„Wissenschaft wird von Menschen gemacht“.  Mit der Feststellung dieses „an sich selbstverständlichen Sachverhalts“ beginnt die Autobiographie von Werner Heisenberg, die 1969 unter dem Titel „Der Teil und das Ganze“ erschienen ist. Heisenbergs Satz scheint unter deutschsprachigen Wissenschaftshistorikern unbekannt zu sein, denn was immer sie über die Geschichte der Wissenschaft und ihre Theorie zu berichten wissen, auf die beteiligten Menschen legen sie keinen Wert, während ihre angelsächsischen Kollegen das Gegenteil tun. Wer das spontan und empört bezweifelt, braucht sich nur zu erkundigen, in welcher Sprache zuletzt Biographien von großen deutschen Wissenschaftlern geschrieben werden, wobei Albert Einstein übergangen werden kann.

Im letzten Jahr ist zum Beispiel in der Harvard University Press die von Frederick B. Churchill verfasste Lebensgeschichte von dem zuletzt in Freiburg tätigen August Weismann (1834-1914) erschienen, den man in den USA „als den größten Biologen aller Zeiten“ feiert, während man hierzulande Mühe hat, jemanden zu finden, der den Namen richtig schreiben kann. Vor kurzem ist in der Johns Hopkins Press in Baltimore die von Mott T. Greene geschriebene Biographie von Alfred Wegener (1880-1930) erschienen, dem die Menschheit die kühne Theorie der Kontinentalverschiebung verdankt, was in hiesigen Historikerkreisen nahezu unbeachtet geblieben ist. Die Oxford University Press hat eine neue Biographie von Max Planck auf den Markt gebracht, die von Brandon R. Brown stammt und die Reihe der englischsprachigen Lebensbeschreibungen des großen deutschen Physikers fortsetzt. Und der New Yorker Knopf Verlag legt eine umfangreiche neue Biographie von Alexander von Humboldt vor, die von der in Indien geborenen und in England lebenden Andrea Wulf geschrieben worden ist. Sie macht klar, dass Humboldt eine „Synthese von Wissenschaft und Ästhetik, von Begriff und Anschauung“ anstrebte, deren Ergebnisse er in Form von „Naturgemälden“ vorstellte, die sein Wissen erlebbar werden ließen.

Man kann diese internationale Verehrung für einen deutschen Mann der Wissenschaft mit dem unsinnigen Text vergleichen, den der zu den Intellektuellen zählende Hans Magnus Enzensberger über Humboldt geschrieben hat und in dem der stubenhockende Essayist dem unermüdlich reisenden Naturforscher vorwirft, ein „Bote der Plünderung“ gewesen zu sein, der „die Zerstörung dessen zu melden gekommen war“, was er zuvor als Naturgemälde festgehalten hatte.

Die habermas- und heideggerhörigen Intellektuellen unserer Tage kläffen auch den Größten an, und sie machen es sich leicht mit den mutigen Menschen der Wissenschaft, die sie im Grunde ihres Herzens verachten. Sie kümmern sich doch nur um unwichtige Sachen wie die Natur und denken dabei nicht einmal, wie Heidegger meint, der selbst natürlich nichts anderes tut. Entscheidend für die tiefen deutschen Denker ist das soziale Bezugssystem von handelnden Personen, nur dass aus ihm „die wissenschaftlich erforschte Natur“ herausfällt, wie bei Habermas explizit nachzulesen, der nichts von den Naturwissenschaften versteht, ihnen deshalb den Zugang zum Haus der Bildung versperrt und die Namen ihrer Vertreter – anders als die der eben zitierten Philosophen – aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden lässt. Und im Gefolge dieser ideologischen Vorgabe tragen die fleißigen beamteten deutschen Wissenschaftshistoriker weiter zu dem Vergessen bei, indem sie die Finger von entsprechenden Lebensbeschreibungen lassen.

Wer solche Bücher sucht, muss nach Amerika blicken, wie viele weitere Beispiele zeigen. Die Biographie des Physikers Max Born etwa hat die Amerikanerin Nancy Greenspan geschrieben, die Biographie des Mathematikers Georg Cantor stammt von David Foster Wallace aus New York, die Biographie des Logikers Kurt Gödel hat Rebecca Goldstein, ebenfalls aus New York, verfasst, wobei der Autor dieser Zeilen ziemlich sicher ist, dass die Leser bei der Erwähnung von Habermas und Heidegger verständnisvoll genickt haben, während die Namen von Born, Cantor und Gödel bei ihnen ebenso ein Schulterzucken hervorgerufen haben wie die Nennung von Heisenberg, dessen Autobiographie eingangs zitiert wurde.

Sonette und ein Hauptsatz

Es ist in akademischen Kreisen üblich, von den zwei Kulturen der Natur- und der Geisteswissenschaft zu reden, und ihre Trennung wird gerne mit einem Vergleich von Shakespeares Sonetten mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik veranschaulicht. Ein bildungswilliges Publikum – so denkt und schreibt man – kennt die Sonette, aber nicht den Hauptsatz, was aber hier bestritten wird. Natürlich weiß man mindestens von der Schule her, dass Shakespeare Sonette geschrieben hat, aber trotzdem wird man lange suchen müssen, um jemanden zu finden, der etwas über die Gedichte weiß und sagen kann. Das breite Publikum kennt weder Shakespeares Sonette noch den Zweiten Hauptsatz, aber die literarische Hervorbringungen werden mit dem Namen eines Menschen verknüpft, und das macht sie vertraut, auch wenn man weder viel über den Dichter noch über die Sonette weiß. Man hat wenigstens das Gefühl, sie zu kennen, und dies stellt sich bei der wissenschaftlichen Einsicht nicht ein, die ohne einen Namen und also ohne einen Urheber daherkommt – in dem Fall Rudolf Clausius, den keiner kennt.

Was in der Kunst selbstverständlich ist – nämlich dass sie Künstlern zu verdanken ist, über deren Leben sich deren Werke erschließen, sollte auch für die Wissenschaft gelten, nämlich dass sie forschenden Köpfen zu verdanken ist, deren Kreativität über einen biographischen Weg zugänglich wird. Wissenschaftler schreiten nicht logisch von Ergebnis zu Ergebnis. Sie agieren manchmal aus Verzweiflung (Max Planck), sie zeigen sich angewidert von bestimmten Erklärungen (Erwin Schrödinger), sie reagieren schockiert auf die Dummheit von Kollegen (Wolfgang Pauli), sie leiden unter ihrem ausgeleierten Gehirn (Albert Einstein), wenn die Dinge trickreich werden, und die Namen in Klammern gehören sämtlich zu Nobelpreisträgern der Physik.

Neben den aufgeführten menschlichen Zügen der großen Wissenschaft gäbe es noch viele Geschichten von Liebesverlangen, Ruhmsucht, dem Streben nach Geld und dem Vergnügen beim Betrügen zu berichten, wenn man nur bereit wäre, den Erzählungen zu lauschen, die von Forscherleben handeln. Mit der Kenntnis der persönlichen Motive können die Neugierde des Publikums und damit die Nachfrage nach naturwissenschaftlicher Bildung nur wachsen. Menschen kommen zur Kunst durch den Künstler. Menschen kommen zur Wissenschaft durch den Wissenschaftler. „Wissenschaft ohne Kunst ist unmenschlich“, wie der amerikanische Krimiautor Raymond Chandler geschrieben hat, und diesen Gedanken kann sich eine moderne Gesellschaft nicht leisten. Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Lernen wir sie kennen und zu schätzen.

Dir gefällt, was Ernst Peter Fischer schreibt?

Dann unterstütze Ernst Peter Fischer jetzt direkt: