Ich bin ein Xennial. Das heißt, ich gehöre zu einer Generation, die in frühen Jahren erlebte, wie Heim-PCs und das Internet langsam unseren Alltag eroberten. Meine (geschiedenen) Eltern waren technologieoffen, so dass ich auch tatsächlich stets Nutznießerin neuerer Entwicklungen war. Schon als Kind wählte ich mich in AOL irc-Chats ein (damals achtete so gut wie niemanden darauf, was Kinder im Internet taten), und erlebte die Entstehung von Internet-Foren.
Ich hatte Websiten und Blogs, war oder bin auf Myspace, Livejournal, Darkjournal, SchülerVZ, StudiVZ, Ao3, Tumblr, Facebook, DeviantArt, Reddit, Twitter, Instagram, LinkedIn, SnapChat, Mastodon, Twitch, Youtube, TikTok uvm. vertreten. Bei einigen Plattformen reichte es bis zu mehreren tausend Followern, andere habe ich wenig bedient. Alle Plattformen, bei denen ich aktiv war, habe ich (mindestens zeitweise) verlassen oder die Accounts liegen mehr oder weniger brach. Meistens lag das daran, dass sich meine Interessen änderten oder ich das Interesse an der Plattform verlor, selten waren es aktive Entscheidungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass ich eine sehr durchwachsene Social Media Erfahrung habe.
Heute ist man sich in Evaluationen im Grunde einig, dass Twitter wohl die toxischste Social Media Plattformen im Internet ist - und uneinig, welche der großen Plattformen noch am wenigsten toxisch ist. Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk ist Mastodon in Deutschland als weniger toxische Plattform etwas bekannter geworden und insgesamt gibt es heutzutage Versuche, Social Media weniger toxisch zu gestalten.
Designed to be Toxic
Social Media lebt von der Polarisierung. Polarisierende Inhalte erhalten aufgrund ihrer Kontroversität und aufgrund der emotionalen Reaktionen, die sie auslösen, viel Interaktion und werden dadurch in ihrer Sichtbarkeit hervorgehoben. Diese wiederum generiert für die Plattform dann Einkommen durch dazu geschaltete Werbung.
Verbreitungsmöglichkeiten (zum Beispiel Retweets), Bewertungsmöglichkeiten wie Up- oder Downvotes und Emotionsreaktionen in Form von Smileys tragen nicht nur zur Interaktion, sondern auch zur Polarisierung bei. Sichtbare Übersichten über die Anzahl der Follower, Kommentare, Reaktionen und Up- oder Downvotes führen zu einer Bewertung der Nutzer, generieren plattforminterne Berühmtheiten und verstärken den Willen und den Mut der Nutzer, besonders polarisierend und kontrovers zu schreiben, um den Einfluss und das Gefühl der Zustimmung zur eigenen Meinung zu erhöhen. Twitter setzt durch die erzwungene Kürze von Statements, die auch in längeren Threads leicht zu isolieren sind, und besondere, „verifizierte“ Profile, noch zwei Level Polarisierung oben drauf.
Schaut man sich einige deutsche Nutzer auf Twitter an, die nicht aufgrund anderer Berühmtheit und Bedeutung wie Politik, Sport, Musik, etc. viele Follower generieren, wie zum Beispiel @ebonyplusirony, @dichjasmin, oder @nikitheblogger, fallen diese - ohne dass ich die Inhalte an dieser Stelle bewerten möchte - durch polarisierende Themen und Tweets auf. Es gibt natürlich viele andere Gründe, warum Accounts Follower generieren - sei es aufgrund von Humor, guter Information und Expertise, weil die Accounts Tweet- oder Bilder-Sammlungen zu bestimmten Themen zusammen suchen oder weil sie als Bots brauchbare Funktionen anbieten. Trotzdem ist Polarisierung eine gute Möglichkeit, bei Twitter mehrere zigtausend Follower anzuziehen, tausende von Kommentaren und Herzchen für einzelne Tweets und Meinungen sowie hunderte Retweets zu erhalten.
Über polarisierende Tweets findet man Gleichgesinnte, die dann automatisch für übermäßige Zustimmung zur eigenen Meinung sorgen - man generiert eine „Bubble“ oder ein „Echo-Chamber“, in der die eigene Einstellung verstärkt wird, weil die Balance zu Gegenmeinungen und moderateren Ansichten drastisch verringert wird. Jedes Gefühl, wie die eigene Meinung statistisch auf der gesamten Plattform oder gar in der realen Welt einzuordnen ist, geht verloren. Kritische Kommentare können mit der Hilfe der gleichgesinnten Follower und technischer Plattformfunktionen auf teils bösartige und perfide Art und Weise überrannt, ausgeblendet und blockiert werden. Neben exzessiver Kritik an der Position eines Nutzers, reichen Angriffe auf Social Media von persönlichen Beleidigungen bis hin zu Doxxing (die persönlichen Daten eines anonymisierten Users veröffentlichen) und (teils kriminellen) Unterstellungen. Selten sind Funktionen auf den Plattformen vorhanden, die solche Angriffe unterbinden oder - zumindest zeitnah - bestrafen oder entfernen.
Die Möglichkeit, den Bildschirm abzufotografieren, unterbinden zusätzlich Versuche, eine kontroverse, missverständliche oder unüberlegte Aussage zurückzuziehen oder permanent mit einer Erklärung, Entschuldigung oder Korrektur zu verbinden. „Das Internet vergisst nicht,“ ist ein oft damit verbundener Hinweis, denn vieles Gelöschte lässt sich noch irgendwo finden. Versierte Social Media Nutzer wissen oft sehr genau, welche Aussagen man lieber schnell speichern sollte. Screenshots eröffnen Nutzern auch die Möglichkeit, Aussagen ohne Kontext und ohne Wissen oder Kenntnis des Autors zur Belustigung, zum Angriff oder zur Beeinflussung von Meinungen über Inhalt und Autor, wieder und wieder in den öffentlichen Raum zu stellen, oft auch mit einem Text verbunden, der den Screenshot für die Leser vorinterpretiert.
Verzerrte Gruppendynamiken auf Social Media
Über Social Media finden sich (Rand-)Gruppen mit extremen und gesellschaflich wenig konformen Ansichten zusammen und stacheln sich gegenseitig an. Man findet Echogruppen aus misogynen Männer, extremen Rechten oder Linken, Rassisten, Ableisten (Behindertenfeindliche), homo- und tranphobe Personen oder auch aus Menschen, die so ziemlich alles für rechts, links, rassistisch, ableistisch, homo- oder transphob halten. Auf Social Media tummeln sich viele weitere Gruppen mit extremen Ansichten zu Klein- und Großthemen (als Beispiel seien hier einige wenige militante Veganer oder Auto- und Fahrradfahrer, Religionsfanatiker, Querdenker und Impfgegner genannt).
Wer den Hass einer dieser Gruppen auf sich zieht, braucht starke Nerven, sehr gute Social Media Skills oder ein gehöriges Selbstbewusstsein, um den Einfall des Hasses und der Abwertung irgendwie ertragen zu können. Im Februar 2023 sahen sich beispielsweise virtuelle Streamer*innen des Spiels Hogwarts Legacy auf Twitter und Twitch sogenannten „Hate-Raids“ gegenüber. (Virtueller Streamer*innen sind Personen, die vorzugsweise auf der Plattform Twitch streamen, wie sie bestimmte Spiele spielen, sich dabei jedoch statt sich selbst zu zeigen als virtuelle Person darstellen (oft in Form eines individuellen Anime-Charakters) und dabei mit ihren Fans interagieren. Hate Raids nennt man den Einfall von Usern mit einer bestimmten, extremen Gesinnung auf einem Stream oder einem Social Media Account, um gemeinschaftlich Hass gegen die Person zu auszuüben, die das Ziel des Hate Raids ist. Ob sich dabei abgesprochen wurde, oder das Ziel implizit über Social Media verbreitet wurde, ist dabei unerheblich.) Oft spricht man in diesem Zusammenhang auch von canceln oder Cancel Culture, weil suggeriert oder verlangt wird, dass die Person gesellschaftlich ausgeschlossen werden, bzw. ihre Meinung keine gesellschaftliche Bedeutung mehr haben sollte.
An diesem genannten Fall (VStreaming von Hogwarts Legacy) lassen sich einige Aspekte toxischer Social Media Interaktionen gut verdeutlichen:
- Wenig Korrelation mit der realen Welt - Was sich auf Social Media abspielte, nämlich ein Versuch, das Kaufen, Spielen und Streamen des Spiels Hogwarts Legacy auf Twitch gesellschaftlich inakzeptabel zu machen, reflektierte sich nicht in der realen Welt. Nicht nur, dass sich Gamer und Nicht-Gamer außerhalb der Social Media Plattformen und deren Outlets wenig für die Kritik der Aktivisten gegen das Spiel interessierten, Verkaufszahlen und Streaminginteresse sprachen auch rein statistisch deutlich für sich.
- Unterstellungen mit dem Ziel der Abwertung der Person - Virtuelle und andere Steamer wurden diverser Ideologien bezichtigt, die mit deren Statements und Verhalten nicht korrelierten. User Pikamee wurde beispielsweise der Pädophilie bezichtigt, da ein altes Statement von ihr über den Umgang mit Kindern inhaltich verdreht wurde. Vermeintlich kaukasischen virtuellen Streamern wurde Rassismus und kulturelle Aneignung vorgeworfen. Social Media Persönlichkeiten, die sich transunterstützend äußerten und verhielten wurden als transphob betitelt. Hier ging es darum, ein Narrativ zu erstellen, dass die Opfer eines Hate Raids als beasonders negativ darstellen sollten.
- Die Angriffe erfordern starke Nerven - Die angegriffenen Streamer reagierten unterschiedlich auf die Tatsache, Ziel der Echogruppe zu sein, die eine bestimmte, extreme Meinung zu einem Spiel hatte. Einige zogen es vor, den Forderungen der Gruppe, das Spiel nicht zu stremen schon allein deshalb nachzukommen, weil sie sich diesem Hass nicht aussetzen wollten. Einige, wie Userin Silvervale, entschieden sich letztendlich, sich verbal zu wehren und sich nicht den Forderungen zu beugen. Userin Pikamee zog (nach besten derzetigen Wissen) das Ende ihrer VStreamer-Karriere vor und gestaltete diese abrupter. Wer also nicht die Stärke hat, sich gegen eine Hetzkampagne zu behaupten oder zumindest selbst so viel Unterstützer hat, dass eine Social-Media Schlammschlacht ohne Gewinner versiegt, dem sei zur eigenen emotionale Gesundheit geraten, sich nicht mit rücksichtlosen Mobs dieser Art anzulegen.
Leider können viele Aussagen oder Aktionen auf Social Media einen sogenannten Shitstorm verursachen, so dass nicht immer klar ist, bei welchen Aussagen man sich zurücknehmen müsste. Manchmal reicht es, der falschen Aussage eine symbolische Zustimmung (zum Beispiel über eine Upvote oder ein Like) zu geben oder ein Wort zu verwenden („dumm“), deren Kontroverse einem nicht bewusst ist, oder welches man anders bewertet. Auch „Follower-Canceling“ ist ein potentieller Angriffpunkt - man wird also dafür angegriffen, dass man einer vermeintlich schlechten Person auf Social Media folgt. Zwar haben größere oder bekanntere Accounts auch größere Chancen auf Angriffe, aber wer zur falschen Zeit von der falschen Person gelesen wird, wird ebenfalls schnell zum Ziel. Psychisch labile Personen sollten zum Selbstschutz theoretisch überhaupt nicht auf Social Media vertreten sein, oder ihre Meinung kundtun. Dies ist natürlich rein gesellschaftlich keine Lösung, da natürlich auch psychisch labile Menschen Interessantes und Wissenswertes zu einer Diskussionen beitragen können.
Streit und Beleidigung als Entertainment
Social Media gibt jedem die Chance, seine Meinung öffentlich zu äußern. Gerne wird so eine Äußerung auf dem eigenen Account fälscherlicherweise ausschließlich als Nachricht für die eigenen Follower oder die eigene Meinungsblase gehalten. Insbesondere zu Zeiten, als Livejournal eine bedeutendere Plattform war als heute, wurde gerade diese Austauschplattform oft mit einem persönlichen Tagebuch (Englisch: journal) verwechselt, insbesondere in Reaktion auf kritische Kommentare. Ähnliche Ansichten über den Sinn und Zweck von Social Media finden wir auch heute noch in Aussagen wie „das ist meine Timeline/mein Account“, „scroll doch einfach weiter“, „du hast dich doch einfach eingemischt“, „dich hat keiner gefragt“, etc. Natürlich ist eine Social Media Plattform ein soziales Werkzeug, um Meinungen und Ideen auszutauschen, kein persönliches Tagebuch und keine kleine WhatsApp-Gruppe. Man stellt dort alles, was man schreibt, in erster Linie in den allgemeinen und öffentlichen Raum. Das sollte schon allein aufgrund der Tatsache nicht missverständlich sein, dass öffentliche Medien sich auf Trends, Meinungen und Aussagen solcher Plattformen (insbesondere Twitter) berufen, egal ob diese von Personen des öffentlichen Lebens oder Privatpersonen stammen, ein allgemeines Meinungsbild oder eine Einzelmeinung wiedergeben.
Auf Social Media hat zunächst auch jeder das Recht und die Möglichkeit, Aussagen und Meinungen frei zu kommentieren. Filter, Lösch- und Blockfunktionen erlauben zwar gewisse Einschränkungen, viele können jedoch durch Zweitaccounts und Screenshots oder mit Hilfe anderer User umgangen werden. Zudem kann niemand alle Einstellungen jedes Nutzers einer Social Media Plattform evaluieren und schon vorab per Filter nur die „richtigen“ als Empfänger eines Posts auswählen. Kurz: Die Chance, dass irgendjemand mit mehr oder weniger starker Gegenmeinung auf eine Aussage aufmerksam wird, ist grundsätzlich gegeben.
Dies führt in einigen Fällen zu interessanten, zivilen Diskussionen, in anderen Fällen zu (gegenseitigem) Mobbing, Streitgesprächen, gemeinschaftliche Angriffen, Beleidigungen usw. Ich muss mir an dieser Stelle sogar selbst an die Nase greifen: Manchmal habe ich auf Social Media unheimlich Spaß daran, sehr einfältige Meinungen sowohl anzugreifen als auch in ihrer Unlogik und ihrem Unwissen öffentlich zur Schau zu stellen. Gerade wenn die entsprechenden Nutzer selbst unverbesserlich arrogant herüber kommen und gleichzeitig offensichtlich inkompetent oder einfältig sind, ist dies für mich manchmal zu einfach und zu verlockend. Es macht mir zudem Spaß, typische Logik- und Debattenfehler aufzuzeigen, da ich mich lange im Zusammenhang mit Kreationismus mit dem Thema beschäftigt habe und es genieße, eine Aussage als Debattenfehler zu entlarven.
Andererseits ist es auch mitunter frustrierend, eine Unterhaltung nicht entweder humorvoll oder ernsthaft führen zu können, weil eine (auf guten Argumenten basierende) Diskussion aufgrund des Trotzes oder der reinen Unfähigkeit des Gegenübers nicht möglich ist. Wenn man immer wieder erklären muss, warum ein Argument rein logisch nicht funktioniert, wird das schnell frustrierend. So entstehen auch aus zunächst lustig gemeinten oder aus ehrlichem Interesse gestartete Interaktionen Streit- und Abwertungsgespräche, die eine Einigung oder ein „agree to disagree“ für alle Beteiligten nicht mehr ohne vermeintlichen Gesichtsverlust erlauben. Insbesondere wenn klar wird, dass das Gegenüber an einem ernsthafen Austausch nicht interessiert ist, sinkt auch mein Interesse exponentiell, in einer Diskussion überhaupt etwas erreichen zu wollen. Das Ziel, dass das Gegenüber Argumente inhaltlich versteht oder für ihn noch neues Wissen bedenkt, ist in diesem Moment bereits in unerreichbare Ferne gerückt. Und ich persönlich werde auch schnell frustriert, wenn jemand - entschuldigen Sie den Ausdruck - schlichtweg zu blöd für das Niveau ist, auf dem er oder sie diakutieren möchte.
Kommen dazu noch Arroganz, Falschinformationen und/oder transparente Ablenkungs- und Verwirrungsstrategien, hinterlässt das bei mir oft auch eine gewisse Verblüffung zurück: Ich kann oft nur schwer glauben, dass Menschen sich sehr selbstbewusst geben, aber extrem unlogisch und unwissend verhalten können, ohne sich dessen auch nur im geringsten bewusst zu sein. Selbst, wenn man solchen Diskussionspartner einfach und neutral erklärt, wieso ein Argument problematisch ist, scheitert man häufig aus diversen Gründen: die Erklärung wird nicht verstanden oder aus dem Kontext gerissen, es wird abgelenkt, etc. Gerade wenn man bemerkt, dass jemand Inhalte und Worte immer wieder verdreht, eigentlich simple Texte und Aussagen nicht versteht, und recht willkürliche Interpretationen zum Besten gibt - oder die Kernpunkte einer laufenden Unterhaltung nicht behalten kann - ist es eher ein halb-amüsiertes Erstaunen als ernsthafte Boshaftigkeit, die mich dazu bringt, dies mit Followern zu teilen und die Einfältigkeit eines Gesprächspartner weiter vorzuführen. Es trägt natürlich trotzdem zur „Social Media Toxicity“ bei - durch alle Beteiligten.
Ein sehr wichtiger Punkt bei solchen gewollten und ungewollten Eskalationen von einer zivilen Diskussion zu einem gegenseitigen Schlagabtausch (zum allgemeinen Entertainment der eigenen Timeline) ist auch, dass wir uns im Grunde alle bewusst sind, dass Social Media extrem toxisch ist und dies auch stets befürchten: Jede Kritik, jeder Einwand kann potentiell als Angriff interpretiert werden und wird oft sicherheitshalber auch erst mal als Angriff verstanden. Die dadurch automatisch eingenommene Verteidigungs- oder Gegenangriffsposition ist einer zivilen Diskussion natürlich auch nicht dienlich.
Dass das Mockieren und Vorführen von besonders emotionalen, einfältigen oder unlogische agierenden Social Media Nutzern mitunter grenzwertig ist, auch wenn diese sich selbst ohne externe Unterstützung blamieren oder selbst unfair, unfreundlich und unethisch benehmen, ist ein berechtigter Einwand. Man kann sich allerdings an dieser Stelle auch fragen, wie viele von Unwissen geprägte, verdrehte und agendageschwängerte Aussagen man einfach guten Gewissens stehen lassen kann oder sollte, auch wenn es „nur“ Social Media Takes sind. Social Media ist ein potenter Beeinflusser von Meinungen, auch in den Medien.
Social Media ist nicht nur schlecht
So gerne wir auch Social Media vom „echten“ Leben trennen, eine saubere Trennung gibt es hier nicht. Nicht nur, dass Meinungen auf solchen Plattformen eben ihren Weg in die allgemeine Medienlandschaft und reale Unterhaltungen finden und unsere Meinung außerhalb von Social Media beeinflussen - Social Media hat auch mitunter sehr reale Konsequenzen, von denen Polizeieinsätze und Abmahnungen, Jobverluste, Imageschäden und zielgerichteter Vandalismus nur einige sind.
Richtig und mit Vorsicht verwendet, kann Social Media aber auch Stimmungsbilder in einer Gruppe oder Bevölkerung wiedergeben, zur Sammlung von Argumenten dienen, wichtige Warnungen verbreiten, Fragen beantworten und Zugang zu Hilfe ermöglichen. Hashtags wie #Wish2Hand (welcher der kostenfreien Weitergabe von Gegenständen an Armutsbetroffene dient) können reale, positive Konsequenzen haben. Größere Events, Hilfs- und Spendenaktionen lassen sich über Social Media koordinieren und Menschen aus Randgruppen können sich nicht nur im Negativen, sondern auch im Positiven zusammenfinden (zum Beispiel Menschen mit einer seltenen Erkrankung). Politischer Meinungsunterdrückung und Medienbeeinflussung wird durch Social Media entgegen gewirkt, was in einigen Ländern sicher sehr wichtig ist. Auf Social Media entstehen Freund- und Partnerschaften, oft auch für Menschen, denen es schwer fällt, auf andere Weise persönlichen Kontakt zu finden.
Ich selbst habe als (lediglich) introvertierte Person seit der Schulzeit viele meiner Freunde und alle meiner Partnerinnen über Social Media kennengelernt und mit anderen Freunden Kontakt über die Plattformen gehalten. Mit meiner US-amerikanischen Verlobten bin ich inzwischen seit über 15 Jahren zusammen, nachdem wir uns über Soziale Netzwerke kennengelernt hatten, die einem gemeinsamen Interesse dienten. Auch heute habe ich weiterhin Kontakt mit vielen, jedoch nicht allen dieser Freunde (man verliert sich auch wieder aus den Augen - und manchmal taucht ganz unverhofft auch mal wieder jemand auf). Problematisch ist eher, dass Freundschaften auf Social Media (wie auch im echten Leben) unterschiedlich bewertet werden. So hat mir in den 2000ern eine Nutzerin, nennen wir sie Dana, die ich persönlich nicht kannte, ihre Liebe gestanden, was für mich ohne jemals persönlichen Kontakt gehabt zu haben, einfach völlig abwegig war - für sie jedoch nicht. Sicher habe ich die Person mit meiner recht schockierten Ablehnung damals verletzt. Sicher passiert dies auch im echten Leben, ich denke jedoch, auf eine andere Art und Weise.
Es ist auch wesentlich einfacher, eine Social Media Bekanntschaft sehr schnell und sehr einfach zu „ghosten“ (einfach nicht mehr interagieren) oder komplett aus dem eigenen Kreis auszuschließen. Das hätte ich mit Dana damals machen können, aber diese Möglichkeit nicht auszunutzen war mir als Person, die viele Jahre in Distanzbeziehungen verbacht hat, extrem wichtig. Mir ist dies kürzlich auch passiert und es hat mich persönlich sehr getroffen, auch wenn es potentiell nur vorübergehend sein könnte. Sowas regt zum Nachdenken an, ob Freundschaften im virtuellen Umfeld anderen Dynamiken folgen (zum Beispiel von den Beteiligten sehr unterschiedlich bewertet werden) oder ob man sich überlegen sollte, ob toxische Plattformen grundsätzlich der richtige Ort für Freundschaften sind - sofern man seine freundschaftlichen Gefühle überhaupt beeinflussen kann.
Nichtsdestotrotz ist Social Media neben des öffentlichen Austauschs mit Freund und Feind eben auch genau das: social (im Sinne von gesellig, nicht im Sinne von sozial). Gerade für Menschen, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht in der Lage sind, soziale Verbindungen zu knüpfen und zu halten, können Social Media Plattformen, Blogs, Foren und Chats extrem wichtig sein. Egal ob man bettlägerig ist, wenig Energie hat, viel beschäftigt oder gewollt oder ungewollt allein oder in der falschen Umgebung ist (zum Beispiel homosexuell unter Konservativen) - auf Social Media kann jeder mitmischen und vermutlich auch jeder jemanden finden, mit dem man sich versteht. Dabei kann man die Frequenz der Interaktion und den Inhalt auch noch selbst sehr gut beeinflussen. Denkt man sich die Toxizität für einen Moment weg, ist die Idee von Social Media generell keine schlechte.
Wie soll Social Media in der Zukunft aussehen?
Dass Social Media sehr toxische Züge hat, ist natürlich bekannt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass man sich heutzutage damit beschäftigt, wie Social Media aussehen könnte, die der Toxizität entgegen wirkt.
Soziologe Damon Centola hat drei Punkte zusammengefasst, die ein Social Network erfüllen muss, um Toxizität entgegen zu wirken:
- Gleichmachung - das heisst, dass Influenzer oder gehypte Nutzer, die normalerweise schnell wichtiger werden würden und mehr Interaktionen und Follower hätten, zum Wohle der weniger Populären zurückgehalten werden müssen, zum Beispiel indem man die Verbreitung ihrer Inhalte reduziert.
- Interessensverbindungen - man sollte Menschen über vielseite Interessen miteinaner verbinden, nicht nur über politische Richtungen oder einzelne Ansichten. Je mehr Ähnlichkeit Menschen zueinander sehen, um so her behandeln sich sich gegenseitig mit Respekt.
- Bildprache und Symbole entfernen - diese machen es uns zu einfach, Nutzer direkt in Kategorien und Sympathien einzuordnen. Man denke an die Kiwi-Früchte von trans Gegnern, Russland- und Ukraineflaggen, roten Dreiecke und Regenbogenflaggen, usw. die man oft in Usernamen und Profilen findet. Sie sorgen dafür, dass man umgehend eine Meinung über einen Menschen hat und seine Aussagen auf Basis dieser Meinung interpretiert. Dies trägt zu Konflikten und Respektlosigkeit bei.
Ein Ansatz für eine Verbesserung sind Dezentralisierungen wie beispielsweise bei Mastodon. Es gibt dann nicht nur eine Plattform, sondern lediglich ein Netzwerk aus Unterplattformen. So entstehen von vorneherein Cluster aus Menschen, die etwas gemeinsam (und mehr Interaktionen) haben und damit ein Grund, sich von vorneherein nicht direkt feindselig gegenüber zu stehen. Es ist also ein Versuch, den gegenseitigen Respekt von vorneherein anzuheben und die Regeln der einzelnen Plattformen individueller gestalten zu können.
Plattformen wie weBelong setzen darauf, typisch toxische Elemente aus dem Netzwerk herauszunehmen. Dazu gehören vor allem Statistiken, zum Beispiel über Follower, Zustimmungen, Interaktionen und Sichtbarkeit. Man versucht hier also, den Wettbewerb zur Social Media Popularität und damit auch übertriebenes Selbstbewusstsein, Polemik und Falschdarstellungen oder Idealisierungen des eigenen Lebens (typisch für Influenzer auf Instagram) - und damit unrealistische Vergleiche - aus der Plattform zu entfernen. Zudem sollen Firmen und Werbeaccounts dort keine Rolle spielen (in so einem Fall stellt sich natürlich die Frage nach der Finanzierung). VSCO setzte sogar darauf, Likes und Kommentare gänzlich auszuschließen, während SomewehreGood sich über Interaktionen mit der eigenen Stimme, Limitierungen bei der Anzahl der Interaktionen und dem Abschaffen von Profilen von toxischen Plattformen abheben will.
Die Plattform Aether setzt beipsielsweise auf Demokratie: Hier sollen auf den einzelnen forenähnlichen Communities Moderatoren eingesetzt werden, die jedoch von der Community selbst jederzeit gewählt und abgewählt werden können, basierend auf ihren Entscheidungen.
Wie man sieht, gibt es viele, teils auch recht experimentelle Ansätze, Social Media neu zu erfinden. Ob und welche Plattformen sich letztendlich durchsetzen, wird sich zeigen.
Mir erscheint es jedoch so, als seien diese Ansätze, so schön sie auch sind, teils mehr, teils weniger mit den Bedürfnissen von Menschen, insbesondere Social Media Nutzern vereinbar. All das, was Social Media so toxisch macht - die Vergleiche, die Popularität, das unverholene Verkünden von Meinungen und die suche nach Gleichgesinnten für die eigene Extremmeinung - scheint mir oft einfach sehr typisch für Menschen. Einige Menschen machen aus Social Media ihren Beruf und sind auf Follower-Counts und Interkationen angewiesen, um sich zu finanzieren. Zudem ist - trotz aller Versuchen zur Gleichmachung - nicht jede Meinung gleichwertig. Es gibt Experten zu Themen und Menschen, die besonders gut schreiben oder zusammenfassen können, ein Händchen dafür haben, Interessantes zu entdecken und zu sammeln, oder generell sympathischer herüberkommen. Ein Netzwerk, bei dem man diese Menschen und deren Gedanken stets zwischen weniger interessanten Inhalten suchen muss, kann schon rein logisch nicht attraktiv erscheinen. So lange es also Bedarf an Plattformen mit toxischen Eigenschaften gibt, wird es sie geben. Ich persönlich sehe nicht, dass dieser Bedarf in absehbarer Zeit wegfallen wird.
Wenn gar nichts mehr geht, kann man natürlich immer noch auf Witzplattformen wie Yo (man kann einander nur „Yo“s zusenden) oder Cancel (jeder Post wird umgehend gecancelt und ein zweiter Versuch führt zum Ausschluss von der Plattform) zurückgreifen.
Selbstschutz
Im Augenblick sind wir in der Social Media Landschaft allerdings von toxischen Plattformen dominiert und es ist fraglich ob und wann sich dies ändern wird. Starkes Konsumieren von Social Media (> 3 Stunden täglich) hat schon bei Teenagern einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit.
Wir sind es uns selbst, und unserer Kindern, unserer Umgebung und einander schuldig, uns selbst in dieser Landschaft bestmöglich zu schützen. Wir müssen uns überlegen, wem wir folgen - ob diese Leute positiv oder negativ sind, oder ob sie uns so viel bedeuten, dass wir ihnen auf dem Weg zu mehr Positivität begleiten wollen. Wir müssen uns vor toxischen Freunden und Feinden selbst schützen, indem wir die technischen Möglichkeiten nutzen, um deren Einfluss auf uns zu verringern. Ob man nun seinen Account sehr restriktiv einsetzt oder bewusst andere Accounts blockiert oder auf „mute“ setzt, wir sind es uns selbst schuldig, Account-Hygiene zu betreiben.
Wenn wir das Selbstbewusstsein haben, kann es auch von Vorteil sein, sich nicht so perfekt zu geben, wie Influenzer es beispielsweise im Extremfall tun. Ich habe schon lange persönlich für mich entschieden, auch auf Social Media zu Fehlern, Meinungsänderungen, neuen Erkenntnissen und meinen persönlichen Dummheiten zu stehen. Das macht mich nicht nur menschlich - was ich bin - sondern ist hoffentlich auch ein Vorbild für andere, sich selbst nicht so ernst zu nehmen und nicht das perfekte Online-Bild ihrer selbst zu erstellen. Es erfordert auf Social Media und im echten Leben ein gewisses Selbstbewusstsein, Fehler zu machen, Fehler zu zeigen und Fehler vor allem stehen zu lassen. Umso schöner ist der Booster für das eigenen Selbstbewusstsein, wenn genau diese Aktionen zu positiven Interaktionen mit Menschen führen, die das gut finden oder selbst ähnliche Anekdoten haben.
Social Media Hygiene ist auch eine Frage der Qualität. Vor einigen Monaten habe ich einen meiner Twitteraccounts sehr plötzlich aufgegeben und in drei kleinere Accounts verwandelt. Um es kurz zu machen: Die ~3.500 Follower waren mir zu viel. Die Leute waren mir aus unterschiedlichen Gründen gefolgt und konnten teilweise mit meinen anderen Inhalten nichts anfangen oder mochten diese sogar nicht. Ich hatte die Toxizität von Twitter unter meinen eigenen Tweets plötzlich sehr regelmäßig spüren dürfen. Qualitative Interaktionen und ehrliche Verbindungen zu anderen, mir wichtigen Usern, gingen in der Quantität unter und das gefiel mir nicht. Deshalb kann ich Nutzern von Social Media nur raten, sich nicht von der Welt der Zahlen, der Follower, der Likes, der Kommentare verleiten zu lassen, sondern die Qualität der eigenen Verbindungen der Quantität vorzuziehen. Follower sind erstmal nur Follower. Follower sind keine Freunde. Das sollte man nicht verwechseln.
Und manchmal muss man sich vielleicht auch mal zurücklehnen, merken, dass das alles gerade nicht so gut und toll ist, dass Dinge passieren und einen selbst auf eine Art beeinflussen, die man nicht erwartet hat. Dann ist es manchmal auch sinnvoll, einfach mal einen Schlussstrich - ob permanent oder temporär - zu ziehen, und seinem Geist Ruhe zu gönnen. Und es ist wirklich vollkommen okay.
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