Vor mehr als fünf Jahren habe ich, nachdem Maajid Nawaz mit „regressive Linke“ (ReLi) einen Begriff dafür gegeben hatte, mein Unbehagen angesichts der zunehmenden Verbreitung jener neuen politischen Religion und ihrer Narrative verschriftlicht:

Die neue Religion der regressiven Linken

Ich warf ihr vor, daß sie

illiberale Taktiken einsetzt, um diejenigen zum Schweigen zu bringen, die liberale Prinzipien wie Kunst- und Meinungsfreiheit verteidigen.

daß sie unliebsame Äußerungen

unter dem Banner der „politischen Korrektheit“ bekämpft und dabei durchaus eine Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung nicht nur in Kauf genommen sondern tatsächlich gefordert [hat], aus Angst, Minderheiten zu beleidigen

und ich sah damals bereits

Erste Anzeichen für das Aufkeimen der ReLi auch in Deutschland

Gut vier Jahre ist es her, daß ich, kurz nach der Wahl jenes

Horror-Clowns mit Nukes [, jenes] erschütternd ignoranten, narzisstischen Bajazzos, rassistischen […], homophoben, frauenverachtenden Chauvis [und] pathologischen Lügners

spekulierte, daß dessen Wahlerfolg zum Teil die Auswirkung einer trotzigen Gegenreaktion gegen jene übergriffige und aggressive Ideologie gewesen war, die also ironischerweise zur Inthronisierung genau desjenigen beigetragen hatte, der alles das verkörpert, ja ikonisiert, was sie am meisten verabscheut.

Heute stehen die USA und damit die Welt nach vier Jahren seiner absolut grotesken, verheerenden skandalüberladenen und normenzertrümmernden Regierungszeit nicht nur auf einem Corona-Leichenberg, sondern auch vor der nächsten, womöglich schicksalhaften Präsidentschaftswahl und man darf sich fragen, ob und welchen Einfluß die ReLi und der Widerstand gegen ihre Zumutungen diesmal haben wird.

In den letzten vier Jahren hat sich die ReLi weiter verbreitet, in den politisch links-liberal orientierten Colleges der USA vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten („Humanities“) festgesetzt und konsolidiert. Sie hat die inzwischen viel diskutierte Cancel Culture hervorgebracht, und zieht gerade eine (akademische) Generation heran, die Caroline Fourest in ihrer brandneuen Streitschrift als „Generation Beleidigt“ [1] bezeichnet, die nur daran denke, zu zensieren, was sie oder auch nur eine vermeintlich schutzbedürftige Minderheit kränken oder beleidigen könnte und dafür eine nie dagewesene Überwachung und Kontrolle öffentlichen Redens und Denkens betreibe.

Diese durch die ReLi und ihre Lehre deformierte Generation wächst an ideologisch und thematisch desinfizierten und sterilisierten Universitäten mit Saferooms, strikten Sprachregeln und „Cultural Sensitivity“-Büros, dafür ohne epistemiologische Resilienz auf, unfähig, Widerspruch zu ertragen und ist charakterisiert durch eine regelrechte Ambiguitätsphobie und einen heiligen Konformitäts- und Orthodoxieeifer, der klarmacht, daß sich die auf die Regenbogenfahnen geschriebene Diversität sicher nicht auf Gedanken- und Meinungsvielfalt bezieht. So diskriminiert sie abweichende Meinungen und fürchtet „frevelhafte“, xy-istische, weil nicht konforme Gedanken und Sprache, wie der/die/das Teufel*In (m/w/d) das Weihwasser und erklärt “cultural appropriation” (kulturelle Aneigung) zur neuen Gotteslästerung. Und lieber wird ein geladener Redner gecancelt oder „entplattformt“, bevor er auch nur die Chance erhält, etwas zu sagen, was jemandem nicht gefallen oder sie gar beleidigen könnte und das betrifft nicht nur Personen mit stramm rechten Positionen, sondern auch liberale, gesittete britische Gentlemen wie R. Dawkins. Die ReLi geriert sich mithin als moralistisch-inquisitorische Kulturpolizei, die alles Geschriebene und Gesagte mit der Lupe nach Mikroaggressionen durchsucht, was natürlich den identitären und “man wird ja wohl noch sagen dürfenden” Rechten in die Hände spielt, die ihren Widerstand dagegen dann fast schon glaubwürdig als Verteidigung der Freiheit inszenieren können. Das ist freilich mißlich und ärgerlich, wenn man, wie z.B. auch ich, findet, daß eigentlich die extremen Rechten unsere Feinde sein sollten.

If we don’t believe in freedom of expression for people we despise, we don’t believe in it at all.   (Wenn wir nicht an Meinungsfreiheit für Leute glauben, die wir verabscheuen, glauben wir gar nicht daran; Ü: von mir)                           --N. Chomsky (ausgerechnet)

Kurzer Exkurs zu den Wurzeln

Die ReLi hat ihren ideologischen Unterbau, ihre philosophische „Kodifizierung“, die v.a. im Englischen nur als „Theory“ (als eigenständiger Begriff) bezeichnet wird, aus dem „applied turn“ (dt. etwa „Wende zur Anwendbarkeit“) des Postmodernismus‘  abgeleitet. Diese philosophische „Spielart“ (?), die sich ca. 1960 zu formen begann, geht im Wesentlichen zurück auf Lyotard, Derrida und Foucault. Der Postmodernismus lehnt „Metanarrative“ ab, also weitreichende, zusammenhängende Erklärungen von Welt und Gesellschaft, darunter etwa Moderne und Modernismus, Christentum und Marxismus, aber eben auch „Wissenschaft“, Vernunft und die Säulen aufgeklärter westlicher Demokratien.

Der Postmodernismus vertritt einen radikalen Skeptizismus gegenüber der bloßen Möglichkeit, objektives Wissen zu erlangen und erklärt Wissen, Wahrheit, Bedeutung und Moral zu kulturell konstruierten, relativen Produkten individueller Kulturen, deren keine die nötigen Mittel und Werkzeuge besitzt, die jeweils anderen zu beurteilen. Damit lehnt der Postmodernismus also auch die schiere Möglichkeit der Grundlagen, auf denen die Moderne steht, ab und brüstet sich gar mit Pluralität, Widersprüchlichkeit und Ambiguität und die Zweifel, die er an der Struktur des Denkens und der Gesellschaft hegt, sind so radikal, daß er letztlich als eine Form von Zynismus gesehen werden kann. In gewissem Sinne strebt er also die Abwicklung der Aufklärung an und fordert eine Abwendung vom Individualismus („Tod des Subjekts“) und Hinwendung zum Kollektivismus. Nicht verwunderlich also, daß einem das religiös vorkommen kann.

Im Gegensatz zum originären Postmodernismus aber, der von nihilistisch verzweifelten Akademikern spielerisch und höchst ironisch gedacht wurde und der in seinem radikalen epistemologischen Skeptizismus natürlich völlig verkopft und theoretisch war, nimmt die „angewandte“ bzw. anwendbare Version an, die aus dem „applied turn“ hervorging, an, daß es doch einige faktische, objektive Wahrheiten gibt: Unterdrückung und Ungerechtigkeit der und Leid durch Unterdrückung. Ihr Axiom, Descartes überwindend, wäre demnach: „Ich erfahre Unterdrückung, also bin ich…und also sind Beherrschung und Unterdrückung“. Und das wird zur Linsen, durch die die ganze Welt betrachtet wird. Mehr zu diesen Hintergründen und Begriffen gibt es bei [2].

Die „ReLi-gion“, die über den Trümmern der dekonstruierten „alten Religionen“ und auf diesem Fundament des angewandten Postmodernismus neu gegründet wurde, nennt sich „Social Justice“ (Soziale Gerechtigkeit, SG) und ihre Ausübenden werden manchmal als Social Justice „Warriors“ (Krieger) bezeichnet. Diese nehmen die Welt durch jene Linse wahr, mit der sie in jeder Interaktion, Äußerung und jedem kulturellen Artefakt Machtdynamiken finden, auch wenn sie nicht offensichtlich oder überhaupt real sind. So entsteht eine Weltsicht, in deren Zentrum soziale und kulturelle Kränkungen stehen, die aus allem ein politisches Nullsummenspiel um Identitätsmarker wie „Rasse“, Geschlecht, Gender, Sexualität  und natürlich deren „Intersektion“ machen will und alle menschlichen soziologischen Interaktion auf die zynischstmögliche Weise interpretiert: die Gesellschaft sei demnach aufgeteilt in dominante und marginalisierte Identitäten und unterbaut mit unsichtbaren Systemen von „weißer Vorherrschaft“ (white supremacy), Patriarchat, Cisnormativität, Ableismus und „Fettphobie“.

An den Universitäten hat die postmoderne SG-ReLi inzwischen eine ganze Batterie von Studienfächern, die man mit L. Lindsay als „Grievance Studies“, also in etwa „Kränkungs- und Mißstands-Lehren“ bezeichnen könnte, hervorgebracht, darunter Queer-Theorie, Critical race theory, Disability Studies, Fat Studies und Gender Studies – über einen halb scherzhaften, halb ernstgemeinten Streich, den ein paar Kritiker den Leuten aus letzteren gespielt haben, habe ich hier einmal berichtet: Die Kritiker wollten damit beweisen, daß die „Forschung“ zu Rasse, „Gender“, Sexualität, zusammen mit Soziologie, durch Gruppendenken, Bestätigungsfehler und  Wunschdenken geleitet wird, wodurch in diesen (Unter)fächern regelmäßig Falsches und regelrechter Unfug publiziert wird. Die ReLi hingegen, und das ist das Problem, würde sagen, daß die Forderung, daß Behauptungen mit belastbaren und nachprüfbaren Belegen gestützt werden müssen, einem konstruierten Verständnis von Wissen(serzeugung) in einem andere, „alternative“ Formen des Diskurses unterdrückenden Macht-Narrativ entspringt und daher abgelehnt werde. Wenn man dann fragt, wie sie wiederum diese Behauptung begründen und belegen können, verweisen sie abermals auf ihre Prämisse, dies nicht zu müssen und daß eine solche Forderung erst gar nicht zu stellen sei und dann wir haben eine petitio principii bzw. einen infiniten Regress, die in meiner Welt das Ende eines Argumentes bedeuten würde, aber in der relativistischen epistemologischen Balla-balla-Welt der ReLi-Welt natürlich nicht :-/

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Das macht konstruktive Diskussionen sehr schwer, da jeder Widerspruch, jedes Gegenargument als untrügliches Zeichen der moralischen Verworfenheit des sie Äußernden und dessen Komplizenschaft mit den Unterdrückern interpretiert und er mit den üblichen Etiketten als „Rassist“, „Sexist“, „Ableist“, „Chauvinist“ und dergleichen mehr  gebrandmarkt wird. Natürlich verwässert das die Wucht dieser Begriffe bis zur Bedeutungslosigkeit und erschwert die Identifizierung, Abgrenzung und Bekämpfung echter Rass- und sonstiger Isten. Besonders deutlich wird die Gefahr, die die ReLi und die kompromißlose Anwendung ihrer Prinzipien für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft darstellen, aber auch noch an einer anderen Stelle, nämlich wenn man sich ihre Position zum Islam vergegenwärtigt:

Islamistisch motivierte Morde in kurzer Folge in Paris, Nizza und Wien.

Wie wichtig Kritik an dieser Religion und ihren verheerenden politischen und gesellschaftlichen Ambitionen ist, wird schmerzhaft deutlich in Anbetracht von gleich drei in kurzer Folge begangenen, monströsen Morden in Frankreich und Österreich. Ich selber habe den Islam hier immer wieder kritisiert, z.B. anläßlich von Terrorakten in seinem Namen oder hinsichtlich seines Umgangs mit Frauen(rechten), doch in den Augen der ReLi gehöre ich als weißer, cis-gender, heterosexueller und mit Privilegien überhäufter Mann natürlich zu den Erzbösen und was ich zu sagen habe, kann schon allein wegen meiner Identität nicht richtig und gültig sein. Der Islam als Fetisch ihrer Unterdrückungsobsession ist der ReLi allerdings so heilig und unantastbar, daß sie Kritik nicht einmal von (ex-)muslimischen, nicht-deutschstämmigen und „nicht-weißen“ Kritiker_*:Innen (m/w/d*_innen) gelten läßt, denn die ungefragt von der ReLi in Schutz genommenen Minderheiten können nur Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie die „richtigen Unterdrücker“ haben, also Rechte und Reiche, Imperialisten und Kapitalisten. Gehört der Kritiker = Unterdrücker jedoch selbst dieser Minderheit an, die einen Teil ihrer Mitglieder, also eine Minderheit innerhalb der Minderheit, aufgrund etwa religiöser oder sexualpreferentieller Motive verfolgt, ergibt sich bei der ReLi eine kognitive Dissonanz, die sie auflöst, indem sie die Kritiker angreift oder cancelt und dabei zugleich die von der Minderheit unterdrückten Minderheiten (z.B. moslemische Frauen, Schwule und Atheisten in islamischen Ländern) im Stich läßt. Nebenbei: die grundsätzliche Ambiguität, die darin liegt, daß Menschen einerseits Opfer systemischen bzw. echten Rassismus‘, Antimoslemismus’ oder Fremdenfeindlichkeit und zugleich Täter im Namen einer faschistoiden Ideologie wie dem Islam sein können, ist für die ReLi unprozessierbar. Die Täterkomponente wird einfach ausgeblendet (sie passt ja auch nicht ins schöngefärbte Bild, s. Bestätigungsfehler und Wunschdenken). (Ex)moslemische Islamkritiker, die genau das deutlich machen müssen dann nicht nur wegen „Blasphemie und Ketzerei“ mit Todesdrohungen und Angriffen der Islamisten rechnen, sondern auch mit Verleumdungen, Unterstellungen und Rufschädigungen durch die ReLi (s. Cancel Culture). Das kann dann soweit gehen, daß Institutionen wie das US-amerikanische Southern Poverty Law Center, das, wie die Ziele der ReLi einen grundsätzlich guten Kern hat, islamische Reformer wie Maajid Nawaz, der Gewalt strikt ablehnt und Vorstand eines Anti-Extremismus-Think-Tanks ist, als „antimoslemischen Extremisten“ öffentlich brandmarken und somit Verfolgung, Drohungen und Angriffen aussetzen (Nawaz ging dagegen gerichtlich vor, gewann und erhielt 3,4 Mio. $ Schadenersetz).

Sire, Geben Sie Gedankenfreiheit!                                                                        -----Schiller, Don Carlos

Langsam erhebt sich aber auch Widerstand gegen die ReLi. So hat sich etwa eine Gruppe von inzwischen über 4000 Akademikern zusammengeschlossen und mit der „Heterodox Academy“ einen (Online)Ort geschaffen, an dem Gedanken frei und uncancelbar geäußert werden können. Dieser Widerstand hat inzwischen sogar eigene intellektuelle Superstars hervorgebracht, denn Jordan Peterson (ich persönlich kann ja mit seinem Geplänkel mit biblischen Weisheiten und christlichem Glauben nicht viel anfangen), der einen millionenfach verkauften Bestseller geschrieben hat, wurde überhaupt erst bekannt, weil er gegen die kanadische Bill C-16 protestierte, die er als politische Auswirkung von ReLi-Ideologie auffaßte und die die Verwendung bestimmter Pronomen und Begriffe zur Anrede von Trans-Personen vorschreibt und damit, so Peterson, in die Freiheit der Rede eingreife. Doch auch in Deutschland haben inzwischen einige Linke und Linksliberale (zu letzteren wohl auch ich zählen würde, wenn ich mich politisch verorten müsste) die Gefahr erkannt. So räumten neben S. Lobo auch K. Kühnert und D. Bartsch im Nachklang zu dem o.g. islamistischen Mord an dem Pariser Lehrer ein, daß die Linke endlich ihr betretenes Schweigen angesichts islamistischen Terrors brechen und zu einer klaren und auch ausdrücklichen Kritik nicht nur der Taten sondern auch der zugrundeliegenden Ideologie finden müsse. Dies bedürfte natürlich der Überwindung des in diesen Kreisen verbreiteten intellektuellen Hochverrats, der darin liegt, islamisch motivierte Verbrechen entweder gar nicht zu diskutieren oder am besten gleich grundsätzlich als notwendige Folge des westlichen Kolonialismus umzulügen. Man kann nur hoffen, daß das gelingt.

Es bleibt also festzustellen, daß es gerade jetzt und gerade heute entscheidend ist, die Wahrheit auszusprechen, auch wenn sie unpopulär ist, Kritik zu äußern, auch wenn sie schmerzt und sich nicht von der ReLi, ihrer ideologischen Propaganda und ihren Kampfbegriffen einschüchtern, zum Schweigen bringen oder in irgendwelche Ecken drängen zu lassen und trotzdem und gerade jetzt für Toleranz, Freiheit, Humanismus und gleiche Rechte für jeden Menschen einzustehen.

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Quellen:

[1] “Generation Beleidigt”, 2020, Caroline Fourest, Edition Tiamat

[2] „ Cynical Theories: How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity–And Why This Harms Everybody “, 2020, Helen Pluckrose und James Lindsay, Pitchstone Pub

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Anhang

Für die des Englischen Kundigen gibt es für das Verstehen sehr hilfreiche Videos:

Außerdem gibt es hier ein aktuelles Interview mit M. Khorchide, einem Islam-Reformer, der den Islam für reformierbar und dringend reformierungsbedürftig hält und erklärt, warum er sich von der Linken, die islamistische Verbrechen nicht kritisieren, im Stich gelassen fühlt.