Es ist der 11. Dezember 2020. Das RKI meldet fast 30.000 Neuinfektionen und erneut fast 600 Corona-Tote in den vergangenen 24 Stunden. Seit Wochen explodiert die Infektionsdynamik, viele Kliniken sind bereits an ihrer Belastungsgrenze angelangt. Den Allermeisten ist klar, dass der "Wellenbrecher-Shutdown" krachend gescheitert ist, doch der inzwischen unvermeidliche, vollständige Lockdown soll erst nach Weihnachten kommen?

Für Viele mag die Erkenntnis nun überraschend und schockierend zugleich sein, dass die kapitalistische Gesellschaft tatsächlich Menschenleben zu Gunsten ökonomischer Kennzahlen und Profite opfert, denn die Corona-Politik legt dieses Verhältnis nun in unmittelbarer Nähe offen. Das Problem ist aber keines, das erst im Angesicht der Pandemie bestünde, sondern eines, dass geradezu ein Wesensmerkmal kapitalistischer Herrschaft darstellt, mit dem aktuellen Unterschied, dass sich dieses Merkmal nun nicht mehr erfolgreich externalisieren lässt.

Hunger

Diese Externalisierung findet Jahr um Jahr und Tag für Tag erfolgreich statt. Die ökonomische Dominanz des Welt-Nordens auf der einen Seite, die Unterlegenheit und Abhängigkeit des Südens auf der anderen - Das eklatante Ungleichgewicht trägt jedes Jahr erheblich dazu bei, dass 30 - 40 Millionen Menschen weltweit an Hunger oder den unmittelbaren Folgen von Hunger sterben, obwohl sie nicht sterben müssten, denn es gäbe genug, um ein Vielfaches der Weltbevölkerung sicher zu ernähren. Es geschieht aber das Gegenteil, der Weltnorden verschwendet, während 800 Millionen Menschen auf der Welt chronisch hungern. Das tägliche Massenverhungern von 24.000 erregt aber keinerlei Gemüt mehr, es findet nur noch in wenigen Diskursen Platz, selbst in linken Debatten hat hier eine gewisse Gewöhnung Einzug erhalten. Es gehört zum common knowlegde, dass gehungert, verdurstet und gestorben wird, und das massenhaft, aber eben weit weg.

Klima

Die Klimakrise wird die Lage von hunderten Millionen Menschen noch weiter verschärfen und auch hier schlägt das eklatante Missverhältnis zwischen Verursacher*innen und Geschädigten akut zu Buche. Das, was die reichen Industrienationen wie Deutschland emittieren, ihr hoher Weltverbrauch von etwa drei Erden, hat in den Erdregionen, die kaum für Emissionen verantwortlich sind, vielfach dramatischere - existenzielle - Auswirkungen auf das Leben der Menschen. All das ist bekannt, all das ist gut erforscht, es ändert sich aber nichts, denn warum sollte sich daran auch etwas ändern, denn a) läuft es für die Kapitalkräfte ganz gut, denn jede Krise verspricht exorbitante Gewinne für die Konzerne mit der besten Marktstellung und b) gibt es keinen nennenswerten politischen-gesellschaftlichen Druck, der dieses tödliche Gefüge kapitalistischer Herrschaft wirklich ins Wanken bringen würde, mal abgesehen von hin und wieder aufflackernden Leuchtfeuern erfolgreicher sozialer Kämpfe. Gestorben wurde bisher woanders. Daran hatten sich viele gewöhnt.

Hin und wieder gibt es zwar ein Schlaglicht auf die brutale und schonungslos-tödliche Durchsetzung von Kapitalinteressen - denken wir an die vielen toten Arbeiter*innen für die Fußball-WM in Katar, die massenhaften Zwangsumsiedlungen und einige Tote in Brasilien 2014 oder bekannte Mega-Katastrophen wie im indischen Bhopal 1984, wo insgesamt 1,5 Millionen Menschen an den Folgen litten und leiden - aber im Großen und Ganzen ist die Externalisierung des Sterbens doch eine recht erfolgreiche Strategie.

Flucht

Auch im Kontext des europäischen Migrationsregimes funktioniert die Strategie der Externalisierung. Ein Lager mit Zuständen wie in Moria 1 und 2 vor der eigenen Haustür würde sich wohl kaum länger als ein paar Wochen halten können, bevor eine Welle der Empörung und des Protests zur Schließung führen würde. Die Verortung auf einer Insel und noch dazu am Rande Europas begrenzt die Empörung auf einen überschaubaren Kreis an linken und humanistisch gesinnten Akteur*innen aus anderen politischen Lagern, deren Machtmittel aber offenbar zu klein sind, um die Macht des Grenzregimes zu beschränken. Dasselbe gilt für das wissentliche Sterbenlassen im Mittelmeer, das inzwischen in eine Phase der proaktiven Beihilfe durch europäische Akteur*innen wie FRONTEX übergegangen ist (durch z.B. illegale Pushbacks). Vor der eigenen Haustür, im See um die Ecke, würde das Ertrinkenlassen durch Behörden, die die Mittel hätten, einzugreifen, Stürme der Empörung auslösen, vielleicht nicht bei jedem, aber doch bei einer derartig großen Anzahl an Menschen, dass eine solche Praxis sofort eingestellt würde. Massenhaft Tote im Mittelmeer und auf anderen Routen interessieren nur noch eine relative Minderheit.

Eigentum

Dabei geht es vor allem um die Verteidigung von Eigentumswerten gegenüber den "Fremden", die als Bedrohung für diese geframed werden, mal offen rassistisch als "Invasoren", mal bürgerlich als "Wirtschaftsflüchtlinge". Im Kern geht es darum, Menschen als Gefahr für angestammte Eigentumswerte zu markieren. Dass die Strategie des Verteilungskampfs am unteren Ende der Einkommenspyramide erfolgreich ist, sehen wir an den Wahlergebnissen extrem rechter Parteien. Sie treten ebenfalls als Verwalter*innen der Kapitalinteressen der "Stammbevölkerung" auf, oft jedoch mit dem Unterschied völkischer Implikationen. Es kommt nicht von ungefähr, dass konservative und extrem rechte Parteien trotz habitueller Differenzen hier oft zusammen kommen.

Corona

Zurück zur Corona-Lage: Das Opfern tausender Menschenleben für das Weihnachtsfest und die mit dem Weihnachtsfest immer im Zusammenhang stehende Mega-Konjunktur ist nun für alle sichtbar. Die Leichtigkeit, mit der darüber entschieden wird, dass es vertretbar sei, dass täglich >500 allein in Deutschland an einem Virus sterben, dessen Ausbreitung nachweislich mit bereits bekannten Maßnamen verhinderlich wäre, die Unfähigkeit, sich von den systemischen Sachzwängen zu lösen und sich auf einen anderen Weg zu begeben, wie Menschen genug Mittel zum Leben haben, all das spricht Bände und all das muss endlich zur Einsicht führen, dass die beschriebenen Mechanismen der kapitalistischen Herrschaft der Zukunft der Menschheit ein Ende setzen, wenn die Menschen diesem Wahnsinn nicht endlich ein Ende setzen.