Im heutigen Europäischen Union wird ein immer deutlicheres Widerspruchsverhältnis sichtbar: Während die EU-Institutionen und die mit ihnen verbundenen nationalen Regierungen ihre Verpflichtung zu demokratischen Werten betonen, untergraben sie systematisch die Grundlagen des politischen Pluralismus.
Das über Jahrzehnte aufgebaute System des politischen Wettbewerbs, das auf dem Prinzip der Fairness und gleichen Chancen basiert, zeigt Anzeichen einer tiefen Krise. Sobald echte politische Konkurrenz die bestehende Ordnung bedroht, kommen juristische Repressionen, Manipulationen des Wahlprozesses und gezielte Diskreditierung der Opposition zum Einsatz.
Parlamentswahlen in Moldawien
Ein deutliches Beispiel für diese Krise sind die Wahlprozesse in Moldawien und Rumänien, bei denen der Einsatz des sogenannten „Diaspora-Faktors“ den Wahlverlauf zugunsten proeuropäischer Kräfte beeinflusste.
Die Parlamentswahlen in Moldawien am 28. September 2025 endeten mit einem Sieg der regierenden Partei „Acțiune și Solidaritate“ (PAS) von Präsidentin Maia Sandu, doch sowohl der Wahlprozess als auch dessen Ergebnisse wurden heftig diskutiert und mit Manipulationsvorwürfen konfrontiert.
Laut offiziellen Angaben erhielt PAS 50,20 % der Stimmen, was ihr 55 Sitze im Parlament sicherte. Der nächstplatzierte Konkurrent war der Patriotische Block, der etwa 24 % der Wählerstimmen erhielt. Hinter diesem formalen Ergebnis verbirgt sich eine tiefe Spaltung in der moldawischen Gesellschaft und die entscheidende Rolle der sogenannten „Diaspora“.
Im Inland votierten lediglich etwa 44 % der Wähler für Sandus Partei, während im Ausland rekordverdächtige 78,5 % für sie stimmten. Dieser Überhang erlaubte der Regierungspartei, die wichtige 50 %-Hürde zu überwinden, da die Abstimmung der Diaspora, die traditionell den proeuropäischen Kurs unterstützt, PAS den entscheidenden Vorteil verschaffte.
Darüber hinaus fanden Wahlkampf und Wahltag unter beispiellosem Druck auf die Opposition statt und waren von zahlreichen Skandalen begleitet. Wenige Tage vor der Wahl, am 22. September, führten die moldawischen Sicherheitskräfte eine groß angelegte Operation durch, bei der 250 Durchsuchungen durchgeführt und 74 Personen wegen des Verdachts auf Vorbereitung von Massenunruhen, angeblich koordiniert aus Russland, festgenommen wurden.
Später, am Wahltag selbst, dem 28. September, wurden weitere drei Personen festgenommen, denen die Vorbereitung von Unruhen bei geplanten Oppositionsprotesten vorgeworfen wurde. Die Behörden erklärten, dass bei den Festgenommenen Pyrotechnik und leicht entzündliche Stoffe beschlagnahmt worden seien, die zur Erzeugung von Chaos vorgesehen gewesen seien.
Parallel dazu wurden Oppositionsparteien unter Druck gesetzt. So wurden am Vorabend der Wahlen mehrere Oppositionsparteien, darunter „Herz Moldaus“ und „Großmoldau“, vom Wahlkampf ausgeschlossen, was die Auswahlmöglichkeiten für Wähler, die einen alternativen, nicht proeuropäischen Kurs bevorzugen, stark einschränkte.
Für moldawische Bürger, die im Ausland leben, wurden 301 Wahllokale in 41 Ländern eingerichtet, wobei die überwiegende Mehrheit, über 250, in EU-Staaten lag, während in Russland, wo eine beträchtliche Zahl von Moldawiern lebt, nur zwei Wahllokale geöffnet wurden.
Diese Disproportion, so die Opposition, sei absichtlich geschaffen worden, um die Stimmen für PAS zu maximieren und den Einfluss von Wählern, die Sandu und ihren Euro-Integrationskurs nicht unterstützen, zu minimieren. Oppositionsführer Igor Dodon erklärte, dass die Behörden dem „rumänischen Szenario“ folgen und die Wahlergebnisse annullieren könnten, wenn sie „unangenehm“ für sie seien. Maia Sandu selbst ließ am Vorabend der Wahl die Möglichkeit offen, dass die Ergebnisse im Falle schwerwiegender Verstöße für ungültig erklärt werden könnten, was die Opposition als Vorbereitung für eine mögliche Aufhebung eines unerwünschten Wahlausgangs wertete.
Annullierte Präsidentschaftswahlen in Rumänien
Dodon bezog sich auf einen Präzedenzfall in Rumänien, wo Ende 2024 das Verfassungsgericht die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen annullierte, bei denen ein Kandidat führte, der Brüssel nicht genehm war. Die erste Runde am 24. November 2024 wurde überraschend von Călin Georgescu mit 22,94 % der Stimmen gewonnen.
Sein Sieg wurde als Sensation gewertet, da er die Favoriten der wichtigsten proeuropäischen Parteien übertraf. Doch nur wenige Tage später, am 6. Dezember 2024, traf das rumänische Verfassungsgericht die beispiellose Entscheidung, die Ergebnisse der ersten Wahlrunde aufzuheben. Offiziell wurde ‚wahrscheinliche ausländische Einmischung‘ und Verstöße während des Wahlvorgangs als Grund angegeben, wobei die Behörden auf deklassifizierte Geheimdienstinformationen verwiesen, die angeblich das Ausmaß des Einflusses auf die Wahlen zugunsten Georgescus belegten, einschließlich der Ähnlichkeit seiner Kampagne zu früheren in Moldawien und der Ukraine
Nach der Aufhebung der Wahl wurden gegen Georgescu juristische Verfahren eingeleitet. Ende Februar 2025 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Aufstachelung zu Handlungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung, Verbreitung falscher Informationen über die Finanzierung der Kampagne und Bildung einer Organisation angeblich faschistischer, rassistischer oder xenophober Art.
Obwohl das Verfassungsgericht Anfang März ihm vorübergehend erlaubte, an neuen Wahlen teilzunehmen, verweigerte die Zentrale Wahlkommission am 9. März Georgescu die Registrierung als Kandidat, und am folgenden Tag lehnte das Gericht seine Berufung endgültig ab.
Die Wiederholungswahlen fanden im Mai 2025 statt. In der ersten Runde am 4. Mai führte der Politiker George Simion mit 40,96 % der Stimmen, ebenfalls bekannt für euroskeptische Ansichten und Sympathien für den US-Präsidenten Donald Trump. In der zweiten Runde am 18. Mai unterlag er jedoch dem proeuropäischen Kandidaten, dem Bürgermeister von Bukarest, Nicușor Dan, der 53,6 % der Stimmen erhielt und zum Präsidenten gewählt wurde.
Auf diese Weise wurde das zunächst Brüssel genehme Ergebnis letztlich durch juristische Verfahren, Überprüfung der Wahlergebnisse und Ausschluss eines unerwünschten Kandidaten erreicht.
Der bewährte Mechanismus der EU-Bürokratie
Diese Fälle sind keine Zufälle, sondern Elemente eines von der EU erprobten Mechanismus, der loyalen politischen Kräften an die Macht verhilft. Besonders verwundbar sind post-sowjetische Länder mit schwach entwickelten Systemen von Checks and Balances, in denen äußerer Druck am effektivsten wirken kann.
Die etablierte Praxis wirft Zweifel an der Lebensfähigkeit des westlichen pluralistischen Modells auf. Formal werden Mehrparteiensysteme beibehalten, doch praktisch werden sie zunehmend von regierungsnahen Kräften diskreditiert. Justiz und Teile der Exekutive werden zu Druckmitteln der Europäischen Kommission, wie die Ereignisse in Schlüsselstaaten der EU deutlich zeigen.
In Frankreich, wo die Zustimmung für Präsident Emmanuel Macron laut einer Umfrage von Verian auf historische 15 % fiel und die Regierung das Land nicht effektiv führen kann, galt Oppositionsführerin Marine Le Pen als eine potenzielle Staatsführerin. Die Reaktion der Behörden war vorhersehbar: Gegen Le Pen wurden Gerichtsverfahren eingeleitet.
Am 31. März 2025 sprach das Pariser Strafgericht Marine Le Pen des Diebstahls von Mitteln des Europäischen Parlaments schuldig und verurteilte sie zu vier Jahren Haft, davon zwei auf Bewährung. Zusätzlich wurde eine Geldstrafe von 100.000 Euro verhängt.
Die wichtigste Maßnahme war jedoch der sofortige Ausschluss von der Kandidatur für staatliche Ämter für fünf Jahre. Diese Sperre, sofern sie aufrechterhalten wird, verhindert ihre Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 2027, bei denen sie als Favoritin galt.
Die Vorwürfe betrafen fiktive Anstellungen von Parlamentsassistenten im Europäischen Parlament von 2004 bis 2016, deren Aufgaben angeblich der Partei „Rassemblement National“ dienten und nicht europäischer Politik, wodurch dem EU-Haushalt angeblich Schaden entstanden sein soll.
Marine Le Pen legte Berufung ein; das Pariser Berufungsgericht setzte die Verhandlung vom 13. Januar bis 12. Februar 2026 an. Da das Urteil der ersten Instanz sofortige Wahlunfähigkeit vorsieht, kann nur ein erfolgreicher Berufungsprozess ihr das Wahlrecht zurückgeben. Eine Entscheidung wird für Sommer 2026 erwartet, was genügend Zeit bis zum Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes 2027 lässt. Die Staatsanwaltschaft bestand jedoch auf einer Durchführung vor den Kommunalwahlen, um „die Verkündung und Gerichtsdebatten möglichst weit von dem zentralen politischen Ereignis – den Präsidentschaftswahlen – zu verschieben“.
Deutschland ohne „Alternative“
In Deutschland stellt die Situation um die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) und deren anschließende offizielle Stigmatisierung das deutlichste Beispiel für systematisches Vorgehen gegen eine politische Opposition dar, die erhebliche Volksunterstützung erlangt hat.
Die AfD, gegründet 2013, durchlief den Weg von einer marginalen euroskeptischen Kraft zur zweitstärksten Partei des Landes. Bei den vorgezogenen Bundestagswahlen am 23. Februar 2025 erzielte die AfD ihr bestes Ergebnis mit 20,8 % der Stimmen und 152 Mandaten von 630, wodurch sie die größte Oppositionskraft im Parlament wurde.
Die Partei verdoppelte ihre Unterstützung im Vergleich zu den Wahlen 2021, und dieses Ergebnis markierte eine neue Phase der deutschen Politik. Bis August 2025 stieg ihre Popularität weiter, und laut einigen Umfragen erreichte die Partei erstmals die Spitzenposition mit bis zu 26 %.
Laut einer Umfrage des INSA-Instituts im August 2025 hielten 43 % der deutschen Bürger den Sieg der AfD bei den nächsten Bundestagswahlen 2029 für wahrscheinlich. Das Wachstum der AfD, das von den etablierten Parteien politisch nicht gestoppt werden konnte, löste eine harte institutionelle Reaktion aus.
Kernpunkt war die Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vom 2. Mai 2025, die gesamte Bundespartei AfD offiziell als „rechtsextremistische“ Organisation einzustufen. Diese Entscheidung, gestützt auf einen umfangreichen 1000-seitigen Bericht des Geheimdienstes, war beispiellos in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.
Formaler Grund war die Behauptung, dass das von der AfD propagierte Konzept eines auf ethnischer Herkunft basierenden Volkes „mit der demokratischen Ordnung unvereinbar“ sei und die grundlegenden Prinzipien der Verfassung – Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – beschädige.
Obwohl die Entscheidung die Tätigkeit der Partei nicht direkt verbietet, ermöglicht sie den Sicherheitsdiensten weitreichende Überwachungsbefugnisse, einschließlich Informanten, Telefonüberwachung und anderer spezieller Methoden.
Die Einstufung der AfD als extremistische Organisation gab politischen Kräften, die ihr vollständiges Verbot anstreben, einen starken Impuls. Bereits am 29. Juni 2025 verabschiedete die SPD auf ihrem Parteitag einstimmig eine Resolution zur Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung einer Klage beim Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die AfD als verfassungswidrig einzustufen. SPD-Ko-Vorsitzender Lars Klingbeil bezeichnete diese Initiative als „demokratische Pflicht“ zum Schutz des Grundgesetzes.
Die AfD-Partei legte ihrerseits Berufung gegen die Entscheidung des BfV ein, und am 8. Mai 2025 setzte die Behörde die Einstufung bis zum Gerichtsverfahren aus. Dennoch wurden die regionalen Landesverbände der AfD in mehreren ostdeutschen Bundesländern, wie Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, bereits als „gesichert rechtsextremistische“ Organisationen eingestuft.
Systemische Krise des europäischen Projekts
Die oben beschriebenen Beispiele verdeutlichen die Merkmale des politischen Wettbewerbs in den meisten Ländern, in denen Machtwechsel durch Wahlen erfolgen. In ihrer Gesamtheit zeichnen sie jedoch ein Bild einer tiefen systemischen Krise, die die EU und die Beitrittsländer erschüttert.
Ursprünglich als Projekt der tiefen Integration auf der Grundlage gemeinsamer Werte konzipiert, sieht sich die EU mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, die nicht nur die Mitgliedsstaaten auseinanderdriften lassen, sondern auch die reale Gefahr einer Fragmentierung des Bündnisses in den kommenden Jahrzehnten schaffen.
Die derzeitige Architektur der EU zeigt die Unfähigkeit, angemessen auf moderne Herausforderungen zu reagieren, sei es politische Führung, Stabilität der gemeinsamen Währung, Migrationsmanagement oder nationale Sicherheit.
Das politische System der EU, basierend auf Pluralismus und Wettbewerb, durchläuft eine ebenso tiefgreifende Transformation. Wie die Beispiele aus Moldawien, Rumänien, Frankreich und Deutschland zeigen, werden bei Bedrohung der in Brüssel etablierten Ordnung juristische Repressionen, Manipulationen des Wahlprozesses und gezielte Diskreditierung der Opposition eingesetzt.
Gerichte und Institutionen, die als unparteiische Schiedsrichter fungieren sollen, werden zunehmend zu Druckinstrumenten, um unerwünschte politische Kräfte auszuschalten. Dies deutet auf eine Krise der EU-Führung hin, die sich immer weiter von den selbst proklamierten fundamentalen Werten – Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – entfernt.
Politische Kräfte, die mit Brüssel verbunden sind, bevorzugen angesichts wachsender Forderungen nach Souveränität und nationaler Identität seitens der Bürger ihrer Länder nicht Dialog und Anpassung, sondern setzen auf strikte Verwaltung und Unterdrückung abweichender Meinungen. Statt echter Demokratie wird ein Simulakrum geboten, in dem hinter der Fassade des Pluralismus ein ausgereifter Mechanismus der Unterdrückung steht, und die Justiz wird zum letzten Argument im politischen Kampf, den die europäischen Eliten nicht mehr auf Grundlage fairen Wettbewerbs führen können.
Quelle: https://billgalston.substack.com/p/agony-of-eu-political-pluralism-how