Ich hole jetzt sehr weit aus. Das mache ich oft, und vielen Leuten geht das auf die Nerven. Ob ich nicht zum Punkt kommen könne, und ob ich nicht mal Stellung beziehen möchte, ob ich nicht aufhören könne, mich mit Aspekten und Nebenschauplätzen zu beschäftigen, die völlig egal seien.
In den meisten Fällen ist es Nein, kann ich nicht. Ein Grund für diesen durchaus mitunter zeitraubenden und aufreibenden Kopfzustand ist eine Verschwörungstheorie.
(Random fact, ein kurzer Einblick in den Kopf: Neulich hat sich ein -glaube ich- Sprachwissenschaftler darüber ausgelassen, welches Suffix an Verschwörung gehöre, damit es auch wirklich das beschreibt, was es ist. Ich mache mir hier während des Schreibens unruhige Gedanken über die inhaltliche Richtigkeit des Wortes "Verschwörungstheorie". No shit. Nur dass klar ist, wie dieser Kopf funktioniert.)
Mit ungefähr 15 Jahren hat mein Vater mir nebenbei ein Buch in die Hand gedrückt, ich solle das unbedingt lesen. Ich sollte dauernd Bücher lesen, aber bei diesem war ein "unbedingt" dabei. Das Buch heißt "The Holy Blood and the Holy Grail", es ist geschrieben von drei Briten und zeichnet anhand einer Mischung aus Mythen und Fakten eine große Verschwörungstheorie über eine möglicherweise bis heute existierende Blutlinie Jesu Christi; für mehr Details bitte das Buch lesen.
(Ich bin mir übrigens sicher -ohne Belege dafür zu haben- daß Dan Brown aus diesem Buch geklaut hat, ein Gericht sah das aber anders. Ich glaube das aber trotzdem und erzähle es auch jedem, wenn Tom Hanks mit orchestraler Hintergrundsmusik durch irgendwelche Kirchen rennt.)
Große Teile dieses Buches bestehen aus fast nerdig aneinandergereihten Quellen, historischen Ereignissen, Interpretationen und Schlußfolgerungen. Es ist erstmal egal, worum es dabei im Einzelnen geht, das Wichtige ist: Alles baut logisch aufeinander auf, zumindest so wie ich es erinnere. (Bei den aktuell kursierenden Verschwörungstheorien ist diese innere Logik oft nicht erhalten.) Am Ende saß ich fasziniert vor dem abgegriffenen Buch. Fasziniert deswegen, weil eine Geschichte, anders angeguckt und aufgearbeitet, ein völlig anderes Konstrukt werden kann. Daraus folgt aber nicht automatisch, daß, nur weil eine Geschichte anders gedacht wird, die eine Version automatisch richtiger oder wahrer ist als die andere. Genausowenig, wie für mich die Auferstehung möglich erscheint, erscheint mir die These, daß der Heilige Gral eigentlich ein Abkömmling von Jesus und Magdalena ist, zweifelhaft. Ich habe die letztere These später einem evangelischen Pastoren vorgestellt, in der Annahme, er sei wahrscheinlich nun in seinen Grundfesten erschüttert. Seine Antwort war, sehr ruhig und sehr freundlich: "Das kann alles sein. Aber selbst wenn es so wäre, es ändert nichts an meinem Glauben."
Für mich änderte das allerdings sehr viel. Die Erkenntnis, daß die meisten Dinge nicht nur eine und nicht nur zwei, sondern mitunter vielleicht hundert verschiedene Seiten haben, je nachdem, von wo man guckt, war für mich eine der wichtigsten überhaupt (es klingt sehr pathetisch, das ist mir bewusst, es ging nicht anders). Diese ganzen Seiten gibt es auch nicht nur bei Ereignissen und Geschichten, sondern auch noch bei jedem einzelnen Menschen. Das zu berücksichtigen, macht das Leben durchaus oft schwer, aber es wird dann auch erst spannend. Eine einzige Perpektive ist deutlich einfacher als fünfundsechzig davon. Eine einzige Perspektive ist wie ein Betonklotz, schwer und stabil. Fünfundsechzig Perspektiven ergeben eine Art Perpetuum mobile in Form eines Spinnennetzes. Die Perspektiven sollten geordnet und beweglich sein, sich gegenseitig stützen und gleichzeitig genau auf der anderen Seite liegen. Kritisches Denken und Toleranz funktionieren nur mit solchen Konstruktionen, nicht mit Betonklötzen.
Eine Gefahr bei fünfundsechzig Perspektiven ist, daß man sich im Netz verheddert. Diese Gefahr muß man kennen und auch wissen, daß das immer wieder passieren wird, aber dass man damit umgehen kann. Das kann man auch, sofern man ein Mindestmaß an Selbstreflexionsfähigkeit besitzt, und das haben glücklicherweise die meisten.
Unsicherheit in diesem Netz muß man aushalten. Unsicherheit ist immer schwer, aber vollkommen akzeptabel und ziemlich normal. Das wissen wir als ÄrztInnen vielleicht besser als andere Berufsgruppen, weil wir ihr jeden Tag begegnen. Ich bin mir nicht sicher, daß alle wissen, daß wir über den Körper gar nicht alles wissen. Außer natürlich einigen Menschen, die ganz genau wissen, daß ÄrztInnen überhaupt gar nichts über den Körper wissen. 99 Prozent (keine sichere Zahl, nur ein Gefühl aus dem Leben) aller Menschen mit schwereren Mandelentzündungen bekommen ein Antibiotikum und dann ist es weg. Das kann ich den Patienten mit ziemlicher Sicherheit versprechen. Aber eben nur mit ziemlicher, nicht mit absoluter. Ich kann nicht sagen, ob dieseR PatientIn (das ist frei gegendert, kann falsch sein) die oder der eine ist, bei dem das mit den Tabletten nicht funktioniert und der im Krankenhaus mit einer Blutvergiftung landet. Ja, das ist total selten. Nein, darauf muß ich nicht jedeN vorbereiten. Aber ich muß die Unsicherheit im Hinterkopf aushalten. Sie ist ein Dauerzustand, der auch nicht schrecklich ist. Sie ist neutral und einfach nur da. Die Unsicherheit ist wahr und sie wird auch nie weggehen, auch wenn von vielen unterschiedlichen Seiten oft suggeriert wird, dass man mit mehr Apps und mehr Diagnostik und einfach MEHR diese Unsicherheit ausrotten kann. Gesundheitssystem ist aber ein anderes Thema.
Unsicherheit resultiert oft in Betonklötzen, denn wenn ich meine eigene, gut festgetrampelte Perspektivenecke habe, ist alles wieder besser. Unsicherheit macht Angst und macht auch, daß man nach Fluchtwegen sucht. Das ist normal. Aber gar nicht unbedingt nötig.
Das Grundgerüst des Spinnennetzes ist Vernunft. Anders hält es meines Erachtens nicht, auch wenn andere Leute das anders sehen. Das ist meine persönliche Meinung, und in der bin ich festgefahren und werde die auch nicht aufgeben, weil ich keine Alternative dazu sehe.
Meistens passiert ja irgendwann auch noch der SuperGAU. Nicht nur, daß man seine fünfundsechzig Perspektiven in ruhigen Zeiten einnehmen soll, jetzt kommt zum Beispiel eine Pandemie dazu. Kennt überhaupt keiner, überfällt einfach die Welt und stiftet Chaos, ein wildes Durcheinander aus Angst, Langeweile, Wut, Entschleunigung und Gefühlen, die man gar nicht einordnen kann. Weil die vielleicht einfach noch nie da waren. Keine Ahnung, keiner weiß es, gefühlt weiß keiner irgendwas. Und wie in allen Cortisolsituationen übernehmen Gefühle die Weltherrschaft, leider aber nur parallel zum Virus, ausrotten können sie es nicht. Keiner weiß irgendwas? Nochmal überlegen. Die Situation ist neu, die Unsicherheit ist so präsent wie nie zuvor und enttäuscht in ganz großem Stil, aber es nützt nichts. "Frau Bela, seien Sie doch nicht so primär emotional!", hat mein erster Chef immer zu mir gesagt. Ich mache das gerne mit Gefühlen, und Gefühle machen auch gern was mit mir. Gefühle bekommen bei allen in dieser Zeit unfassbar hohe Amplituden, und es ist auch wichtig, Gefühle wahrzunehmen und zu respektieren, bei sich und bei anderen.
When the going gets tough helfen Gefühle in Reinform selten weiter. Der Stressablauf "Virus-Wegrennen-Gefahr vorbei" funktioniert hier nicht. Was funktioniert dann? Betonklotz zum Beispiel. Eine Linie haben. Stoisch durchmarschieren, nicht nach rechts und links gucken (aber möglicherweise nach rechts rücken, was eine düstere Abzweigung ist). Sich verlieren im ewig gleichen Trampelpfad, bis der eine vierspurige Autobahn mit Brüllasphalt ist.
Nun gibt es aber in Situationen, in denen keiner mehr was weiß, glücklicherweise auch immer Menschen, die doch etwas wissen. Das sind Leute, die sich mit der gerade wichtigen Materie zufällig vorher schon beschäftigt haben. Wie zum Beispiel der Kfz-Mechaniker weiß, was mit dem Motor ist. Ich weiß das nicht. Eine absurde Situation wäre diese:
Kfz-Mechaniker: "Der Keilriemen ist kaputt, ich mache das heil."
Ich: "Nein, es sind die Zündkerzen."
Kfz-Mechaniker: "Nein, es ist der Keilriemen, ich sehe das ja."
Ich: "Sie lügen. Bei meiner Schwester waren das auch die Zündkerzen und ich habe das neulich auch im Fernsehen gesehen."
Kfz-Mechaniker: "Soll ich das denn jetzt reparieren oder nicht."
Ich: "Nein, sie wollen nur mein Auto zerstören."
Klingt komisch, ist es aber gar nicht mehr. Es wäre natürlich vernünftig, den Mechaniker einfach den Keilriemen neu machen zu lassen. Es wäre vernünftig, in einer Pandemie auf diejenigen zu hören, die etwas von der Materie verstehen, weil sie sich zufällig schon ihr halbes Leben damit beschäftigen. Aber was ist, wenn diese sogenannten Experten offensichtlich auch gar nicht wissen, was los ist, wenn Wissenschaft gar nichts weiter ist als irgendwelches Gerede, das man nicht verstehen kann. In der Unsicherheit der jetzigen Lage, in der die Medizin nicht das hält, was sie sonst angeblich verspricht, in der politische Entscheidungen getroffen werden, die drei Tage später revidiert werden können und werden, in der das eigene Leben auf diversen Ebenen bedroht ist, finden Fluchtversuche in alle möglichen Richtungen statt. Eine Gesellschaft weiß plötzlich nicht mehr, wo oben und unten ist. Was wäre vielleicht auch noch vernünftig? Was zusammen zu machen. Die surreale Pandemie verbietet aber sogar das, zumindest erstmal auf körperlicher Ebene. Aber ganz schnell eben auch im Kopf. Austausch findet mit sich selbst und dem Fernseher oder dem Internet statt, positive Verstärkung bringt möglichst eine einzige Ansicht. In einer gefangenen Situation werden die anderen plötzlich zum Feind. Es ist kein Verlass auf irgendwas oder irgendwen. Ministerpräsidenten arbeiten nicht zusammen, die Regierung hat auch keine Ahnung. Die zwei wichtigsten Pfeiler, die einen tragen sollten, versagen jetzt: Politik und Medizin.
Die Schlüssel, um mit so etwas klarzukommen, sind Rationalität und Vernunft. Keine Gefühle, keine Feindbilder, keine Betonklötze. In unbekannten Situationen muß ich sortieren und ordnen, was es an Informationen gibt. Ich muß mich vernünftigerweise auf diejenigen verlassen, die bei logischer Einschätzung wohl am meisten (nicht alles!) wissen. Ich muß lernen, die Unsicherheit auszuhalten und zu akzeptieren. Es ist vollkommen normal, daß die Experten im Moment das beitragen, was sie wissen, daß die Meinungen hier aber auseinandergehen. Es ist notwendig, zu verstehen, daß Wissenschaft nicht alles weiß, aber dass sie deswegen nicht wertlos ist. Es ist auch normal, daß wir uns selbst eine Meinung dazu bilden. Soviele Perspektiven wie in diesem Spinnennetz hat wahrscheinlich niemand von uns jemals erlebt. Das ist alles schwer und ungewohnt. Ich weiß.
Es ist und bleibt erstmal eine Ausnahmesituation. Das muß man immer im Kopf behalten. Die Spielregeln des Lebens können von heute auf morgen wieder anders sein, es wird subjektiv falsch empfundene Entscheidungen geben. Es gibt Leid. Vor mir sitzen Patienten auf dem Behandlungsstuhl, die um ihre am Virus verstorbenen Angehörigen weinen. Eltern, die zuviel Alkohol trinken und heimlich im Badezimmer weinen, wenn die Kinder die Bude zerlegen. Senioren, die ihre Freunde nicht sehen können. Ungefähr die Hälfte der Menschen, die mir in der Sprechstunde begegnen, sind wütend, daß die andere Hälfte sich nicht an Spielregeln hält. Die andere Hälfte sagt, daß die Masken Freiheitsberaubung sind. Die Welt ist ausgelaugt und vor allem schwarz-weiß.
All das ist verständlich. Die Differenzen in den Meinungen sind verständlich. Die sind sogar unheimlich wichtig, denn abweichende Meinungen sind ein Teil des Spinnennetzes, mit denen man eigentlich auch gut umgehen kann. Ich habe es schon gesagt und betone es nochmal, das Grundgerüst muß Vernunft sein. Wenn es das nicht mehr ist, und sich eine Bevölkerung nicht mehr auf eine gemeinsame Wahrheit einigen kann, dann funktioniert etwas nicht. Wenn ein Teil der Gesellschaft Vernunft nicht akzeptiert, geht etwas schief. Es ist richtig, sich alle Meinungen zu einem Thema anzuhören und diese grundsätzlich auch zu respektieren und zu tolerieren. Wenn Diskussionen aber nur noch aus persönlichen Meinungen und Gefühlen bestehen, wenn Diskussionen zu Monologen werden, wenn Fachwissen egal wird und abstruse Gedankengebäude nach rechts rutschen, dann haben wir ein ganz großes Problem. Wissen kann nicht durch Glauben ersetzt werden. Das, was für den Pastoren von vorhin in Ordnung war, ist in dieser Situation nicht in Ordnung. Die Gegenposition zu einer bestehenden Ansicht ist nicht plötzlich die Wahrheit, weil sie die Gegenposition ist. Wo wird die Grenze gezogen zwischen anderer Meinung und Desinformation? Offensichtlich braucht es einen Mob im Capitol, damit Regeln im Netz greifen, die die populistische Hetze eines Despoten unterbinden. Oder darf der sowas sagen. Oder wer darf überhaupt was sagen. Ist es förderlich, wenn die Presse zusätzlich in bestehende Gräben haut und polemische und inhaltlich nicht richtige Kommentare veröffentlicht? Wieviel Toleranz muss man denen gegenüber zeigen, die auf den Straßen ohne Masken Polonaisen tanzen, während die eigene Mutter intubiert auf der Intensivstation liegt? Ab welchem Punkt darf man aufhören, nachweisliche Falschbehauptungen zu akzeptieren?
Auch diese Situation ist in ihrem Ausmaß neu.
Was der richtige Weg ist, werden wir wahrscheinlich nie wissen, wahrscheinlich gibt es diesen einen richtigen Weg auch gar nicht. Jeder Einzelne muss sich seiner Verantwortung in dieser Pandemie bewusst sein und sich entsprechend verhalten. Das gilt nicht nur für Journalisten, Politiker, Mediziner und Epidemiologen, sondern für uns alle, die jeden Tag aufs Neue der Unsicherheit begegnen. Das Leben mit dem Virus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Leitstruktur muss die Vernunft bleiben.
Wenn die Vernunft rausgeschmissen wird, haben wir verloren.