Berlin - Mittwoch, den 22. Dezember 2021 ‌‌ |‌  #Tuttlingen #Triage #Menschenleben

Die heutige Ausgabe #CoronaUpdate beschäftigt sich mit der Situation in Tuttlingen und dem dahinterstehenden Problem. Zudem zeigt die Recherche einen Mangel an Problembewusstsein und zeigt die größten Kritikpunkte an dem Vorgehen des Kreises.


Das Problem mit der "Triage" in Tuttlingen

  • RKI meldet 45.659 Neuinfektionen
    Sieben-Tage-Inzidenzwert sinkt auf 289

    ‌- Hospitalisierungsinzidenz sinkt
    - @Thüringen           - Inzidenz: 750,2
    ‌‌- @Sachsen-Anhalt - Inzidenz: 605,9
    ‌‌- @Sachsen               - Inzidenz: 580,1
  • Update aus der Hauptstadt
  • Situation auf den Intensivstationen

Das Problem mit der "Triage" in Tuttlingen

Durch einen Beitrag der Seite abilitywatch.de gibt es aktuell wieder Diskussion rund um die Triage und vor allem um eine vorgelagerte (nicht medizinische) Sortierung der Patienten.

Um was geht es hier genau?
In dem Schreiben, welches an Pflegeeinrichtungen im Landkreis Tuttlingen ging, geht es zusammengefasst darum, dass man alte und behinderte Menschen eher nicht in die Klinik schicken sollte. Nach dem Tenor im Brief, sei dies nötig, da die klinische Versorgung im Kreis sonst nicht gewährleistet sein könnte. Der Geschäftsführer des Klinikums Landkreis Tuttlingen und der Dezernent für Arbeit und Soziales beschreiben in dem ersten Teil des Briefes die aktuelle Situation in der Klinik, doch dann wird schnell klar um was es dem Kreis mit diesem Schreiben geht: Man möchte die Kliniken entlasten, in dem man die behinderten und alten Menschen möglichst nicht in der Klinik lassen möchte.

Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die Betreuer und Pflegekräfte praktisch selektieren. Dafür solle man "den mutmaßlichen oder tatsächlichen Willen" der Bewohner*innen feststellen und mit diesem Handeln könnte man "sehr viel zur Verhinderung einer Überlastung  der zur Verfügung stehenden Behandlungsressourcen beitragen". Der Blick des Kreises schweift dann schnell auf den Punkt Lebensqualität. So sollen die klinischen Ressourcen den Menschen "mit einer guten Prognose mit Blick auf eine Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität" zur Verfügung gestellt werden.
Das Wort Lebensqualität selbst mag erst einmal unverfänglich klingen, doch dahinter steht die deutliche Einteilung und Bewertung von Leben. Wie soll man die Lebensfreude ermitteln oder gar die Qualität des Lebens?

Am Ende ist das Ziel des Kreises klar: Die Pflegeeinrichtungen sollen möglichst auf die Bewohner*innen, Betreuer*innen und Angehörige einwirken und damit möglichst ein Verzicht auf die Behandlung gegen Corona ermöglichen, wenn die Mitarbeiter die Aussichten schlecht bewerten. Doch können dies die Mitarbeiter überhaupt?

Recht auf Leben und Behandlung

Nach dem Grundgesetz ist dies auch nicht von Bedeutung. Artikel 1 steht nicht ohne Grund an Stelle 1 und die Würde des Menschen ist "zu achten und zu schützen". "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit", steht zudem noch im Artikel 2 des Grundgesetzes. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat sich mit dem Anspruch auf medizinische Versorgung bereits in der Vergangenheit beschäftigt. Im Jahr 2015 kam man zu folgender Erkenntnis: "Aus der Verbindung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit mit dem Sozialstaatsprinzip folgt […], dass der Staat verpflichtet ist, ein funktionsfähiges Gesundheitssystem zu errichten." Der Dienst bezog sich dabei auch ausdrücklich auf das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 / Art. 2 Abs. 2 Satz 1 / Art. 20 Abs. 1)

Aussortierung von Menschleben?

Man fordert sogar die Einrichtungen auf, solche Bewohner*innen, welche schlechte Behandlungsaussichten hätten, nur der palliativen Behandlung zuzuführen. Wer diese Aussichten feststellen soll, ist nur nicht erwähnt. Doch es darf schon fast davon ausgegangen werden, dass auch hier die Einrichtungen und deren Mitarbeiter*innen damit gemeinst sein dürften. Es ist praktisch eine Form von vorauseilender Triage. Manche bezeichnen dies auch als verdeckte Triage.

Mitarbeiter*innen sollen Menschenleben bewerten und aussortieren...
Wir sprechen hier nicht von Indikationen, welche an einen Behandlungserfolg zweifeln lassen könnte, sondern schlicht von dem Faktor Alter und Behinderung. In dem Schreiben des Kreises geht es daher nicht um eine notwendige medizinische Bewertung, sondern lediglich um die Aussortierung von Menschen. Solche Vorgänge wurden in den Kreisen von Behinderten seit dem Beginn der Pandemie befürchtet. Es wäre schon schlimm genug, wenn Ärzte eine Entscheidung im Rahmen der Triage treffen müssten. Sollte unser Gesundheitssystem überlastet werden, kann eine solche Entscheidung notwendig werden, aber auch diese muss sich an strikten Punkten orientieren und im Einklang mit den Gesetzten stehen. Der ethische Maßstab dürfte hoch sein.

Die erste Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu diesem Thema wurde öffentlich massiv angegriffen.
Erst kürzlich änderte man die Empfehlung und machte klar, dass eine Priorisierung wegen einer Vorerkrankung oder Behinderung nicht zulässig sei.
Relevant kann eine Vorerkrankung nach dieser Empfehlung ohnehin nur sein, wenn diese die Überlebenschancen beeinflussen könnte. Die DIVI gibt als Beispiele bestimmte Stadien von Erkrankung des Herzens, der Niere oder Leber an.

Reaktionen

Besonders bestürzt reagierte die Caritas. Unter anderem hinterfragt man hier auch, wie die Bewertung überhaupt zustande kommen soll. Der Aufruf, dass diese Patienten möglichst nicht die Krankenhäuser behelligen sollen, löste dort ein Gefühl der Fassungslosigkeit aus und dem Beirat erinnert es gar an dunkle Zeit zurück.

Das Schreiben würde bei Behinderten und deren Angehörigen "existenzielle Ängste" wecken, "dass sie im Falle einer schwerwiegenden Erkrankung zugunsten nicht behinderter und / oder jüngerer Menschen nicht intensivmedizinisch behandelt oder erst gar nicht ins Krankenhaus aufgenommen werden."

"Wir sind fassungslos angesichts der Handlungsaufforderung, aber auch angesichts der Diktion, in dem zitierten Schreiben", berichtet Gerold Abrahamczik, Sprecher des Angehörigenbeirates der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP).

Die Stiftung St. Franziskurs ist ein Träger der Wohlfahrtspflege im Kreis und richtet ein Schreiben an den Kreis, in welcher man mit großer Sorge auf den Appell des Kreises blickt und diesen entschieden zurückweist. Man sehe sich vor allem nicht in der Lage solche Entscheidungen vorzunehmen.

"Wir tragen in dieser Hinsicht auch dazu bei, dass diese Personengruppen ihre Grundrechte wahrnehmen können. Wir sehen unseren Auftrag nicht darin, Menschen von denen ihnen zustehenden Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen fern zu halten."

Die Einschätzung über der Behandlungsprognose lehnt man mit dem Verweis auf die Kompetenz entschieden ab, da sie "keine grundlegenden Prognosen oder Facheinschätzungen über den Gesundheitszustand von Klienten abgeben" könnten. "Die Ermittlung des „Willens“ ist eine hochsensible Aufgabe, die umfassende zeitliche und fachliche Ressourcen benötigt und die in der aktuellen Pandemie Situation so kaum ethisch vertretbar durchgeführt werden kann."

So kommt in dem Schreiben zum Ausdruck, dass man bei einer solchen Befragung der Klient*innen fürchtet, einen zu großen Druck aufzubauen und somit die Betroffenen in eine bestimmte Richtung zu drängen. Die Stiftung bittet um die Rücknahme des Appells und der Anlage.

Der Kreis jedenfalls versteht die Aufregung nicht so wirklich und spricht weiterhin von einer Fürsorge und sieht in dem Vorgang keine Diskriminierung.
"Es ist nicht zielführend, die Verantwortung allein auf das Gesundheitswesen abzuschieben und mit Grundrechten auf medizinische Versorgung zu argumentieren. Daher können wir die Kritik eines großen Trägers im Landkreis nicht ganz nachvollziehen".
Die Kritik der Stiftung kann man laut dem Landratsamt nicht nachvollziehen, denn von den "anderen Einrichtungen haben wir diese Vorwürfe nicht erfahren." Zudem weist man "die Kommentare im Internet" als nicht relevant zurück. Wichtig seien ohnehin nur "die Rückmeldungen der Heime".

An dem Papier hält der Kreis selbst weiter fest und sieht diesen Appell, als "an der Realität" orientiert und bezieht sich nochmals auf die angebliche Sozialgemeinschaft.

Bewertung - eigene Meinung

Der Landkreis hat aus meiner Sicht eine ganz eigene Perversion der Sozialgemeinschaft entwickelt. Eigentlich war es ja mal so gedacht, dass die vermeidlich starken Kräfte den Schwachen helfen sollten. Die Gemeinschaft als soziales Konstrukt, welche in bestimmten Notlagen für einander einstehen. Öffentliche Kliniken sollen ein Ort sein, an dem jeder Mensch eine Behandlung erfahren kann. Sollte es zu der Situation der Triage kommen, dann müsste die Bewertung anhand der Überlebenschance getroffen werden und nicht an einer vermeintlichen Bewertung der Lebensqualität. Die rote Linie hat der Kreis deutlich übertreten, auch wenn der Gedanke ursprünglich ein anderer war. Aus Vorsorge und vermeintlicher Fürsorge wird so eine Abschottung und das Sortieren von Menschenleben, welches wirklich an die schlimmsten Zeiten der Vergangenheit in Deutschland erinnert.

Der Kreis zeigt für all das kaum ein Bewusstsein, denn Hauptsache, die Heime nicken das Vorgehen ab. Was die Betroffenen denken und die Gemeinschaft scheint im Tuttlinger Landratsamt keine Rolle zuspielen. Ob so im Jahre 2021 wirklich agiert werden sollte, oder ob dies ein Überbleibsel aus den vergangenen Jahrzehnten sein mag - dies mag ich nicht beurteilten. Jedoch zeigt der Kreis ein Untermaß an Problembewusstsein. Die Perversion der Fürsorge scheint dort jedenfalls auffindbar ...

RKI meldet 45.659 Neuinfektionen
Sieben-Tage-Inzidenzwert gesunken auf 289


Innerhalb von 24 Stunden registrierten die Gesundheitsämter 45.659 Neuinfektionen. Der durch das Robert-Koch-Institut (RKI) bekanntgegebene Sieben-Tage-Inzidenzwert sank heute auf einen Wert von 289 (Vortag 306).

510 Todesfälle wurden binnen eines Tages registriert.  Seit dem Beginn der Pandemie wurden 109.324 Todesfälle in Deutschland gemeldet.

Hospitalisierungsinzidenz

Der Wert der Hospitalisierungsinzidenz ist gesunken und liegt bei 4,57 und für alle Personen ab 60 Jahren ist der Wert mit 10,33 angegeben.

Die Dienstagswerte lagen bei 4,73 und für die Personengruppe ab 60 bei 10,77.

Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen

@Thüringen - In Thüringen liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert bei einem Stand von 750,2 (Gestern: 776,9). 3.055 neue Infektionsfälle wurden von dort innerhalb der letzten 24 Stunden gemeldet.
Seit dem Beginn der Pandemie infizierten sich in dem Bundesland mindestens 275.485 Personen, davon starben 5.657 (+30 seit Dienstag²).

@Sachsen-Anhalt - Der Sieben-Tage-Inzidenzwert liegt bei einem Stand von 605,9 und 2.222 Neuinfizierte wurden durch die Gesundheitsämter registriert (Gestern: 650,5).
Seit dem Beginn der Pandemie infizierten sich alleine in Sachsen-Anhalt mindestens 214.294 Menschen, davon starben 4.138 (+34 seit Dienstag²).

@Sachsen - Der heutige Sieben-Tage-Inzidenzwert wurde mit 580,1 angegeben. Am Dienstag lag der Wert noch bei 662,1.
4.731 neue Infektionsfälle wurden innerhalb von 24 Stunden an das Robert-Koch-Institut gemeldet.
Seit dem Beginn der Pandemie wurden alleine in Sachsen 628.540 Menschen nachweislich infiziert und davon verstarben 12.408 (+107 seit Dienstag²).

Im Bundesland Schleswig-Holstein liegt der Sieben-Tage-Inzidenzwert bei 166,5.

Weitere Daten für alle Länder, Kreise und kreisfreien Städte finden sich in den nachfolgenden Karten:

Hier findet sich die "gewohnten Karten":

Update aus der Hauptstadt

@Berlin -  Heute wurden 2.294 Neuninfektionen durch die Gesundheitsämter gemeldet. Der Sieben-Tage-Inzidenzwert liegt nun bei einem Wert von 326,1 (Dienstag: 325,8).‌‌  Seit dem Beginn der Pandemie infizierten sich alleine in Berlin 314.953 Menschen mit dem Coronavirus, davon starben 3.976 (+7 seit Dienstag).

Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sank der Inzidenzwert heute auf einen Wert von 456,44 und verfügt damit weiterhin über die höchste Inzidenz im Land Berlin. Seit dem Beginn der Pandemie infizierten sich hier mindestens 19.329 Person, davon starben nachweislich 275 (1,42 %)

Situation auf den Intensivstationen:

‌‌(ONS) - In der Bundesrepublik Deutschland werden 4.503 (Dienstag: 4.542) erwachsene Covid-Patienten auf einer ITS behandelt, davon 57,87 Prozent invasiv beatmet (2.606 Personen). ‌‌
Für Covid-19-Fälle liegt die freie Kapazität bei 1.098 (Di.: 1.068). ‌‌
Die deutschlandweite Notfallreserve beträgt 8.255 Betten, welche innerhalb von sieben Tagen aufstellbar wären (Di.: 8.252). Insgesamt sind 19.500, der 22.135 Intensivbetten, belegt.³ Die Auslastung der Betten (Belegung) lag um 8:05 Uhr bei 85,58 Prozent.


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² Nachmeldungen (der Todeszahlen) sind möglich und es können Nachmeldungen enthalten sein

³ Stand der ITS-Daten 22.12.2021 08:05 Uhr

! = Höchstwert

(ONS) - Grafiken, Daten und News

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