„Alles fließt!“ heißt auf Griechisch „Panta rhei!“, was in dieser Form einer unbestreitbaren Feststellung auf den Philosophen Heraklit zurückgeht und von dem Dichter Ovid ins Lateinische übersetzt wurde. In seinen Metamorphosen kann man „cuncta fluunt“ lesen und nicht vermeiden, dabei an das fließende Wasser zu denken, in das Menschen eintauchen können, um verändert aus ihm wieder an die Luft zu kommen. Heraklit hatte zuvor das ganze Sein mit einem Fluss verglichen, und das weiche Wasser in Bewegung hat die Menschen durch die Jahrhunderte fasziniert, da sein stetes Strömen den harten Stein erweichen und glätten kann. Paradoxerweise haben die alten Alchemisten es einem Stein zugetraut, dem berühmten Stein der Weisen, das wandelnde Werden der Dinge voranzubringen, so dass ihnen in einem Meer des Änderns ein fester Punkt des Zuschauens und Eingreifens gegeben war.

Obwohl es klar gesagt worden und damit gehört war, dass alles fließt und in Bewegung ist, hat sich menschliches Denken erst einmal an dem Gegenstück orientiert, also an dem, was Bestand hatte. Bei Platon etwa tauchen unveränderliche Ideen auf, mit deren Hilfe das sich entwickelnde Leben der realen Dinge zu fassen war, und zum Christentum gehört selbstverständlich die Überzeugung, dass der Schöpfer seine Geschöpfe perfekt gefertigt und damit auf ewig unveränderlich angelegt und in die Welt entlassen hat.

Als im 17. Jahrhundert die Wissenschaft ihr Haupt erhob, stellte sie in Form einer Physik zwar erst einmal Gesetze der Bewegung auf, aber die Massen, deren Bahnen damit berechnet werden konnten, galten als feste und konstant bleibende Größen im dynamischen Kosmos. Als eine Chemie im 18. Jahrhundert anfing, die Zusammensetzung der Materie genauer zu erkunden, formulierten ihre Vertreter bald einen Erhaltungssatz für die dazugehörigen Massen, wobei das Studium der Verbindungen – der Wahlverwandtschaften –, die Elemente eingehen konnten, auf die Spur von Atomen führte, die als fest und unveränderlich galten und natürlich erst recht für unteilbar gehalten wurden, wie das aus dem Griechischen stammende Wort es seit der Antike ausdrückte.

Alles fest, alles fest im Griff. So sah es im Zeitalter der Aufklärung aus, dem dann im 19. Jahrhundert die Epoche der Romantik folgte, die weniger dem Feststellen und mehr dem Schöpferischen zusprach und das genaue Gegenteil verkündete. Denn „es gibt nur Bewegung“, wie die Quintessenz des romantischen Denkens in den Worten des Ideenhistorikers Isaiah Berlin lautete, der sich dabei vor allem die innere Bewegung vorstellte, mit der ein Mensch „sich selbst erschafft“, weil er „in einem fort schöpferisch tätig ist“, wie Berlin schreibt. „Es gibt kein Ich, es gibt nur Bewegung“, wie der Philosoph als „Kern der romantischen Bewegung“ herausschält, und dieses Regen und Streben ist nicht nur innen, sondern auch außen zu finden, wie Goethe in seinem Epirrhema festgehalten hat, das als Gedicht 1827 in einer Sammlung mit dem Titel „Gott und Welt“ erschienen und dort zwischen den beiden Metamorphosen der Tiere und der Pflanzen eingeschoben ist. „Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, denn was innen das ist außen“, schreibt Goethe, der in Zusammenhängen des Geteilten ein „heilig öffentlich Geheimnis“ sieht, was hier genutzt werden soll, um einen weiten Sprung hin zu Charles Darwin auszuführen. Der große Brite stieß in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf das von ihm so bezeichnete „Geheimnis der Geheimnisse“, als ihm klar wurde, dass die platonisch-christliche Tradition eines Denkens in unveränderlichen und konstant bleibenden Einheiten – seien es Ideen oder Organismen – nicht mit dem Verständnis der Natur zurechtkam und dem evolutionären Gedanken Platz machen musste. Darwin beschrieb, wie die Lebensformen im Fluss waren und durch selektive Kräfte immer umgestaltet und einer sich unter ihren Füssen wandelnden Erde angepasst werden mussten, um überleben zu können, und auf diese Weise verloren statische Vorstellungen an Attraktivität, und sie wurde durch ein dynamisches Denken und ein Weltbild in Bewegung ersetzt, also durch einen Weltfilm oder ein Weltvideo wie man vielleicht sagen könnte. Während im 20. Jahrhundert die Bilder laufen lernten und das Kino ermöglichten, lernten im 19. Jahrhundert die Vorstellungen von der Natur laufen, um so zu einem Verständnis der Artenvielfalt und ihrem weiteren Entwicklungspotential beizutragen.

Übrigens – als Darwin und seine Freunde ihre Theorie der Evolution zu verteidigen hatten, beugte sich der Mönch Mendel über seine Pflanzen im Klostergarten, um im Inneren der Zellen die Erbelemente ausfindig zu machen, die seit dem 20. Jahrhundert Gene heißen. Diese Bausteine des Erbguts galten lange genau als das, nämlich als unveränderliche Bausteine des Lebens, bis zum ersten verstanden wurde, dass das evolutionäre Geschehen Varianten der Erbsubstanz erfordert, die heute als Mutationen bekannt sind, und bis zum zweiten die überraschende Einsicht zutage trat, dass Organismen nicht mit festen Genen durchs Leben gehen, sondern ihr Erbmaterial in seinen Einzelheiten selbst zusammensetzen und immer neu kombinieren, wenn sie sich entwickeln. Gene sind nicht, Gene werden immer, und so ist das dynamische Denken in der Biologie nach und nach selbstverständlich geworden.

Es ist jetzt auch tief im Inneren der Physik angekommen, wobei diese Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, als die Atome aufhörten, unteilbare und unveränderliche Größen zu sein. Erst konnte man Elektronen aus ihnen herausschlagen, und dann bemerkten Forscher die Strahlung, die aus- und auftritt, wenn radioaktive Atome zerfallen und sich Uran zum Beispiel über eine Reihe von Prozessen in Blei verwandelt (ohne dass sich anschließend daraus das Gold machen ließ, von dem früher geträumt worden war). Als die Physik auf diese Weise einem Verständnis dessen näherkam, was die Welt im Innersten zusammenhält, trafen ihre Vertreter dort in der Mitte der Materie auf Atomkerne, die ihrerseits aus Protonen und Neutronen bestanden, wie das 20. Jahrhundert nachweisen und auch zufriedenstellend erklären konnte. Das heißt, trotz aller Bewegung in der atomaren Hülle schien es im Kern so fest und stabil zuzugehen, wie sich Menschen die Dinge immer schon vorgestellt hatten, und wenn man jemandem sagen würde, dass die Masse eines Atomkerns durch die Addition der Massen der ihn konstituierenden Teilchen zustande kommt, würde diese Auskunft bereitwillig akzeptiert und eher gelangweilt zur Kenntnis genommen werden. Doch genau diese Sicht ist falsch, wie die moderne Physik zum eigenen Erstaunen erfahren musste. Die Kernteilchen – die Neutronen und Protonen – bestehen nämlich aus ungewöhnlichen Gebilden, die Quarks heißen und von anderen ungewöhnlichen Gegebenheiten zusammengehalten – verleimt – werden, die man Gluonen nennt. Auch wenn man jetzt nicht alle Namen der einzelnen Mitspieler kennt, so kann man doch das Wesentliche anführen, was die Masse eines Atomkerns betrifft. Gemeint ist die verblüffende Tatsache, dass es im Innersten der Welt kaum Masse, dafür aber umso mehr Energie gibt. Physikalisch möglich wird dies durch die berühmte Äquivalenz von einer Energie E und einer Masse M, die Einstein 1905 aufgefallen ist und durch die Formel E=MC2 ausgedrückt wird. Tatsächlich liegt die Masse von Atomkernen durch das wechselwirkende dynamische Gemisch aus Quarks und Gluonen, das die Experten gerne Plasma nennen, weitgehend als Energie vor, was bedeutet, dass fast alles in der Welt aus Energie besteht und somit etwas höchst Dynamisches und Wandlungsfähiges ist. Von festen Massen kaum eine Spur, dafür umso mehr energetischer Wandel und substantielle Dynamik.

In der Tat – die historische Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens kann gesehen werden als Verflüssigung oder Dynamisierung von soliden Vorstellungen – aus stabilen Atomen wurden wirbelnde Wechselwirkungen, aus festen Kernen wurden wandelnde Energieformen, aus chemischen Bindungen wurden Austauschprozesse, aus unverwechselbaren Organismen wurden anpassungsfähige Lebewesen, auf einer tragfähigen Erde verschoben sich die Kontinente, im genetischen Material nahmen die Gene ständig neue Kombinationen vor, und so nach und nach wurde der Satz bedeutungslos, dass man die Welt nicht weiter interpretieren müsste, sondern damit anfangen sollte, sie zu ändern. Dabei hat die Welt seit ihrem Anbeginn nichts anderes getan, als sich zu wandeln und zu ändern. Konstant geblieben ist nur die Energie, die dafür sorgt, dass die Dynamik nicht an ein Ende kommt und genug Zeit bleibt für die eigentliche Aufgabe. Sie besteht nicht darin, die Welt zu verändern, sondern darin, sie zu verstehen. Das weiche Wasser des fließenden Verstehens kann auch den mächtigsten Stein weichspülen. „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt“, wie Heraklit in einem längeren Satz gesagt hat. Bei den Menschen kann aber doch etwas bleiben. Man nennt es Bildung. Sie bleibt, weil sie kreativ ist und weiter gehen kann. Das Offene bleibt. Die Menschen streben danach. Ihre nächste Bewegung zielt darauf ab.

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