Wir stehen zwar jeden Morgen auf - aber sind wir wirklich wach? Den Großteil unseres Alltags verbringen wir im Autopiloten. Das möchte selbst unser Gehirn so, weil es herrlich energiesparend ist. Wenn wir nicht aufpassen, vergehen aber Monate, Jahre oder manchmal sogar Jahrzehnte, ohne dass wir entdecken, wozu wir eigentlich fähig wären. Um das zu ändern, brauchen wir ein neues Verständnis von "Selbst-Bewusstsein".

Selbstbewusstsein heißt nicht Mut

Überleg mal, was du bisher unter dem Begriff "Selbstbewusstsein" verstehst. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verbindest du den Begriff mit Eigenschaften wie Mut, vor einer Gruppe präsentieren können, sich etwas trauen, etc. Und in der Regel ist das auch das geläufige Verständnis des Begriffs. Das ist insofern interessant, da dies eigentlich Attribute sind, die sich auf "Selbst-Vertrauen" beziehen. Und weiterhin ist es interessant, dass es in unserer Sprache ja eine Unterscheidung zwischen Selbst-Bewusstsein und Selbst-Vertrauen gibt (im Englischen im Übrigen auch mit -awareness und -consciousness).

Extrovertiert heißt nicht selbstbewusst

Das Problem: Wenn ein Mensch besonders extrovertiert ist, dann fällt er auf. Er verhält sich (gerne) so, dass es mehrere andere Menschen mitbekommen. Dann ist er der Mittelpunkt bei der Party, steht bei Veranstaltungen eher auf der Bühne und wird auch im Arbeitsumfeld eher nach Positionen suchen, bei denen er Aufmerksamkeit bekommt. Und irgendwo da muss etwas schief gelaufen sein, dass wir das mit Selbstbewusstsein verwechseln. Denn kann der kleine, unauffällige Mensch, der sich bei der Party weitab vom Geschehen aufhält, nicht auch selbstbewusst sein? Aber was ist es denn dann, dieses Selbstbewusstsein? Und wobei hilft es uns?

Das Hochhaus der Gefühle - ein Bild, das bleibt

Ich möchte dir ein Bild anbieten, wie ich mir Selbstbewusstsein vorstelle. Stell dir vor, all deine Gemütszustände, deine Reaktionen, deine Vorlieben, was dir Spaß macht, wovor du Angst hast etc. sind alles Parteien in einem Hochhaus. Solange du ein Kind warst, war das Haus vermutlich noch eher klein, denn die Anzahl der Reaktionen ist einerseits begrenzt - und andererseits fällt es dir schwer, deine Gemütszustände bewusst zu formulieren. Wenn also jemand an die Eingangstür deines Hauses tritt und auf eine Klingel drückt - ist es für dich wie für den Besucher meist eine Überraschung, wer aufmacht. Je älter du wirst, desto größer wird hoffentlich dein Hochhaus. Idealerweise wirst du auch besser darin abzuschätzen, welche Klingel welchen Effekt hat. Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck "push the button" für "jmd. löst in mir eine Reaktion aus". Daher kommt vielleicht auch das Hochhaus-Bild in meinem Kopf.

Selbstbewusstsein bedeutet für mich, dass ich nach und nach besser und präziser einschätzen kann, welche Klingel zu welcher Partei im Hochhaus gehört - und wer dann "die Tür aufmacht". Ich habe also beispielsweise gelernt, dass die Menschen in den Stockwerken 1-5 total freundlich sind (=Ich also ruhig bleiben kann, wenn jemand auf diese Klingeln drückt). Oder ich weiß, dass die Katzmeiers in Appartement 17a einen Dobermann haben, der ausrastet, wenn man der Tür nur nahe kommt (= Ich bspw Gefahr laufe zu explodieren, wenn jemand ein bestimmtes Thema anspricht). Genauso weiß ich, nach welchen Situationen ich selbst suchen muss, damit sich die Hausgemeinschaft wohl fühlt (= Das entscheidet zum Beispiel, ob ich gerne auf einer Bühne stehe oder lieber in Ruhe im Eck sitzen bleibe).

Ganz neue Möglichkeiten

Sobald du das Bild verinnerlicht hast, wird dir wahrscheinlich klar, was du damit anfangen kannst. Das heißt jetzt eben nicht, dass jeder mit dieser Art von Selbstbewusstsein gerne auf der Bühne steht - und es heißt schon gar nicht, dass es dann keine Konflikte mehr zwischen Menschen gibt. Sondern es heißt vielmehr, dass ich selbst spüre, in welchen Situationen ich mich wohl fühle. Wann es mir schwer fällt, ruhig zu bleiben; und von welchen Menschen ich mich vielleicht fernhalten sollte. Ich kann mich viel besser auf Situationen vorbereiten, denn in der Regel kann ich sehr gut abschätzen, welche Klingeln möglicherweise in einem Meeting betätigt werden. Solange mein Chef also nur bei den Hubers, den Peters und bei den Mayers klingelt, werden wir ein sehr ruhiges, sachliches Gespräch führen können. Wenn er aber bei den Katzmeiers klingelt, muss ich aufpassen, dass der Dobermann angebunden bleibt. Oder ich lass ihn bewusst aus der Wohnung stürmen - das könnte auch mal gut sein wenn sich mein Chef und Dr. Faust kennenlernen (so heißt der Dobermann von den Katzmeiers).

Für mich persönlich ist das ein absolut erstrebenswerter Zustand. Denn dann würde uns Zusammenarbeit viel besser gelingen. Jeder kann sich selbst besser einschätzen - und hoffentlich auch kommunizieren, unter welchen Rahmenbedingungen er/sie ein Projekt gerne umsetzen würde.

Wie lerne ich mein Hochhaus kennen?

Wenn du selbst alle Parteien in deinem Hochhaus kennenlernen möchtest, musst du vor allem lernen, dich selbst zu beobachten; Und zwar dich dabei beobachten, "wie" du etwas tust - nicht "was", sondern "wie". Denn wer weiß, "wie" er etwas tut und wie er dabei von sich Gebrauch macht, kann handeln, wie er es möchte. Das stammt von Moshé Feldenkrais aus seinem Buch "Die Entdeckung des Selbstverständlichen".

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Das Wichtigste dabei ist, dass du dabei wirklich neugierig vorgehst - der größte Fehler ist, dass du schon eine feste Vorstellung davon hast, wie dein Hochhaus sein muss - und nicht spielerisch herausfinden möchtest, wie es tatsächlich ist.

Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Körperliche Bewegung ist natürlich eine super Methode, weil wir immer Zugriff darauf haben, und sehr gut ohne Ablenkung auf das "wie" achten können. Außerdem lässt sich das dann sehr gut in Form eines Workshops gestalten. Aber genauso wie körperliche Bewegung eignet sich auch Fliesenlegen oder Malen - entscheidend ist, dass wir uns nicht auf das "Was" konzentrieren, sondern lediglich auf das "Wie".

Und jetzt - bist du neugierig? Würdest du gern dein eigenes Hochhaus besser kennenlernen? Welche Parteien kennst du denn schon? Wer wohnt in der Penthouse-Wohnung? Und wie tief geht der Keller ;-) ? Was wäre möglich, wenn wir alle so selbst-bewusst wären?


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Das Hochhaus der Gefühle - Oder: Warum es Zeit für ein neues Bewusstsein ist
Wir stehen zwar jeden Morgen auf - aber sind wir wirklich wach? Den Großteil unseres Alltags verbringen wir im Autopiloten. Das möchte selbst unser Gehirn so, weil es herrlich energiesparend ist.
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