Man darf ja nichts mehr sagen – oder doch?
Es war einer dieser Abende am Stammtisch. Bier, Karten, Gelächter – bis plötzlich ein Satz fiel, den ich inzwischen fast schon erwartet hatte: „Die Grünen wollen uns alles verbieten. Man darf ja heutzutage gar nichts mehr sagen!“
Der Tisch wurde stiller, ein paar nickten, andere verdrehten die Augen. Und ich dachte: Da ist er wieder, dieser Satz, der in letzter Zeit so oft fällt.
Doch gerade dieser Satz ist ein Paradox. Denn er wird ja gesagt. Laut, klar, öffentlich – und niemand hindert den Sprecher daran. Mehr noch: Oft entfacht er eine lebhafte Diskussion. Wenn man angeblich „nichts mehr sagen darf“ und es dennoch ständig sagt, zeigt das vor allem eines: Meinungsfreiheit existiert noch.
Das Paradoxon der Meinungsfreiheit
Man kennt das berühmte Toleranzparadoxon von Karl Popper: Absolute Toleranz zerstört sich selbst, weil Intoleranz das offene System ausnutzt. Weniger bekannt ist aber das Paradoxon der Meinungsfreiheit: Nur dort, wo Meinungsfreiheit existiert, kann man behaupten, dass sie unterdrückt werde.
In autoritären Staaten funktioniert das nicht. Wer in Nordkorea, China oder Russland öffentlich erklärte, Meinungsfreiheit gebe es nicht, würde genau deshalb zum Schweigen gebracht – mit Zensur, Strafen oder Schlimmerem. In Demokratien hingegen ist die Klage über fehlende Meinungsfreiheit nicht nur erlaubt, sie ist Teil des politischen Alltags.
Widerstand ist nicht Zensur
Die Verwirrung entsteht oft durch eine Gleichsetzung von „Meinungsfreiheit“ mit „Widerspruchsfreiheit“. Wer am Stammtisch, in Talkshows oder in sozialen Netzwerken eine steile These äußert, darf nicht erwarten, dass alle zustimmen. Widerstand, Kritik oder gar Empörung sind keine Zensur, sondern der Kern einer lebendigen Debattenkultur.
Selbst wenn Plattformen Inhalte löschen oder Institutionen Grenzen ziehen, ist das noch nicht automatisch eine Abschaffung der Meinungsfreiheit. Es sind Aushandlungsprozesse: Wo endet die Freiheit des einen, wo beginnt die Würde oder Sicherheit des anderen?
Freiheit, über Freiheit zu klagen
Das eigentlich Paradoxe ist also: Nur in einer freien Gesellschaft kann man beklagen, dass man angeblich nichts mehr sagen darf. Der Satz vom Stammtisch ist damit nicht das Ende der Meinungsfreiheit, sondern einer ihrer sichtbarsten Beweise.
Denn die Freiheit, über Freiheit zu streiten – auch hitzig und unbequem – unterscheidet Demokratien von Diktaturen. Genau in diesem Streit zeigt sich die Lebendigkeit einer offenen Gesellschaft.
Unterschätzen sollte man dabei aber nicht, dass die Unterdrückung der Meinungsfreiheit schrittweise erfolgt. Am Anfang von Putin's Herrschaft gab es die Novaja Gazeta noch aber dann eines Tages war Anna Politkowskaja tot.
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