Während die Welt gerade eher auf den Fußball blickt, schaue ich die Tour de France. Ich bin kein großer Fan, nur ein wenig nostalgisch, saß ich doch früher selbst im Sattel. Ich sehe im Sport nicht den Sinn des Lebens, lasse mich aber gerne ein wenig unterhalten. Am Straßendadsport gefällt mir das ebenso gemächliche wie ausdauernde Durchqueren der Ländereien, das Passieren quasi-mythischer Orte und Berge unter manchmal fast übermenschlichen Anstrengungen. Die großen Rundfahrten haben etwas von einer Odyssee, einer Heldenreise.
Ebenso wie der Fußball ist der Radsport männerdominiert. Immerhin erhalten die Tagessieger bei der Tour de France seit ein paar Jahren nicht mehr Wangenküsschen von zwei jungen Damen, die das Siegerpult wie Trophäen flankieren, sondern auf der Bühne stehen – von Corona einmal abgesehen – ein Mann und eine Frau. Das kann als kleiner, dafür aber doch ehrlicher Fortschritt gelten.
Insgesamt erscheint der Sport – zumindest der Profisport – aber doch außerordentlich „binär“ oder zumindest konservativ. Die Zeit scheint hier fast stehengeblieben zu sein. Kein Wunder: Körperliche Unterschiede spielen hier noch eine weitaus größere Rolle als in vielen anderen Lebensbereichen, welche von Feminismus und Queer-Bewegung thematisiert und problematisiert werden. Beim Fußball wird darüber diskutiert, ein Stadion in Regenbogenfarben auszuleuchten, aber daran, dass derweil ausschließlich Cis-Männer auf dem Platz stehen, unter denen bestenfalls ein paar Schwule anzutreffen sind, daran stört sich so gut wie niemand (ganz zu schweigen von dem berechtigten Vorwurf des Opportunismus/der Doppelmoral, als ob die Fußball-Industrie besonders für soziale Gerechtigkeit bekannt sei).
Geschichtlich oder soziologisch betrachtet kommen sicher noch weitere Faktoren hinzu: Nicht selten ist sportlicher Wettbewerb ein kontinuierliches Kräftemessen, gerade beim Radsport auch verbunden mit der neuesten Technik, mit detaillierten Messungen aller möglichen Werte, mit dem Bestreben, der Erste und Beste zu sein etc. Bei diesen „typisch männlichen“ Tendenzen – gesetzt, dass sie solche sind – ist es fast konsequent, wenn am Ende auch Frauenkörper als Trophäen auf dem Podest abgestellt werden. Männer mögen auch eher dazu geneigt sein, sich in ihrem Leben auf eine einzige Fähigkeit zu konzentrieren und diese zu perfektionieren, im Zuge dessen aber alles Übrige auszublenden etc.
Diese komplexeren Faktoren prägen neben dem Sport allerdings auch viele anderen Bereiche der westlichen Zivilisation. Für den Regenbogen-Feminismus, wie er in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, ist es entscheidend, sie gerade nicht zu problematisieren: Frauen sollen nirgendwo weniger gelten als Männer, aber an den systemischen Strukturen, in denen Frauen wie Männer gleichermaßen leben, soll sich überhaupt nichts ändern. Frauen sollen in der beruflichen Karriere ebenso viel Gehalt bekommen wie Männer, aber Sorgearbeit soll nach wie vor unbezahlt bleiben. Ungerechtigkeit soll beseitigt werden, ohne sich mit ihren Ursachen zu befassen. Eventuell wird die geschlechtliche Unterscheidung selbst aufgehoben, aber auch dies ändert nichts daran: dass der Mainstream-Feminismus von heute davon lebt, keine Systemkritik zu beinhalten. Würde er „das System“ grundlegend kritisieren, fände er keine so breite Akzeptanz.
Wenn dies konsequent auf den Sport übertragen wird, kann das nur heißen: Sämtliche Strukturen, in denen sportlicher Wettbewerb geschieht und die ihn ausmachen, werden unverändert beibehalten; der Wettbewerbsgedanke, das gegenseitige Übertrumpfen und Bezwingen wird nicht etwa als „typisch männlich“ verworfen, sondern als völlig geschlechtsneutral gewertet; Geschlechtergerechtigkeit wird allein als isoliertes Problem betrachtet und behandelt.
Da in den meisten etablierten Sportarten Frauen jedoch biologisch unterlegen sind, würde eine Aufhebung der Geschlechtertrennung hier einer Beendigung des weiblichen Profisports selbst gleichkommen. Paradoxerweise würde das kompromisslose Gleichheitsideal dazu führen, Frauen aus dem Sportbetrieb zu verdrängen. Weiblichen Profisport kann es oft nur geben, weil strukturell zwischen Frauen und Männern unterschieden wird.
Doch der Feminismus begnügt sich ja nicht mit der simplen Unterscheidung von „Frauen“ und „Männern“. Längst ist zum Gemeinplatz geworden, dass das biologische Geschlecht und die Geschlechtsidentität eigentlich nichts miteinander zu tun haben, dass es sich hier um zwei völlig verschiedene Dinge handelt, dass jeder Mensch mit mindestens zwei Geschlechtern (einem körperlichen und einem geistigen) auf die Welt kommt. Im Profisport schlägt sich dies darin nieder, dass „Frauen, die biologisch männlich sind“ in Wettbewerben gegen „Frauen, die biologisch weiblich sind“ antreten können, um sie dort zu dominieren, etwa beim Ringen, in der Leichtathletik oder beim Gewichtheben. Gemäß der üblichen Mainstream-Queer-Logik ist das ein klarer Fall von „Transphobie“: Frauensport, der sich nicht bereitwillig von männlichen Körpern beherrschen lässt, gilt entsprechend als transphob.
Das umgekehrte Problem existiert natürlich nicht: „Männer, die biologisch weiblich sind“ machen „Männern, die biologisch männlich sind“ tendenziell weniger Konkurrenz, und wenn sie wider Erwarten den männlichen Wettbewerb dominieren sollten, wäre das überhaupt kein Problem, sondern würde im Gegenteil Anerkennung verdienen, da sie ja von schlechteren, nicht von besseren körperlichen Voraussetzungen aus starten. Mit Transphobie von männlicher Seite ist entsprechend nicht zu rechnen, jedenfalls nicht aus Gründen sportlicher Fairness.
Wie gesagt will ich damit nicht behaupten, dass Frauenkörper Männerkörpern grundsätzlich unterlegen seien. Diese Verhältnisse werden dort deutlich unklarer, wo es nicht nur auf „Muskelkraft“, auf Körpergröße oder was auch immer ankommt. Sicher gibt es Sportarten, in denen sogar das Umgekehrte der Fall ist oder wäre. Sportarten kommen und gehen. Ich spreche hier nur von den meisten etablierten Sportarten.
Überträgt man den Mainstream-Feminismus von heute auf den Sport, diskriminiert er also vor allem: Frauen. Wenn diese Spezifizierung unbedingt nötig ist: Cis-Frauen. Um hier nicht durcheinander zu kommen: Bei den Bezeichnungen „cis“-(gender) und „trans“-(gender) geht es nicht um sexuelle Orientierung, nicht darum, zu lieben wen man will, sondern um Geschlechtsidentität. Das heißt es geht nicht um die Beziehungen, die Menschen mit anderen Menschen haben, sondern um die Beziehung, die Menschen zu sich selbst haben. Ich will nicht bestreiten, dass die Identität eine Rolle spielt, welche in der „heteronormativen Matrix“ lediglich unbemerkt bleibt – ich weise lediglich auf diesen logischen Unterschied hin.
Was lässt sich daraus also folgern, ohne in irgendeinen Konservatismus zu verfallen? Vielleicht ja dies: Die eigentlichen Ideale des Feminismus sind mit der Welt, in der wir leben, schlicht nicht vereinbar. Diese nüchterne Feststellung vermag vielleicht, dem grundsätzlich berechtigten Regenbogen-Feminismus etwas von der nervtötenden Selbstzufriedenheit und -genügsamkeit zu nehmen, in die er sich verrannt hat, in welcher er meint, jeden, der hier nicht einfach mitmacht, als reaktionär abstempeln zu können und über die ihn mittlerweile auch die Werbung für sich beanspruchen kann. Das führt zu Demut und Bescheidenheit. Wir können als Faustregel doch annehmen: Was einmal in der Werbung angekommen ist, das ist dann auch nur noch Show, das ist zum Überbau der Gesellschaft geworden, das ist über seinen Zenit hinaus gelangt oder war von vornherein eine ideologische Totgeburt (wobei hier wohl Ersteres der Fall wäre). Sicher, auch Profisport ist in wesentlichen Teilen Show – Brot und Spiele eben – aber das ändert ja nichts daran...
Was nun die Transgender-Athletinnen betrifft: „Richtig“ sind sie weder bei den Frauen noch bei den Männern, sie sind „Systemsprenger“ im besten Sinne. Nicht auszuschließen, dass sie gekommen sind, um zu bleiben. Dann wäre ihr Erscheinen eine Frage, auf die es bislang noch keine Antwort gibt. Die Debatte wird weitergehen und die Zeit wird zeigen, was dabei herauskommt.
Ich weiß nicht, wie man „das System“ umgestalten müsste, damit jeder, die Natur eingeschlossen, glücklich wird, ganz zu schweigen von praktischen Anweisungen zur Errichtung jener besseren Welt, die sich doch eigentlich jeder wünschen dürfte, der sich nicht aus bloßem Trotz an das Gegebene klammert. Doch die Frage nach dem Problem ist eine andere als die nach seiner Lösung. Ich halte es also mit der feministischen Theoretikerin Donna Haraway, die uns rät: „Unruhig bleiben“.
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