Gefahr oder Chance als zusätzliche Option?


Einleitung:

Die "Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte" (GAÄD) ist unterteilt in mehrere "Arbeitsgemeinschaften". Die "Arbeitsgemeinschaft Anthroposophischer ZahnärztInnen" hat ein Skript herausgegeben ("Arbeitsgemeinschaft Anthroposophischer ZahnärztInnen" anklicken, rechts unten pdf herunterladen), das ich mir einmal näher angeschaut habe.

Zähnen wird im Bereich der Anthroposophie nicht nur eine Verbindung zu höheren Aspekten menschlicher Existenz, sondern auch eine Deutungsmacht zugesprochen. Veränderte Zahnformen nach durchgemachter Rachitis dienen Protagonisten dieser „Therapieform“  in der Suche nach Erklärungen dieser These als wegweisend. „Der fertige Zahn und seine umgebenden Gewebe liefern (…) einen Aufschluss über die Verhältnisse der Bildekräfte im Organismus in Beziehung zu Astralleib und Ich-Organisation.“ (Skript)

Fehlstellungen und Schiefstände im Bereich des Oberkiefers veranlassen Vertreter der AZ Rückschlüsse auf Intelligenz vermuten, weil sich im Oberkiefer „der denkende Mensch“ wiederfinde, während der Wille eher im Unterkiefer repräsentiert würde. Hinzu kommt das Postulat, die Zahnstellung liefere Zeugnis ab von vergangen Zeiten und sei somit die gerechte Konsequenz für Verfehlungen in der Vergangenheit:

„Abweichungen des symmetrischen Gebisses im Frontzahnbereich deuten auf Vereinseitigungen im Denken des vergangenen Lebens hin.“ (Quelle)

AZ im Bereich der Kinderzahnheilkunde

Eine „zu frühe bzw. zu einseitige Verstandestätigkeit“, wie sie laut Skript die Einschulung darstellen kann, wird als Faktor gedeutet, der sich negativ auch auf die Dentition, mithin auf das gesamte Erscheinungsbild des heranwachsenden Menschen auswirken kann. Geschürte Ängste, die eine „Erkrankungsgefahr für das gesamte Kausystem“ suggerieren, wenn ein von Vertretern der AZ definiertes „Gleichgewicht“ gestört wird, sollen mithilfe von „homöopathischen“ Mitteln der Firma WELEDA beruhigt werden.

Das Behandlungsfeld der durchbrechenden Zähne erweist sich als Einstiegspforte mannigfaltiger, dubios anmutender ärztlicher Tätigkeiten, die den Behandler hinausführen auf ein weites Feld therapeutischer Polypragmasie.

Als Therapieempfehlung bei Dentitionsbeschwerden wird mit der bis zu 4-mal täglichen Gabe von „Chamomilla comp.“-Suppositorien der Firma WELEDA, (Stückpreis 2,30 CHF) geworben. Schulkinder erhalten zusätzlich zu Zäpfchen oder Globuli der Firma WALA noch eine Einreibung der Fußsohlen mit Kupfersalbe selbigen Herstellers.

Die sorglose Anwendungsempfehlung sieht der Autor als höchst bedenklich an, haben  „homöopathische Komplexmittel“ schon in einigen Fällen bereits zu massiven Gesundheitsschäden und auch zu Todesfällen geführt. (Quelle)

Während ein verzögerter Zahnwechsel (Dentitio tarda) in klinisch relevanter Form nur bei selten auftretenden Syndromen oder Erkrankungen der Schilddrüse von nennenswerter Relevanz ist, wird im Bereich der AZ der „Verspätete Zahnwechsel“ zu einer behandlungsbedürftigen Entitiät stilisiert, die es mit Kieserit D6 (WELEDA) 3-mal tgl. 8-10 Tropfen im rhythmischen Wechsel von 4 Wochen Gabe und 4 Wochen Pause über einen Zeitraum von 6 Monaten“, mithin also mit einem 300 Mal (!) ausgeführten Ritual  zu therapieren gilt.

Ich frage mich: Wer soll hier beschäftigt werden und vor allem - Wem soll das dienen?

AZ im Zahn- Mund- Kieferbereich

Pulpitis

Die Entzündung eines vitalen Zahnnervs möchte niemand haben – man möchte sie nur möglichst schnell wieder los werden. Eine solche Entzündung, die besonders bei Frühstück zum Kaffee oder beim Mittagessen beim Biss in die Kartoffeln ihren Anfang nimmt, ist oftmals aufgrund der thermischen Ursache reversibel. Das in solchen Fällen wichtigste Mittel zur Intervention, die Kühlung, wird von der AZ nicht erwähnt. Der mehrfachen Injektion unterschiedlicher „homöopathischer“ Verdünnung und Komplexmittel (Firma WALA, WELEDA) wird stattdessen der Vorzug erteilt.

Eröffnete Kieferhöhle

Eine iatrogen eröffnete Kieferhöhle ist eine nach Extraktion von Seitenzähnen im Oberkiefer nicht selten vorkommende Komplikation. Sie kann, erkannt und von einem chirurgisch versierten Zahnarzt oder Kieferchirugen mithilfe einer sogenannten „plastischen Deckung“ versorgt, folgenlos bleiben. Das im Bereich der AZ propagierte Vorgehen, Injektionen von „homöopathischen“ Lösungen der Firma WALA vorzunehmen, ist überflüssig und führt lediglich zu einer zusätzlichen Traumatisierung durch eine Injektion. Unterbleibt eine plastische Deckung im Falle einer eröffneten Kieferhöhle, so kann sich eine Fistel bilden, die wiederum chronischen Sinusitiden und sehr viel Leid nach sich ziehen können.

„Kiefergelenksprobleme“

Das Kiefergelenk ist nicht selten Ausgangspunkt für verschiedene funktionelle Beschwerden. Für schmerzhafte Zustände können Gelenkveränderungen im Sinne von Kompressionen, Distraktionen, Diskusverlagerungen, Diskusabrasionen oder auch Problematiken aus dem rheumatoiden Formenkreis verantwortlich sein. Mit Hilfe einer versierten klinischen Untersuchung können ursächliche und auslösende Faktoren eingegrenzt und erkannt werden.

Nicht so in der AZ: Die von geradezu hanebüchener Verantwortungslosigkeit gekennzeichnete Therapieempfehlung der AZ entsetzt: Subcutane Injektionen (WALA, WELEDA) „in die Kiefergelenksgegend“. Zahnärztliche Funktionsdiagnostiker werden erstaunt sein, wie einfach die Welt doch sein kann. Als wären diese grotesken „Therapieempfehlungen“ noch nicht genug: Befreit von jeglicher Differenzierung erteilt man im Skript unter Punkt 3.9 Empfehlungen für die Behandlung von PatientInnen mit traumatisch bedingten Kiefergelenksbeschwerden und gibt als universelles Heilmittel die "subcutane Injektion" von Arnica (! ) zu Papier. Dabei hat der nach anthroposophischer Manier Handelnde die freie Auswahl zwischen "D4 oder D6".

Die Enttäuschung kennt auch im Kapitel über „Prophylaxe“ keine Pause. So werden neben der Verwendung alkoholischer Tinkturen (WELEDA) „basische Lebensmittel“ empfohlen und damit fundamentale biochemische Fakten schlicht ignoriert. Weiterhin ist von „Entgiftung“ und „Entschlackung“ die Rede – lauter Begrifflichkeiten, für die es  im Zusammenhang mit anerkannten biochemischen Erkenntnissen an jeglicher logischer Plausibilität mangelt.

Im Beitrag zur „Kariesprophylaxe während der Schwangerschaft“ und "Kariesprophylaxe während der Pubertät" weicht man diametral von Empfehlungen der Bundeszahnärztekammer ab und empfiehlt stattdessen „das Benetzen der Zähne und des Zahnfleisches“  mit einer alkoholischen Tinktur (Hersteller: WELEDA).

So geht es munter weiter. Egal, ob die „Behandlung überempfindlicher Zahnhälse“ oder die Behandlung einer Pulpitis thematisiert wird. Stets sollen wässerige Lösungen (in den allermeisten Fällen „homöopathische“) injiziert werden, die nachweislich – Placebo ausgenommen -  keinerlei therapeutischen Effekte bei den bemitleidenswerten gläubigen TrägerInnen der jeweiligen Beschwerdebildern erbringen.

Parodontologie

Die Parodontitis ist eine weit verbreitete Erkrankung, die nachweislich Folgeerkrankungen durch Ausbreitung der Keime auf dem Blutwege („hämatogen“) nach sich ziehen kann. Diese, vom Entstehungsort oftmals weit entfernten Infektionen, können - je nach Ausprägung und Immunreaktion –  weitaus dramatischer sein, als die eigentliche, banal anmutende Infektion einer Zahnfleischtasche. Die Zahnärzteschaft ist nach Kräften bemüht, über dieses Faktum aufzuklären, damit Folgeschäden gar nicht erst entstehen können. Die Verweise auf Pinselungen, die Applikation von Pasten (WALA / WELEDA) und  Injektionen „homöopathischer“ Zubereitungen erscheinen dem Verfasser in diesem Kontext nicht nur als  naiv, sondern, weil keinerlei kausale Therapie mit den Pinselungen, Applikationen und Pasten verbunden ist, als gefährlich.

Zahnärztliche Chirurgie

Bei allen chirurgischen Eingriffen erscheint der Hinweis auf Injektionen (WALA oder WELEDA), die, soviel kann ich nach über 30-jähriger Tätigkeit im zahnärztlich chirurgisch Bereich sagen, völlig überflüssig sind und außer einer zusätzlichen Wundirritation durch die injektionsbedingte Dehnung des Gewebes absolut überflüssig sind. Für eine erfolgreich verlaufende Operation im Zahnbereich sind außer Versiertheit, Routine und guter Assistenz (ein Haken, der ruhig gehalten wird, erzeugt weniger Schwellung!), Schnelligkeit und kompromisslos bestes Werkzeug erforderlich.

Abszesse sind Éiteransammlungen, die aufgrund hämatogener Ausbreitung bei entsprechender Disposition in einer Sepsis und damit potentiell tödlich enden können. Im Bereich der AZ sieht man das Ganze wesentlich gelassener: „Zeigt der Befund, dass ein Abszess im Entstehen ist, kann man diesen meist durch sofortige Injektion von Argentum metallicum praeparatum D30 (WELEDA) submucös in die Umschlagsfalte außerhalb des Entzündungsbereiches zur Rückbildung bringen.“

Vor einem solchen Vorgehen kann ich nur ausdrücklich warnen, weil bei der Diagnose eines Abszesses nicht vorhersagbar ist, wie schnell sich eine Ausbreitung der Keime gestaltet und jede Injektion die Gefahr einer hämatogenen Ausbreitung pathogener Keime erhöht. Abhängig vom Immunstatus kann die Ausbildung einer lebensgefährlichen Sepsis nicht ausgeschlossen werden. Daher ist ein frühes chirurgisches  Eingreifen (Inzision) einer gefährlichen therapeutischen Polypragmasie  immer vorzuziehen.

Schnelles Eingreifen kann Leben retten.

Fazit:

Die propagierten Therapieempfehlungen überzeugen nicht. Die Therapieempfehlungen führen in vielen Fällen zu Nachteilen im Sinne der Verfehlung einer schnellen indikationsgerechten zahnärztlichen Intervention und Versorgung.

In einzelnen Fällen kann von den beschriebenen Therapieempfehlungen eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung ausgehen, weil durch die propagierten Handlungen wertvolle Zeit verstreicht und somit wichtige therapeutische Maßnahmen unterbleiben.