Vergangenes Wochenende habe ich mit der Schwiegermutter nach einem alten Familienrezept Dresdner Christstollen gebacken. Synthetisches Bittermandelaroma kommt für sie nicht infrage, es mussten echte Bittermandeln her.
Den allermeisten Menschen dürfte bekannt sein, dass Bittermandeln zum rohen Verzehr nicht geeignet sind. Sie enthalten Amygdalin, das während des Verdauungsprozesses giftige Blausäure freisetzt. Schon 5 – 10 Bittermandeln können bei Kindern zu einer tödlichen Vergiftung führen.
Gegen einen gewissen Bittermandelanteil im Stollen hatte ich jedoch nichts einzuwenden, da sich die hitzeempfindliche Blausäure beim Backen auf ein unbedenkliches Maß verflüchtigt.
Was Schwiegermutters Stollen mit alternativer Krebstherapie gemein hat? Das Amygdalin.
Oder, wie die Anhängerinnen und Anhänger alternativer Krebstherapien es nennen: Vitamin B 17. Und dieses „Vitamin“ solle deren Meinung nach reichlich über bittere Aprikosenkerne verzehrt werden.
Wo liegt das Problem?
Erstens ist Amygdalin ja nicht mal ein Vitamin. Vitamine werden vom Körper für eine normale Funktion benötigt und sind lebenswichtig. Vitamin B17 jedoch braucht unser Körper für: gar nichts.
Das sich unter dem harmlos anmutenden Vitamin-Mäntelchen verbergende Amygdalin ist eine cyanogene Zuckerverbindung, die durch das Enzym Beta-Glucosidase in ein Zuckermolekül und giftige (!) Blausäure gespalten wird.
Die Befürworter der Vitamin-B17-Therapie haben eine Theorie, warum uns ihrer Meinung nach die Blausäure aus den im Kern bösen Aprikosen nicht schaden kann: Das Enzym Beta-Glucosidase sei ausschließlich in Krebszellen zu finden. Das an sich ungiftige Amygdalin würde also erst in der Krebszelle in Zucker und Blausäure umgewandelt. Die Krebszelle wird dadurch vergiftet und stirbt ab. Andere Zellen sollen davon nichts merken. Man geht also von einer örtlich begrenzten Bildung der Blausäure aus.
In Wirklichkeit ist diese Theorie nicht nur äußerst wackelig, sondern längst wiederlegt: Beta-Glucosidase kommt sowohl in gesunden Zellen als auch in Krebszellen in etwa gleich häufig vor.
Laut dem Deutschen Krebsinformationsdienst wird das Amygdalin aber auch schon im Darm, und nicht erst in der Krebszelle, zu Blausäure umgesetzt. So kann es – je nach Dosis – zu einer schleichenden Cyanid-Vergiftung kommen.
Ein bisschen Cyanid kann unser Körper ganz gut aus dem Weg räumen. Ab einer gewissen Menge aber wird es richtig gefährlich, weswegen das BfR auch höchstens 1-2 Aprikosenkerne pro Tag für Erwachsene für tolerierbar hält.
Vertreter der Amygdalin-Therapie raten jedoch zu 30 Aprikosenkernen pro Tag. Wer möchte, gerne auch mehr.
Problem Nummer 2: Es existiert keine einzige Studie, die die Wirksamkeit von Amygdalin – das übrigens auch synthetisch hergestellt werden kann und dann „Lätril“ heißt – gegen Krebs nachweisen kann. Es werden also Hoffnungen geschürt, die nicht haltbar sind. Das ist Patienten gegenüber sehr unfair.
Problem Nummer 3: Wenn man dann wenigstens sagen könnte „Hilft nicht, schadet aber auch nicht“, wäre es ja nicht so schlimm. Blöd ist nur, dass durch den Verzehr von Aprikosenkernen Patientinnen und Patienten auch mal mit einer Cyanid-Vergiftung im Krankenhaus landen! Das erwähnt von den You-Tube-Gurus keiner. Da heißt es eher „Ich habe ein Jahr lang 30 Aprikosenkerne täglich in meinen Joghurt gerührt. Und schaut mich an, mir ist nichts passiert, es geht mir hervorragend!“. Abgesehen davon, dass das bittere Zeugs doch keiner in solchen Mengen essen mag: Wo ist der Beweis, dass es tatsächlich jeden Tag 30 Kerne waren und dass die Person wirklich keinen Schaden genommen hat? Den gibt es nicht und trotzdem greifen viele Betroffene nach diesem Strohhalm.
Wer mit dem Gedanken spielt, sollte wissen, dass eine Cyanid-Vergiftung kein Schnupfen ist. Bei einem Schnupfen hat man zwar auch Probleme, genügend Luft zu bekommen, dem kann man aber leicht abhelfen. Zum Beispiel, indem man durch den Mund atmet. Cyanid nimmt einem auf ganz andere Weise die Luft: Es bindet sich an ein Eisen-Ion eines Enzyms in der Atmungskette, die daraufhin zum Erliegen kommt. Man erstickt innerlich, kein Witz.
Die individuelle Verträglichkeit von Cyanid ist dabei sehr unterschiedlich. Während der eine vielleicht tatsächlich 20 bis 30 Kerne am Tag ohne nach außen sichtbare Schäden vertragen mag, landet der nächste mit dieser Dosis auf der Intensivstation. Ich würde das nicht ausprobieren wollen.
Bittere Aprikosenkerne können Sie übrigens - als „Vitalsnack“ deklariert - kilogrammweise kaufen. Ist ja ein Lebensmittel. Das suggeriert jedoch eine trügerische Sicherheit.
Als Arzneimittel ist Amygdalin in Deutschland nicht zugelassen, weil der begründete Verdacht besteht, dass die schädlichen Wirkungen die (nicht vorhandene) positive Wirkung über ein vertretbares Maß hinaus übersteigen. Amygdalin-haltige Arzneimittel und Rezepturen dürfen in Deutschland nicht in Verkehr gebracht werden oder am Menschen angewendet werden. Nicht mal, wenn der Arzt das ausdrücklich verordnen würde.
Und (auch) deshalb gibt es tatsächlich Menschen, die behaupten, dass die pharmazeutische Industrie das „Heilmittel“ Aprikosenkerne versteckt.
Leute! Echt jetzt?
Abgesehen davon, dass es die Pharmaindustrie nicht gibt – das sind einfach unzählige Pharmaunternehmen, die nicht gemeinsam unter einer Decke stecken, sondern erbittert konkurrieren: Wenn Amygdalin (kann übrigens beliebig durch andere alternative „Krebsheilmittel“, die angeblich von der Pharmaindustrie unter Verschluss gehalten werden, ersetzt werden) tatsächlich das geheime Wundermittel wäre – irgendein pharmazeutischer Hersteller hätte sich doch schon längst daran gemacht, das Molekül soweit zu verändern, dass er ein Patent darauf anmelden kann und HÄTTE SICH DARAN EINE GOLDENE NASE VERDIENT!
Viele wichtige Medikamente der „Schulmedizin“ sind natürlichen Ursprungs: Die Vorlage für Aspirin war die Weidenrinde, das Herzmedikament Digoxin stammt aus dem giftigen Fingerhut, Opiate aus Schlafmohn. In der Krebstherapie etwa arbeitet man erfolgreich mit einer Substanz, die aus der mehr als sieben Meter hohen pazifischen Eibe stammt: Paclitaxel.
Wenn also bittere Aprikosenkerne der Schlüssel zum Heilerfolg wären, was wäre das wahrscheinlichste vorstellbare Szenario? Na also.
Ob Diät oder Nahrungsergänzung, eines sollte man bei beiden nicht vergessen: Eine eingehende Beschäftigung mit der vermeintlich besten Ernährungsweise kann in einer Situation, in der nicht viel kontrollierbar erscheint, ein Gefühl von Sicherheit geben. Emotional ist das für mich sehr gut nachvollziehbar.
Außerdem wird der komplizierte Sachverhalt der Krebsentstehung durch die Erklärungen, wie derartige Diäten wirken, angenehm vereinfacht. Man meint, seine Krankheit viel besser verstehen zu können.
Das ist jedoch nicht nur trügerisch, sondern suggeriert den Patienten auch, dass sie es selbst in der Hand haben, wieder gesund zu werden. Wenn sie denn nur alles richtig machen. Das ist gelogen und setzt die Patienten unter einen unvorstellbaren Druck. Und das ist denen gegenüber, die sich sowieso schon in einer unvorstellbar schwierigen und schmerzhaften Lage befinden, richtig mies.
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