Sie hatte es geschafft, gerade noch rechtzeitig. Fast ein Jahr hatte sie an dem Geschenk gearbeitet und nun war es endlich fertig. Schön verpackt hatte sie es auch - mit einem blauen Schleifchen und Glitzerpapier. Und sie war vermutlich noch aufgeregter als ihre Tochter, die das Päckchen gerade in ihren Händen hielt und vorsichtig darüber strich.
"Für mich?", fragte diese zögerlich. "Ja, für dich, mach' es auf."
Und während die Tochter noch zaghaft das versteckte Klebeband suchte, um das Päckchen zu öffnen, dachte die Mutter daran, wie sie jede Nacht dagesessen war und genäht hatte unter der kleinen Lampe, während alle schon schliefen. Dabei hatte sie das Lächeln ihrer Tochter vor Augen, die wohlgeformten Lippen und die kleinen Grübchen, die dabei immer entstanden, zumindest früher einmal. Sie hatte das Lächeln schon länger nicht mehr gesehen, deswegen hatte sie auch die Idee für dieses Geschenk. Und ihre Inspiration war ihre Tochter gewesen. Ihre wunderschöne, einzigartige Tochter mit der feinen, geraden Nase, die sie manchmal rümpfte, wenn ihr etwas nicht gefiel, die zauberhafte Tochter mit den hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht so viel Ausdruck verliehen. Bei jedem Nadelstich hatte sie sich ihre Augen vorgestellt, die so blau waren wie der wolkenlose Himmel an einem warmen Sommertag. Mit jeder Naht hatte sie versucht, das Wesen ihrer Tochter einzufangen und einzuarbeiten. Stunden um Stunden, Tage um Tage arbeitete sie unermüdlich daran und war so oft entäuscht gewesen, wenn sie das Geschenk betrachtet hatte und nicht sah, was sie sehen wollte, nicht erkannte, was sie am Ende damit ausdrücken wollte. Doch schlussendlich hatte sie es geschafft und sie war zufrieden mit dem Ergebnis.
"Was ist das?", riss sie ihre Tochter aus den Gedanken, "Bin das ich?". Die Mutter nickte. "Ja, das bist du, zumindest das Du, das du der Welt dort draußen präsentieren kannst, ohne dir darüber Gedanken machen zu müssen, was andere über dich denken."
Die Tochter betrachtete für ein paar Minuten schweigend das Geschenk in ihrer Hand, dann schaute sie zu ihr auf. "Was mache ich damit?"
"Du musst es aufsetzen." Die Tochter blickte verwirrt von dem Gesicht ihrer Mutter zum Geschenk in ihrer Hand und wieder zurück. "Hier, ich zeig' es dir."
Und mit diesen Worten griff sie sich ins Gesicht und nahm ihre eigene Maske ab, die sie sich damals vor so langer Zeit genäht hatte. Darunter waren traurige Augen und ein Mund so trocken und rissig wie der harte Boden einer Wüste, der schon jahrelang kein Wasser mehr gesehen hat. Tiefe Narben zogen sich quer über ihre fahlen Wangen und die faltige Stirn - die Spuren eines langen Lebens. Dann setzte sie sich die Maske wieder auf - langsam - damit ihre Tochter sehen konnte, wie sie es bei sich selbst tun musste.
"Das Funkeln, das einst in deinen Augen war, habe ich leider nicht so gut einfangen können, aber das wird nichts machen. Die Leute da draußen achten auf solche Kleinigkeiten eh nicht mehr. Sie werden dir trotzdem glauben, wenn du ihnen sagst, dass es dir gut geht und nicht weiter nachfragen. Sie werden nicht sehen, wie viel Angst du vor manchen von ihnen hast. Sie werden den Druck und den Stress, den die Welt dir aufbürdet, nicht bemerken. Sie werden nur das sehen, was du ihnen zeigen willst und das, was sie sehen wollen."
Der erschrockene Ausdruck in den Augen ihrer Tochter wich der Erkenntnis, sie nickte und setzte sich die Maske auf.
"Perfekt!", rief die Mutter und klatschte dabei in die Hände. "Du siehst einfach wundervoll aus, genau wie früher!"
Die Tochter lächelte. Oder zumindest die Maske tat es, die sie jetzt trug. "Und nie wieder abnehmen würde", dachte die Tochter bei sich.