Samstag möglichgewesen wäre. Ein Befehl habe es nur nicht gegeben. In der Nacht haben US-Flugzeuge deutsches Botschaftspersonal ausgeflogen, so lauten verschiedene Medienberichte.

Heute im Laufe des Tages sollen mehre Maschinen vom Typ A400M landen. Platz haben diese Flugzeuge für etwa 114 Menschen. Ziel ist es in Taschkent eine Art Drehscheibe einzurichten. Dort sollen Menschen aus Kabul erst einmal laden und dann mit zivilen Fliegern nach Deutschland verbracht werden. Es geht dabei klar um tausende Ortskräfte, welche über die Flugbrücke gebracht werden müssen.

Im Morgenmagazin der ARD äußerte sich Omid Nouripor, der außenpolitische Sprecher der Grünen, folgendermaßen: "Die Bundesregierung hat jahrelang Zeit gehabt, einen Plan zu machen für diesen Augenblick. Und dieser Plan ist ausgeblieben. Damit hat die Bundesregierung versagt."

Afghanistan: Taliban nehmen weitere Städte ein | USA: Schicken 3.000 Soldaten
Die radikal-islamistischen Taliban setzten den Eroberungsfeldzug fort und bringen weitere Städte unter ihrer Kontrolle. Die USA und Großbritannien entsenden Truppen in das Land, um den Abzug des diplomatischen Personals abzusichern.
Freitag der 13. August

Schockierende Bilder

Achtung die nachfolgenden Bilder sind nicht für jeden geeignet!
Personen versuchen sich in ihrer Verzweiflung auch an den Fahrwerken von Flugzeugen festzuhalten. Auf Videos ist zusehen wie Menschen von dort herunterfallen, auch Material von Opfer ist zu sehen.

Mensch fällt von dem Fahrwerk herunter. 
Menschen versuchen sich am Flugzeug festzuhalten

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