Deutschland versucht Energiewende. Der Ausbau von Photovoltaik und Windkraft stockt. Nordrhein-Westfalen will Windräder nur noch erlauben, wenn sie mindestens einen Kilometer von der nächsten Wohnsiedlung entfernt aufgestellt werden. Für Braunkohle-Tagebaue wie Garzweiler gilt diese Einschränkung nicht. Ähnlich streng sind die Abstandsregeln für Windkraftanlagen unter anderem in Bayern. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme. Im Februar mussten die Betreiber einwandfrei funktionierende Windräder im niedersächsischen Alfstedt abbauen, weil sie für ihren Strom an der Börse zeitweise nur noch einen Cent je Kilowattstunde bekommen. Dafür lässt sich selbst der günstige Windstrom nicht produzieren. Kostendeckend wären nach einem Bericht der Tagesschau vom Februar etwa 3,6 Cent. Bundesweit fallen Windräder mit einer Leistung von zusammen 16 Gigawatt (GW) in den kommenden vier Jahren aus der EEG-Förderung. Zwei Drittel davon stehen an Standorten, an denen keine neuen - und damit auch leistungsfähigeren - Anlagen mehr gebaut werden dürfen.
Strom: An der Börse immer billiger, für Verbraucher immer teurer
Ähnlich geht es den Betreibern von Fotovoltaikanlagen, die nach 20 Jahren aus der EEG-Förderung herausfallen. Bis 2032 trifft dies nach Berechnungen der Wirtschaftsberatung PWC bis zu eine Million Solaranlagen.
Gleichzeitig zahlen die deutschen Verbraucher*innen mit durchschnittlich 31 Cent/Kilowattstunde (kwh)die höchsten Strompreise in der Europäischen Union. Trotz steigender Energieeffizienz und Energiesparmaßnahmen steigt der Stromverbrauch weiter. Umweltministerin Svenja Schulze schätzt, dass Deutschland bis 2030 100 Terawattstunden (TWh) mehr an Strom verbrauchen wird, als bisher berechnet. Um den Bedarf zu decken, müssten statt der geplanten 71 in diesem Jahrzehnt 95 Gigawatt (GW) Windkraftleistung an Land und 150 statt 100 GW Fotovoltaik-Leistung zusätzlich installiert werden.
Klimaneutrales Deutschland
Deutschland will wie die gesamte Europäische Union bis 2050 klimaneutral werden. Bis 2030 sollen die Treibhausgas-Emissionen gegenüber dem Basisjahr 1990 um 65 Prozent sinken. Dazu muss nicht nur die Umstellung auf erneuerbare Energien schneller vorankommen. Erreichbar sind die Ziele nur, wenn Elektrizität fossile Energieträger wie Kohle, Öl und Gas ersetzt. Autos sollen elektrisch fahren. Stahl-, Zement- und andere Industrien setzen auf Wasserstoff (H2) als alternativen Brennstoff. Man gewinnt diesen durch Aufspaltung von Wasser (H2O) in Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O), die Elektrolyse. Diese verbraucht sehr viel Strom. Klimafreundlich funktioniert das nur mit Elektrizität aus Wind- und Solarenergie.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW in Berlin beziffert die Kosten für die Umstellung auf drei Billionen Euro. Davon werde man aber zwei Billionen beim Import fossiler Brennstoffe wieder einsparen. Energiewirtschaftliche Modellrechnungen zeigten, „dass eine klimaneutrale Wirtschaft bis spätestens 2050 kostengünstig durch eine vollständige Umstellung des fossil-atomaren Energiesystems auf 100 Prozent erneuerbare Energieträger erreicht werden kann“.
Wind und Sonne stellen keine Rechnung
Die Denkfabrik Agora Energiewende zeigt in ihrer Studie „Klimaneutrales Deutschland“, wie dieser Weg aussehen kann: Bis 2030 fahren acht von zehn neu zugelassenen Autos mit Elektroantrieb. Sechs Millionen Wärmepumpen ersetzen Gas- und Ölheizungen und aus erneuerbaren Energiequellen gewonnener „sauberer“ Wasserstoff liefert den Gegenwert von 60 TWh Energie.
Den Mehrbedarf an Fotovoltaik schätzt die Studie dafür auf 355 GW Leistung. Bei Windkraft an Land wären es 130 und auf See (offshore) 70 GW. Dann würden die „Erneuerbaren“ 88 Prozent des deutschen Energiebedarfs decken. Weitere sieben Prozent kämen aus ehemaligen Gaskraftwerken, die mit aus „Grünstrom“ gewonnenem Wasserstoff befeuert würden., Die restlichen fünf Prozent lieferten Stromspeicher sowie Wasserkraftwerke aus Norwegen und den Alpen. Die Umstellungskosten schätzt Agora auf 70 Milliarden Euro pro Jahr, also etwa ein Zehntel der jährlichen Investitionen in die deutsche Wirtschaft. Dafür spare man die Ausgaben für fossile Brennstoffe und Kosten für die Folgen der Erderwärmung.
Wind und Sonne liefern kostenlos Energie. Allerdings lassen sich die Erträge nicht vorhersehen. Bei Sturm müssen Windräder abgeschaltet werden, weil die Netze den Strom nicht mehr aufnehmen können. Bei Flaute produzieren die Anlagen zu wenig. Auch die Sonne scheint nicht gleichmäßig.
Smarte Verbundnetze
Je besser die europäischen Netze miteinander verbunden sind, desto mehr gleichen sich diese Effekte aus. Fehlt Windstrom in Norddeutschland, liefern Solarkraftwerke in Südeuropa oder Windräder an der Atlantikküste die fehlende Energie und umgekehrt. Auch intelligente Netze, so genannte Smart Grids, helfen. Sie steuern den Stromverbrauch nach dem Angebot. So springen Wasch- oder Spülmaschinen per Fernsteuerung an, wenn gerade viel Strom zur Verfügung steht. Auch Wärmepumpen für die Heizung von Häusern und andere elektrische Geräte lassen sich entsprechend steuern.
Power to Liquid und Power to Gas
Dennoch wird der Stromverbrauch im Zuge der Energiewende in den nächsten Jahren deutlich steigen. Die Agora Energiewende schätzt ihn auf 960 TWh im Jahr 2050 bei jährlich 1,3 Prozent Wirtschaftswachstum. Heute sind es rund 590 TWh pro Jahr. Gebraucht wird dieser Zuwachs vor allem für die Herstellung von Wasserstoff und „alternativen Kraftstoffen“, die zum Beispiel Flugzeuge, Schiffe, Züge und Lastwagen antreiben. Bisher sind die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor nicht zurück gegangen. Weil immer mehr Fahrzeuge unterwegs sind, haben sparsamere Motoren die Gesamtbilanz nicht verbessert.
Stromspeicher statt Erdgas
Für die Umstellung von Industrie und Verkehr auf erneuerbare Energien gibt es zahlreiche Konzepte. Die Grundidee: Der Strom wird in gut speicherbare Energieträger wie Wasserstoff oder Methanol umgewandelt. So hat der Wissenschaftler Franz Josef Radermacher, Mitglied im Club of Rome und im Global Marshal Plan, in seinem Buch „Der Milliardenjoker“ einen Plan für eine Methanolwirtschaft vorgelegt: Erneuerbare Energien könne man zur Herstellung von Wasserstoff nutzen und diesen mit Kohlendioxid (CO2) aus der Luft oder aus Industrieabgasen zu Methanol (CH4O) synthetisieren. Dieser Prozess bindet das klimaschädliche Treibhausgas CO2. Weiterer Vorteil: Methanol lasse sich - einfacher als der flüchtige, hochexplosive Wasserstoff - in Öl- und Erdgastanks Tanks lagern, über vorhandene Pipelines und mit Öltankern transportieren. Und: Die meisten Motoren könnten Methanol ohne große Umbauten als Treibstoff nutzen.
Methanolwirtschaft
Doch Radermacher sieht auch die Nachteile: Methanol enthält nur etwa halb so viel nutzbare Energie wie Benzin. Für die gleiche Motorleistung benötige man daher etwa doppelt so viel Treibstoff. Und: Auch wenn Methanol wegen des zusätzlichen Sauerstoff-Atoms sauberer verbrenne als herkömmliches Benzin, verursacht es doch umweltschädliche Abgase, darunter das CO2, das es bei seiner Herstellung gebunden hat. Fürs Klima bleibt daher bestenfalls ein Nullsummenspiel. Dennoch schädige eine solche Methanolwirtschaft das Klima weniger, als die Verbrennung von Erdgas, Kohle oder Erdöl.
Ähnlich funktioniert das Power to Gas-Konzept. Wasserstoff reagiert mit Kohlendioxid zu Methan, dem wichtigsten Bestandteil von Erdgas. Methan lasse sich daher problemlos in die vorhandene Erdgas-Infrastruktur einspeisen.
Noch sind diese Verfahren teuer und ihr Wirkungsgrad mit rund 35 Prozent ähnlich niedrig, wie das Verbrennen von Kohle, Öl oder Erdgas in Kraftwerken oder Motoren.
Power to Heat
Besser schneiden die verschiedenen Power to Heat verfahren ab. Hier werden Wasserstoff oder andere mit Hilfe erneuerbarer Energien gewonnener Treibstoffe in Motoren und Heizanlagen direkt verbrannt. Der Wirkungsgrad dieser Verbrennungsprozesse liege bei annähernd 100 Prozent.
Irrweg Erdgas
Dennoch wirbt die Erdgas-Industrie weiter für konventionelles Erdgas als „Brückentechnologie“. Auch wenn die Verbrennung von Erdgas das Klima deutlich weniger belastet als der Einsatz von Kohle und Erdöl, bleibt die Klima- und Umweltbilanz des Rohstoffs über die gesamte Herstellungs- und Verarbeitungskette verheerend. Allein aus den stillgelegten britischen Erdgas-Bohrlöchern in der Nordsee entweichen jedes Jahr rund 3.700 Tonnen Methan, weiteres aus anderen Erdgasfeldern und Pipelines. Unverbrannt verstärkt das Gas die Erderwärmung rund 80 mal mehr als Kohlendioxid. Die Klimabilanz des Fracking-Gases aus Nordamerika fällt noch schlechter aus. Dort wird das Gas mithilfe giftiger Chemikalien aus dem Boden gelöst. Rückstände gelangen ins Grundwasser. Nach einem Bericht des Environmental Defense Fund belasten allein die Öl- und Gasindustrie in den USA das Weltklima mit jährlich 13 Millionen Tonnen Methan. Daran ändert auch der Geheim-Versuch des deutschen Finanzministers nichts, mit Milliarden aus der Steuerkasse die US-Regierung von ihrem Widerstand gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nordstream 2 abzubringen. Die USA wollen ihr Fracking-Gas nach Europa exportieren. Derzeit entstehen dazu Entlade-Terminals an der deutschen Nordseeküste. Insgesamt plant Europa Investitionen von mehr als 100 Milliarden Euro in die Erdgas-Infrastruktur. Ihren Klimazielen kommt die EU damit nicht näher. Im Gegenteil. „Jede Investition in fossile Infrastruktur, dazu gehören Erdgas-Pipelines und Flüssiggasterminals, wird eine verlorene Investition sein“, schreibt dazu Claudia Kemfert, Energieexpertin des DIW Berlin.
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