Wenn es um die Bewältigung der Klimakrise geht, wird auch oft eine Art „Lockdown“ als notwendiges Übel erachtet: der Verzicht auf etablierte individuelle Freiheiten, welche im Zuge dessen zu den Schickimicki-Privilegien eines verwöhnten Westens relativiert werden. Der Klimaforscher Mojib Latif erklärte letztes Jahr, dass weltweite Klimaneutralität nur erreichbar sei, „wenn sich Einzelinteressen dem Gemeinwohl unterordnen, auf der persönlichen Ebene, auf der Ebene der Unternehmen und auf der zwischenstaatlichen Ebene“1.

Nun ist der Ausdruck „Lockdown“ dem öffentlichen Diskurs erst seit 2020 bekannt. Doch von einer „Impfung“ gegen den Klimawandel wurde schon lange vor der Pandemie gesprochen.

Als Ultima ratio, welche sich an den Rändern des Diskurses bewegt, gilt hin und wieder nämlich das „Geo-“ oder „Climate Engineering“: der großtechnologische Eingriff in die Atmosphäre, um das überschüssige CO2 zu entfernen, die Sonneneinstrahlung abzumindern, die Wolkenbildung zu beeinflussen oder ähnliches. „Impfung“ meint in diesem Zusammenhang, dass Aerosole, zum Beipiel Kalk, in die Atmosphäre eingebracht werden, um diese quasi „immun“ gegen den Krankheitserreger zu machen. Wenn es mit der Selbstaufgabe, die Latif einfordert, nichts wird, könnte Geo-Engineering sich dann vielleicht als Rettung in letzter Sekunde erweisen?

Experten befürchten seit jeher unvorhergesehene Nebenwirkungen, also eine „Verschlimmbesserung“ der Gesamtsituation, die zu erwartende Abhängigkeit von der angewendeten Technologie sowie den Umstand, dass Geo-Engineering zumeist nur einen Teil des Klimaproblems behandelt, andere Aspekte aber außer Acht lässt. Hin und wieder wird auch darauf hingewiesen, dass man nicht zu viel darüber berichten oder gar forschen sollte, damit bei der Bevölkerung nicht der irreführende Eindruck entsteht, der Klimawandel lasse sich einfach „weg-engineeren“.

Doch in eine ebensolche Erlösungshoffnung floss – nahezu weltweit und nahezu von Anfang an – der Löwenanteil der politischen Energie während der Pandemie. Die Erlösung von all unserem Leid ist hier gegeben durch die Impfung der Menschheit, den großen „Techno-Fix“, nach dem hoffentlich alles wieder gut ist und wir weitgehend wieder zu jener „Normalität“ zurückkehren können, in welcher der Klimawandel das beherrschende Medienthema war. Die Moral von der Geschichte ist dann, dass es keine Moral gibt und die Technik es schon richten wird. Unmoralisch ist allenfalls, wer sein Vertrauen nicht in die Allmacht der Technik steckt.

Vom „Kampf gegen Corona“ wird ebenso oft gesprochen wie vom „Kampf gegen den Klimawandel“. Die subtile Kriegsrhetorik, welche hier zur Anwendung kommt, suggeriert, dass eine Koexistenz oder Anpassung von Anfang an auszuschließen ist, dass wir uns auf keinen Fall auf ein „Leben mit“ einlassen sollten, dass wir außerdem nicht mit einem Nachdenken über tiefere Ursachen unsere Zeit vergeuden sollten, sondern immer nur zum „Kampf gegen“ ins Feld ziehen müssen: Der Feind ist eindeutig und ohne Weiteres bestimmbar, ihn gilt es auszuschalten, und zwar unverzüglich.

Der Agrarwissenschaftler Norman Borlaug erhielt für seine Beiträge zur weltweiten Industrialisierung der Landwirtschaft 1970 den Friedensnobelpreis. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, noch während der Preisrede den „Krieg des Menschen gegen den Hunger“ zu erklären. Noch im Jahr 2000 lässt er auch mit der Kriegspropaganda nicht lange auf sich warten. Da der Welthunger nirgends als Feind herumsteht, den ein Scharfschütze noch vor der Mittagspause bequem erschießen könnte, müssen politische Gegner als Ersatzfeinde herhalten: „Extremistische Umwelt-Elitisten scheinen alles in ihrem Vermögen Stehende zu tun, um wissenschaftlichen Fortschritt zu sabotieren. Kleine wohlhabende lautstarke wissenschaftsfeindliche Gruppen bedrohen die Entwicklung und Anwendung neuer Technologie“. Doch der Sieg, die Erlösung vom Hunger durch Biotechnologie, er ist zum Greifen nah: „Die bemittelten Nationen können es sich leisten, elitäre Positionen einzunehmen und mehr Geld für Nahrung auszugeben, die mit sogenannten natürlichen Methoden produziert wurde; die 1 Milliarde chronisch armer und hungriger Menschen dieser Welt können es nicht. Neue Technologie wird ihre Rettung sein und sie von obsoleter, ineffizienter und kostenintensiverer Technologie befreien“2.

Das Problemlösungsverständnis, welches hier zum Tragen kommt, kann man als „mechanistisch“ bezeichnen: Wie die Verschleißteile einer Maschine werden die Probleme, um die es geht, als isolierte Gegebenheiten angesehen. Mit den Strukturen des Systems, in welchem sie auftreten, haben sie prinzipiell nichts zu tun. Das Problem ist im Wesentlichen durch eine Zahl gegeben. Diese gilt es auf einen bestimmten Wert einzustellen. Bill Gates kann sein jüngst erschienenes Buch ganz in diesem Geiste beginnen: „Es gibt zwei Zahlen, die Sie über den Klimawandel kennen sollten. Die eine ist 51 Milliarden. Die andere lautet 0“3. Die Atmosphäre als große Klimaanlage.

Spätestens seit der Systemtheorie, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, gilt diese Denkweise „offiziell“ zwar als überholt. Komplexe Systeme wie das Klima sind mithin nichtlinear, sie weisen zahlreiche Rückkopplungen, Phänomene wie Selbstregulierung, Interaktion mit umgebenden Systemen auf etc. „Offiziell“ unterschreiben das auch die Klimaforscher. Doch der Umgang mit Krisensituationen macht deutlich, dass die mechanistische Denkweise – die „Magie der Zahl“ – den modernen Menschen dort, wo es darauf ankommt, nach wie vor zu beherrschen scheint. Andernfalls wäre die ständige Reduktion der Atmosphäre auf eine oder zwei Zahlen, die Reduktion des Klimawandels auf ein Sammelsurium von CO2-Bilanzen oder auch nur den Treibhauseffekt schwer erklärbar.

Deswegen ist es auch inkonsequent, einerseits das Geo-Engineering als unverantwortlichen Technikoptimismus abzulehnen, andererseits aber ständig von „CO2“ zu reden. Beides gehört zusammen, insofern beides mit einer mechanistischen Denkweise verbunden ist. Die Klimadebatte entstammt dieser Denkweise und reproduziert sie fortlaufend. Fast gewinnt man den Eindruck, der gelegentliche Verweis auf Nichtlinearität, wie er zum Beispiel in Form von Kippelementen auftritt, diene hier als Kosmetik, um diesen Umstand zu verschleiern. Es ist bequem, sich an isolierte Zahlen zu klammern: Weiteres Nachdenken erscheint dann überflüssig.

Dabei dürfte es sich freilich um keine anthropologische Konstante handeln. Die Zahlenmagie dürfte in weiten Teilen anerzogen und angelernt sein. In letzter Instanz stellt das mechanistische Denken einen Anthropozentrismus und Antirealismus dar: Der moderne Mensch geht davon aus, dass die Natur in etwa so beschaffen sei, wie er selbst seine Apparate konstruiert (aus lauter Einzelteilen, die entweder eine messbare Funktion erfüllen oder nutzlos sind). Dem christlichen Kreationismus – mit seinen zeitgenössischen Spielarten wie Intelligent Design – kommt er dabei näher, als ihm lieb wäre. Was die Hypothese nahelegt, dass Technikoptimisten Gott in erster Linie leugnen, um sich selbst als dieser aufführen zu können.

Angenommen, dass Wissenschaft auch heute noch stärker in dieser Denkweise verharrt, als sie sich eingestehen will: In diesem Fall bräuchte sich niemand darüber zu wundern, dass wenig Initiative ergriffen wird, die nicht auf einem technologischen Heilsversprechen beruht. Wie wäre es um die Akzeptanz des Corona-Lockdowns bestellt, wenn keine Impfung in Aussicht wäre? Was wäre anders, wenn keine digitale Telekommunikation zur Verfügung stünde, um Isolation, Home Office und Home Schooling zu erleichtern oder erst zu ermöglichen? Was wäre, wenn unsere Gesellschaft noch nicht im Überfluss leben würde, wenn also fast jeder einem „systemrelevanten“ Beruf nachginge und sich nicht „downlocken“ ließe, da er dann nicht mehr genug zu essen hätte? Dann wären jene, die bedingungslose Solidarität einfordern, sicher ein ganzes Stückchen leiser. Ist es also die Moral, die für die Akzeptanz des Lockdowns sorgt, oder ist es die Technik?

Was können wir daraus für das Klima folgern? Zunächst einmal, dass „Klima“ weder gleich „CO2“ noch gleich „Natur“ ist – und ferner, dass „Klimawandel“ nicht gleich „Kapitalismus“ oder gar „das System“ ist. Der real existierende Sozialismus war und ist ein ebenso großer Umweltsünder, schon Karl Marx vertrat einen rückhaltlosen Fortschrittsglauben. (Der Kommunismus lässt sich darin als Paradies verstehen, in welchem die Maschinen den Menschen von der Arbeit erlöst haben.)

Darauf aufbauend lässt sich fragen, welchem umfassenderen Problemkreis der Klimawandel und vielleicht auch die Pandemie zugeordnet werden können. Klimaaktivisten schreiben sich oft die Verringerung des Plastikmülls auf die Fahnen. Doch Plastik hat mit dem Treibhauseffekt herzlich wenig zu tun. Worin liegt also die tiefere Verwandtschaft der beiden? Ist sie durch das Erdöl gegeben? Könnte sie vielleicht mit einem problematischen Umgang mit der Natur zu tun haben? Oder wäre dieser Schluss zu romantisierend? War das wesentliche Problem der industriellen Revolution, dass versehentlich zu viel Kohlendioxid in die Atmosphäre gepustet wurde, oder gab es auch weitere Aspekte, die nicht zu vernachlässigen sind? Wie steht es um die „Klimagerechtigkeit“? Sollte die hier gesuchte Gerechtigkeit sich wirklich nur auf den Treibhauseffekt beziehen? Die negativen Folgen des Treibhauseffekts – das heißt das, was für seine Folgen gehalten wird – treten selten in isolierter Form auf, oft sind sie mit anderen Missständen verbunden, die sich als ebenso ungerecht werten ließen, wie zum Beispiel sämtliche ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse: Sollten nicht auch diese Umstände Berücksichtigung finden? Wie stellt man sich zur Versauerung der Ozeane, für die zwar CO2, nicht aber der Treibhauseffekt verantwortlich gemacht wird? Und schließlich: Sollte Geo-Engineering weiter erforscht werden, um sich eine informierte Meinung zu Aussichten, Risiken und Nebenwirkungen bilden zu können? Oder handelt es sich hierbei von Anfang an um eine Illusion, weil der Idee ein falsches Verständnis des Problems zugrunde liegt? Wenn dem so ist, kann das Problem aber nicht nur der Treibhauseffekt sein.

Wie man den aktuellen Diskurs um den Klimawandel auch dreht und wendet: Auf einen grünen Zweig kommt man damit nicht. Einen Klima-Lockdown ohne Aussicht auf Klima-Impfung gab es für Jahrzehnte nicht und wird es wohl auch in Zukunft nicht geben. Dumm ist, wer aus seinen Fehlern nicht zu lernen vermag. Entweder man plant Geo-Engineering fest ein – was ich mit großer Skepsis sehe –, oder man verzichtet auf die Deutungshoheit der CO2-Bilanz und entwirft Normen, die auf mehr abzielen als nur die Verringerung von Emissionen.

Quellen:

1 Mojib Latif (2020). Heißzeit: Mit Vollgas in die Klimakatastrophe. Herder, Freiburg, S. 29

2 Übers. n. Norman Borlaug (2000): „Ending World Hunger. The Promise of Biotechnology and the Threat of Antiscience Zealotry“. In: Plant Physiol 124: 487-490, S. 490 [http://www.plantphysiol.org/content/plantphysiol/124/2/487.full.pdf]

3 Übers. n. Bill Gates (2021). How to Avoid a Climate Disaster: The Solutions We Have and the Breakthroughs We Need. Penguin Random House, E-Book, New York, „Introduction“

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