An manchen Orten spielt Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Westberlin war so ein Ort. Wo Zeit lediglich ein abstraktes Konzept darstellte, das nur für manche Leute von Bedeutung war. Sie saßen zu viert in einer Bar an der Yorckstrasse, Ecke Mehringdamm. Zeit war nicht wichtig. Keiner von ihnen musste am nächsten Tag früh aufstehen. Die Bar, in der sie ursprünglich abhängen wollten, hatte ihr Konzept geändert. Anstatt Wave und Punk spielte man dort jetzt House, Hip-Hop und DJ Westbam. Auf die Tanzfläche hatte irgendein Schwachkopf eine Art Löwenkäfig gestellt und das Publikum trug schreiend neon-bunte Klamotten. Das Smiley Logo, das zuletzt in den späten Siebzigern modern gewesen war, schmückte gefühlt jedes dritte T-Shirt. Und fast jeder in dem Laden war auf Ecstasy. Die Pillen trugen ebenfalls das Smiley Logo. Eingestanzt in die pudrige Oberfläche. Es war grauenhaft. „Was zum Henker ist verkehrt an Haschisch?“ fragte Sven in die Runde und trank einen Schluck Bier. Dann verzog er angewidert das Gesicht. „Ich werd´ mich nie an diese Berliner Brühe gewöhnen können. Das Zeug schmeckt schon schal, wenn es aus dem Hahn kommt.“ Er stellte das Glas ab und signalisierte dem gruseligen Typen hinter der Bar ihnen vier Tequila zu bringen. „Ne, ernsthaft, ich mein´, wenn man sich schön abschießen will, säuft man, wenn man einen coolen, relaxten Flow will, kifft man. Und wenn man die ganze Nacht und länger durchfeiern will, kokst man. Aber Acid, das versteh´ ich nicht.“ Der Tequila kam. Der Barkeeper war lang und dünn, sein Gesicht war blass, hohlwangig und geschminkt. Die rechte Kopfseite war fast kahl rasiert und über die linke fiel eine glatt gekämmte Popper-Tolle. Der Look sollte wohl existenzialistisch wirken. In Kombination mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte wirkte es allerdings eher unheimlich. Irgendwie schwarz-weiß. Wie ein Stummfilmvampir. Sven reichte ihm sein leeres Bierglas. „Noch eins. Und tu mir bitte ein paar Eiswürfel rein. Das ist sonst nicht zu ertragen. Danke.“ Der Barkeeper nickte mit einer Leichenbestattermiene. Amore Jones, der eigentlich ganz schlicht Thomas hieß, trank einen Schluck. „So schlimm ist das Bier nun auch nicht. Aber, …echt? Du hast noch nie Acid probiert?“ Sven schüttelte den Kopf. „Ne. Und wenn, dann würd ich unter Aufsicht vielleicht mal LSD probieren. Das soll ja eine existentielle Erfahrung sein. Aber Acid? In ´ner Disse? No way, José!“ Amore Jones nickte. „Auch wahr, na ja, eigentlich ist es ganz kuschelig. Also Ecstasy zumindest. Die Welt ist schön und alles ist wie in Zuckerwatte gehüllt. Aber, …ok, das ist nicht jedermanns Sache.“ Er strich die schulterlangen, blonden Haare nach hinten. Er hatte ein kantiges, immer gebräuntes Gesicht und strahlend blaue Augen. Berlin-untypisch. Wäre man nur nach der äußeren Erscheinung gegangen, hätte man ihn entweder als Hanseaten oder als Münchner Stenz eingeordnet. In jedem Fall als Sohn von Beruf, was bei ihm sogar stimmte. Amore Jones war hauptberuflich Frühstücksdirektor und nebenbei Keyboarder und Sänger in einer Wavepop-Band namens Subconciousness. Ihr bislang größter Hit war ein Punk-Uptempo Cover des BeeGees Songs Massachusetts. Ein Songtitel, der für manche ebenso schwer auszusprechen war, wie der Bandname. „Und was fangen wir jetzt mit dem Abend an?“ fragte Ben und zog vielsagend die Augenbrauen hoch. „SO36? Fischlabor? Billard im Sexton? Oder ins Kumpelnest?“ Amore zuckte mit den Schultern und schaute Sven an. „Was meinst du? Kreuzberg? Ins 36?“ Sven schüttelte den Kopf. „Ne, da ist heute zu viel los. Genauso wie im Fischlabor. Sexton? Da können wir gleich hier bleiben, dasselbe in Grün. Kumpelnest ist ok, aber ich hab heut nicht so Bock auf Schwulenbar.“ „Ich hoffe doch sehr, dass das kein Seitenhieb war!“ Ben hob wieder die Augenbrauen. Er tat das mittlerweile unbewusst und ständig. Was mal als affektiert-ironische Masche begonnen hatte, war zu einem Automatismus geworden. Sven grinste Ben an. „Das solltest du doch wissen, mein Bester. Ich liebe schwule Bars. Aber heute muss es nicht unbedingt sein. Das Nest ist eh besser am Freitag.“ Ben lehnte sich vor und prostete Sven zu. „Stimmt, Freitag rennen da die ganzen schwulen Intellektuellen rum. Ja, …das hat was. Na jut, ick vajebe dir, Darling. Aber am nächsten Samstag begleitest du mich ins Lipstick zur Strafe!“ Sven zog einen Schmollmund. Ben lachte. „Tu nicht so. Du stehst doch auf die ganzen Schranklesben!“ Sven grinste leicht verlegen. Ben hatte nicht unrecht, sein Exotenstatus als Heteromann machte ihn zu einem seltenen Objekt der Begierde im Lipstick. Er musste dazu gar nichts tun, gut sichtbar und unaufdringlich in der Gegend herumstehen reichte vollkommen. „Hättet ihr Bock aufs Café Nord?“ Harald hatte sein zweites Bier geleert und war endlich aufgetaut. Ben blickte ihn verblüfft an. „Du weißt aber schon, mein Hase, dass das Nord im Osten liegt, oder?“ Harald schob den noch unberührten Tequila von sich, strich über seinen schütteren Schnurrbart und lächelte leicht. „Ich weiß. Darum ja.“ Er schaute in die Runde. „Kommt Jungs, auf ein kleines Abenteuer! Drinks hinterm Eisernen Vorhang! Ich fahre!“ „Wie soll das denn gehen? Um die Uhrzeit kommen wir doch gar nicht mehr rein nach Ostberlin.“ Ben betrachtete die Idee nüchtern und nach ihrer Durchführbarkeit. Harald beugte sich vor. „Ganz einfach. Wir fahren auf die Transitstrecke Richtung Hamburg, biegen dann Richtung Pankow ab und sind in ´ner knappen halben Stunde auf der Schönhauser Allee und im Café Nord.“ Amore Jones griff nach dem Tequila, den Harald von sich geschoben hatte. „Den brauchst du ja nicht mehr. Das ist eine reichlich bescheuerte Idee. Macht sich gut in meiner Biografie. Bin dabei.“ Sven und Ben sahen sich an und grinsten. „Euch ist schon klar, dass wir in Bautzen landen, wenn die uns erwischen?“ Harald nickte und zuckte mit den Achseln. „Das Risiko ist überschaubar. Nachts ist kaum ein VoPo auf der Straße unterwegs. Wozu auch? Da passiert sowieso nichts. Im Osten gibt’s kein Saturday Night Fever. Und wenn wir zurückfahren, müssen wir uns an der Transit-Grenze eben einfach blöd stellen.“ Sven warf einen Blick auf seine Digitaluhr. „Wenn wir das durchziehen wollen, sollten wir jetzt los. Bis wann haben die offen?“ Harald stand auf. „Bis drei oder vier, je nachdem was los ist.“ „Lohnt sich ja kaum noch, ist ja schon nach eins.“ „Egal, ich hab jetzt Bock auf Wodka mit Club Cola, Rotkäppchen Sekt, Karo-Kippen und wenn´s geht, einen strammen Helden der Arbeit!“ Ben hatte bereits klare Vorstellungen. Wie das mit Vorstellungen so ist, wird die Realität ihnen selten gerecht. Das Café Nord war optisch zwar ein schwüler Traum in Plüsch und Brokattapete, das Publikum hingegen hielt nicht, was das Ambiente versprach. Aber, wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte Ben das auch nicht erwartet. Er stupste Harald an. „Gib´s zu, du wolltest endlich mal wieder unter deinesgleichen einen trinken.“ „Häh? Wieso? Weil ich ein gebürtiger Ossi bin?“ „Nö, weil du hier nicht der einzige Vokuhila mit Rotzbremse bist.“ Harald grinste matt. Er war es gewohnt, von Ben aufgezogen zu werden. Ben legte einen Arm um Haralds Schulter. „Weißt du eigentlich, dass ich nebenberuflich Maskenbildner im Theater des Westens bin?“ „Nein“, Harald schaute ihn verblüfft an und versuchte herauszufinden, ob Ben ihn wieder verschaukelte. „Ich weiß nur, dass du Koch bist.“ Aber Ben meinte es ernst. „Und weißt du was das bedeutet?“ Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. „Es bedeutet, dass ich ein Mann mit Stil, Geschmack und dem Talent zur Verschönerung meiner Mitmenschen bin. Und wenn wir heute Nacht nicht verhaftet werden, dann verpass ich dir die Stilberatung deines Lebens, mein Hase!“ „Und wieso?“ „Weil...“, Ben zog vielsagend die arg strapazierten Brauen hoch, „du, mein Hase, von dem Typen an der Tür vorhin angeguckt worden bist, als kämst du aus ´nem Dorf im Tal der Ahnungslosen.“ Er machte eine kurze Kunstpause. „Und wenn einem so etwas in Ostberlin, der Heimat der Popelinjacke und des Topfhaarschnitts, passiert, ja dann, mein Hase, dann wird’s Zeit für einen neuen Look!“ Ben verstrubbelte Haralds Vokuhila. „Und damit fangen wir an!“ Harald seufzte innerlich. Gegen Bens Enthusiasmus war, seiner Erfahrung nach, kein Kraut gewachsen. Ob er wollte oder nicht, Ben hatte sich ihn als Projekt ausgesucht und würde ihn erst vom Haken lassen, wenn er ihn optisch in die Mitte der 80er gezerrt hätte. Harald verabschiedete sich innerlich schon einmal von seinem Schnurrbart. Er konnte Ben ansehen, dass er ihn in Gedanken bereits umdekorierte wie ein Schaufenster im KaDeWe. Sven hatte am Tresen eine Flasche Rotkäppchen besorgt und mit Westmark bezahlt. Eine Brünette in einem neongrünen Stretchkleid lächelte ihn spekulierend an. Sven lächelte höflich zurück und hoffte keine falschen Signale zu senden. Amore wiederrum schaute eine langbeinige Blonde in enger genähten Jinglers Jeans intensiv an. Er nutzte, wie so oft, die blauäugige, vielsagende Miene, die er extra für die Bühne einstudiert hatte. Sie schien kurz zu überlegen, warf ihm einen raschen, provozierenden Blick zu und wandt sich erneut einem kleinen Dicken zu, der seine Hand besitzergreifend auf ihren Oberschenkel legte. Amore grinste in sich hinein. „Genau, Süße“, dachte er. „Bleib bei deiner sicheren Bank.“ Ben und Sven rauchten, mit mehr Vergnügen als Genuss, Karos ohne Filter. Das Beste an diesen Zigaretten war ihre Verpackung, die mehr als nur einen Designer Award verdient hätte. Da derartige Preise aber etwas zutiefst dekadent Westliches waren, kam diese schöne Schachtel nie in den Genuss einer solchen Auszeichnung. Die Atmosphäre im Café Nord war eigenartig. Natürlich fielen sie auf. Sie waren zwar nicht die einzigen Westler hier, aber die einzigen, die nicht aussahen wie Mitglieder einer Handelskommission, Botschaftsangestellte, Nachwuchsspione, Journalisten oder Westberliner Sugardaddys. Optisch wirkte das Café Nord, als ob jemand versucht hätte, eine 70er Jahre Disco aufgrund von Hörensagen und unscharfen Fotos nachzugestalten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Publikum. Im Westen pflegten die Gäste eines Clubs zwar oft einen gewissen gelangweilten Stil, zwischen Dekadenz, Ennui und modischem Lebensüberdruss. Aber sie taten das mit einer natürlichen Unbeschwertheit. Im Café Nord hingegen wirkten die Gäste wie die Komparsen in einem Potemkin’schen Dorf. Es lag eine gewisse freudlose Spannung in der Luft, nur unzureichend überdeckt von einem künstlichen Mienenspiel. Die Fassade der fröhlichen Freizeitgestaltung war so bröckelig wie der billige Lidschatten auf den meisten Frauengesichtern. Sven bemerkte eine merkwürdige Anspannung in vielen Gesichtern. Es erschien ihm wie die misstrauische Hoffnung während eines Waffenstillstands im Schützengraben. Er fühlte sich an die Kneipenszene aus dem Film Anatevka erinnert. Die Brünette in Neonstretch stöckelte an ihnen vorbei und warf Sven einen weiteren interessierten Blick zu. Harald knuffte ihn leicht in die Rippen. „Bloß nicht. Die ist nicht koscher.“ „Wieso? Wie kommst du drauf?“ „Das Make-Up. Viel zu gut. Das ist Westqualität.“ Sven überlegte kurz und nickte. Er hatte vermutlich recht. Die Neongrüne war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Stasitussi. In von Westlern frequentierten Bars, waren das die meisten hübschen Frauen. Ostberlin war durch und durch paranoid. Es würde ohnehin wenig Sinn machen, hier eine Frau anzuquatschen. Das Risiko erwischt zu werden, hier, illegal hinter dem Eisernen Vorhang, würde dadurch nur noch steigen. Ben schlenderte Richtung Theke und kam mit vier Club-Cola-Wodka wieder. „Einen Drink noch und dann sollten wir abschwirren. Wir haben unser Glück jetzt lang genug strapaziert.“ Die anderen nickten. Vielleicht war es nur eine ganz normale Paranoia, aber die Blicke einiger Gäste im Nord kamen ihnen zunehmend misstrauisch vor. Sie verhielten sich weiterhin so unauffällig wie möglich. Eine halbe Stunde später verließen sie das Lokal. Harald öffnete den Kofferraum seines Opels und holte drei volle und einige leere Bierdosen heraus. „Kommt Jungs, jeder zischt jetzt schön gemütlich während der Fahrt ein Bierchen. Die leeren Dosen einfach auf den Boden vor eure Füße. In ein paar Minuten sind wir am Grenzübergang und müssen ein dummes Gesicht machen.“ Amore Jones kicherte und setzte sich auf die Rückbank des alten Opels. Es war kurz vor vier und es wurde bereits hell. Nach wie vor waren sie fast allein auf den Straßen Ostberlins unterwegs. Jedes Fahrzeug, das an ihnen vorbeifuhr, machte sie nervös. Als Harald dann endlich auf die Transitstrecke abbog, stießen sie einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus. „Ben! Pack die Karos weg!“ Harald warf Ben im Rückspiegel einen strafenden Blick zu. „Jetzt kommts auf Details an. Deshalb auch die leeren Bierdosen. Klar? Tommy?“ Amore schaute hoch. „Ja?“ „Du bist an der Grenze gleich der Trottel vom Dienst. Sag nix, grins blöd und sei ein Proll, ok?“ „Darf ich auch ein Proll sein? Bitte-Bitte!“ Ben schaute Harald im Rückspiegel mit einem flehenden Hundeblick an. Obwohl er nervös war, musste Harald lachen. „Am besten ihr seid alle etwas Prolo.“ Die Grenzanlagen kamen in Sicht. Sven fühlte, wie sein Puls beschleunigte. Vermutlich ging es allen so. „Das war eine Scheißidee“, dachte er. Harald ließ den Wagen mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit auf den Grenzpost zurollen. Er kurbelte das Fenster hinunter und grüßte den Uniformierten freundlich. „Juten Morjen, Herr Offissier.“ Wenn Harald berlinerte, dann richtig. Einschließlich des gelispelten Z. Der Mann in der moosgrünen Uniform regierte nicht auf den Gruß. „Papiere!“ Harald wendete sich seinen Beifahrern zu. „Männa, die Ausweise bütte!“ Der Grenzer sah auf den ersten Blick, dass die Insassen dieses Fahrzeugs nicht in Hamburg angekommen waren. Das ließ nur wenige Schlussfolgerungen zu. Er straffte sich innerlich. Mit ein wenig Glück bedeutete diese Situation künftige Privilegien. „Fahren Sie da links ran. Aussteigen. Alle.“ Er winkte einen jüngeren Kollegen heran. Sie konnten nicht hören, was die beiden mit einander besprachen. Die Blicke, die man ihnen zuwarf, waren durchaus geeignet, sie nervös zu machen. „Ruhig bleiben Männer“, murmelte Harald. „Die wollen uns nur kirre machen. Die haben nix.“ Sven wunderte sich über Harald. So abgebrüht kannte er ihn nicht. Der hinzugekommene Uniformierte notierte etwas in seinem Notizbüchlein und ging hinüber zum Wachhaus. Der Grenzer betrachtete die Reisepässe in seiner Hand. Noch vor zwei, drei Jahren hätte er den Wagen Schraube für Schraube auseinandergenommen. Aber seit der Erste Sekretär des Zentralkomitees einen Freundschaftsbesuch im Westen absolviert hatte, hieß es Vorsicht walten zu lassen. So machte die ganze Sache keinen Spaß mehr. Er wedelte mit den Pässen und ließ sie in seine Handfläche klatschen. „Nun? Wo sind sie gewesen?“ „Wia sin´ in Rüchtung Hamburch untaweechs jewesen. Ham denn aba widda umjedreht, so nach etwa üba eena Stunde.“ Harald schaute den Grenzer in aller Unschuld an. „Wieso? Was war der Grund?“ Harald verdrehte die Augen hinter seiner randlosen Brille und deutete auf Amore Jones. „Der Primeltopp hier. Will in Hamburch een auf dicke Hose machen un´ vajisst seene Kreditkarte. Jott sei Dank hamma dit noch jemerkt untaweechs.“ Amore grinste freundlich debil und rülpste laut. Ben applaudierte und trank noch einen Schluck Dosenbier. „Zum Wohlsein und Prosit, Kamerad!“ Der Grenzer schaute beide aus zusammengekniffenen Augen an. Er musste sich sehr beherrschen, um diese degenerierte Bande nicht nach allen Regeln der Kunst zusammenzustauchen. Harald hob entschuldigend die Arme. „Ick bütte um Vazeihung, die sin´ janz schön anjeschickert. Dit is ma amtlich.“ „Kofferraum!“ Er inspizierte Innenraum und Kofferraum des Wagens. Er war gut geschult. Das Versteck in einem PKW, dass er nicht kannte, gab es nicht. Nach einigen Minuten kam er zu dem Schluss, dass in diesem Wagen kein Republikflüchtling versteckt worden war. Zu gern hätte er die Sitze und die Rückbank ausgebaut oder mit einer Sonde in die Sitze gestochen. Aber sowas durfte er ja nicht mehr. Er überprüfte die Reisepässe genau. Er verglich die Passbilder mit den dazugehörigen Personen. Die Pässe schienen nicht manipuliert worden zu sein. Die Bilder passten zu den Passinhabern. Blieb nur noch eine Möglichkeit. Jetzt kam es auf seinen Kollegen an, der überprüfte, ob der Wagen irgendwo aufgefallen oder aufgezeichnet worden war. Sven lehnte sich an den Opel und streckte sich. Seine Nervosität war abgeklungen. Jetzt war er nur noch genervt von diesem uniformierten Schrebergärtner. Er zündete sich eine Zigarette an und reichte die Schachtel an Ben weiter. „Hasse nich´ noch ´n Bier, Harald?“ „Koffaraum“! Amore und Ben rülpsten synchron. „Juta Jedanke mein Besta!“ Alle rauchten. Die Sonne war bereits aufgegangen. Rot leuchtend hing sie am Horizont. Irgendwo dort hinten lag der Ku´Damm. Es würde ein schöner, warmer Sommertag werden. Die Tür des Wachhauses öffnete sich und der jüngere Grenzbeamte ging mit der Zackigkeit eines Berufsuniformierten auf die kleine Gruppe zu. Der ältere Grenzer bedeutete ihnen mit einer Geste zu bleiben, wo sie waren. Ihm gefiel nicht, was sein Kollege zu berichten hatte. Aber es half nichts. Nun, wenigstens ein paar Minuten konnte er dieses Gesindel noch schmoren lassen. Schließlich ging er auf die Verdächtigen zu. Er drückte Harald die Pässe in die Hand. „Weiterfahren.“ „Allet in Ordnung, Herr Offissier?“ „Einsteigen! Weiterfahren!“ Nur jahrelange Disziplin, bis hin zur Selbstverleugnung, ließ den Grenzbeamten seine Wut im Zaum halten. Er war bleich vor Zorn. Er hatte das Gefühl, dass man ihn vorgeführt hatte, wie einen dressierten Affen. Als der Opel davonfuhr, drehte er sich auf dem Absatz um. Noch nie hatte er so sehr eine Zigarette gebraucht. Als sie an dem Schild „You are entering the American Sector“ vorbeifuhren, atmeten sie alle erleichtert durch. „Hat noch jemand Hunger?“ Ben warf einen fragenden Blick in die Runde. Sven schaute auf die Uhr. „Frühstück? Das Sydney hat schon offen.“ „Normal ja. Aber jetzt brauch ich was Fettiges. Einen Burger. Und ´ne richtige Cola.“ „Ben hat recht“, meinte Harald. „Fastfood ist jetzt das einzig Richtige.“ Eine Viertelstunde später saßen sie auf den Treppenstufen vor der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche und bissen in ihre Big Macs. Es war kurz vor sechs. Nachtschwärmer flanierten heimwärts und die Frühschicht hastete an ihnen vorbei. Ein Obdachloser schob seinen vollgepackten Einkaufswagen über den Platz. Ein Anzugträger ging schnellen Schrittes in Richtung Zoopalast. Zwei Asiatinnen in Minikleidern pfiffen nach einem Taxi und ein einsamer Punk überquerte die Budapester Straße. Die Stadt hatte noch nicht die übliche Betriebslautstärke. Man konnte noch ein paar Vögel zwitschern hören. Sven trank den letzten Schluck seiner Cola. „Das machen wir aber nicht öfter…“ „Ne! Ganz bestimmt nicht, Darling!“ „Aber es ist ´ne gute Geschichte, oder?“ „Das ist es, Tommy, das ist es…“ Sie schwiegen und rauchten. Es war bereits angenehm warm. Sven dachte an die Neongrüne. Sie hatte ihm gefallen. Etwas in ihren Gesichtszügen hatte ihn berührt. Schade. Die Morgensonne schien ihm ins Gesicht. Jetzt würde er nach Hause gehen. Ein wenig schlafen, dann ein paar Badesachen einpacken und an den Plötzensee fahren. Er würde sich in die Sonne legen, einen Spliff rauchen und auf dem Steg ein paar Stunden dösen. Sven blickte auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Am einundzwanzigsten Juni. Sommeranfang. Er lächelte und erhob sich. „Ciao, Männer. Ciao, Amore. Wir sehen uns.“ Tommy „Amore Jones“ grinste belustigt. Er mochte dieses Wortspiel. Sven gähnte, winkte noch einmal und schlenderte in Richtung U-Bahn.
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