Es ist schon sehr lange her… ich selbst kenne nicht das genaue Datum… und doch ist es eingebrannt in meine Erinnerung, als wäre es heute.

Damals herrschte Unruhe im Land, das ich nicht mehr kenne, und nur allzu schnell gerieten Menschen, auch die unschuldigen, in die Fänge der Häscher des Herrschers, dessen Name mir entfallen ist.

Gute, wissende Köpfe mussten sich in acht nehmen, dass sie ihr Wissen nicht öffentlich kundtaten, sofern es nicht mit dem Wissen... oder besser gesagt dem Unwissen... der Mächtigen übereinstimmte.

Und allzu leicht wurde man angeschwärzt vom Volke, von den Hörigen, weil auch diese es nicht besser wussten und welche hofften, sich, durch die Auslieferung eines vermeintlich Aufrührerischen, Vorteile zu verschaffen.

Nun lebte zu dieser Zeit ein sehr ungewöhnlicher Mensch. Ein Denkender. Einer, der nicht denken ließ und der das Gedachte der anderen nicht zu seiner eigenen Wahrheit machte. Das war gefährlich.

Da mir auch der Name dieses klugen Mannes entfallen ist, will ich ihm einen neuen geben. Heute. Ich nenne ihn Hans. Hans Ahava. Ja. So heißt er heute. Und auch heute ist er ein kluger und wissender Kopf.

Doch nun zurück in die Zeit, die längst vergangen ist, die jedoch ihre Spuren hinterlassen hat. Kratzer, Dellen, blaue Flecken… und vor allen Dingen… Schmerz.

Nun ist der körperliche Schmerz zum Glück vergänglich, da auch der Körper selbst vergänglich ist. Was bleibt ist jedoch die Seele, das Bewusstsein. Unsterblich und immer wiederkehrend, immer wieder, immer wieder, immer wieder.

Von Körper zu Körper wird er mitgenommen dieser Schmerz, diese ungeheure Verletzung, an die ich mich nun zu erinnern versuche, denn auch ich war ein Kind dieser Zeit, dessen Datum ich vergessen habe, und ich war Zeugin dieser Zeit und Zeugin dieser grenzenlosen Ungerechtigkeit.

Hans

Hans war ein junger und ehrgeiziger Mann. Er wollte wissen, wollte alles wissen und das vermeintlich Unerklärbare erforschen. Seiner Zeit voraus, wagte er es, Theorien zu erstellen, Hypothesen aufs Papier zu bringen und überholtes Wissen, durch Fleiß, Einfallsreichtum und geschickte Beweisführungen zu erneuern. Er war ein Tüftler und Bastler, aber auch ein guter Beobachter und hervorragender Rechner.

Schritt für Schritt entlarvte er althergebrachte Weisheiten und ersetzte sie durch neues Wissen. Er war begeistert! Begeistert von allem, was sich ihm so offenbarte, was sich ihm im neuen und glänzenden Licht zu erkennen gab.

Er schaute geradeaus, in die Zukunft… und vergaß dabei das Alte, das ihm bereits im Nacken saß. Altes Denken. Verstaubtes Wissen, welches man ihm immer wieder hinterher warf. Nimm es und schlucke es! Rüttele nicht an unseren Grundfesten und vor allem: Mache uns nicht lächerlich!

Hans war wie im Fieber. Im Rausche seiner neuen Erkenntnisse. Nichts konnte vor ihm Halt machen, ohne dass er es auseinandernahm, auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfte und gegebenenfalls neu zusammensetzte. Er fühlte sich frei und unbeschwert, ermächtigt, die Welt aus den Angeln zu heben.

So vergaß er die Neider, die Alteingesessenen, die Sturköpfe und Denunzianten, denen seine frische Art ein Dorn im Auge war. Alles sollte so bleiben, wie es ist, so, wie es schon immer war.

So kam es, nachdem Hans eines Nachts aus dem Wirtshause kam, in welchem er  gerne seine neuesten Erkenntnisse zum Besten gab, denn er war, trotz unzähliger Stunden des selbstgewählten Alleinseins, welches er zu Forschungszwecken benötigte, auch ein geselliger Mensch, so dass jedermann, zu jeder Zeit wusste, welche Neuerungen Hans wieder ans Tageslicht befördert und welches Alte er für immer ad-absurdum geführt hatte, so kam es, dass er von den Häschern des Herrschers, dessen Namen ich vergessen habe, überfallen und gefangengenommen wurde. Ich weiß nicht einmal mehr, welches denn nun genau der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, doch es war gewiss ein Tropfen zu viel.

Gefangennahme

Bitterkalt war es in dieser Nacht und man sah seine Hand nicht vor Augen. Hinterrücks wurde Hans überwältigt, geschlagen und gefesselt. Man trieb ihn vor sich her wie ein Stück Vieh, stieß und schubste ihn, so dass er immer wieder zu Fall kam, dann trat man ihn, richtete ihn wieder auf, um ihn erneut in den Dreck zu stoßen.

Als er der Wache des Herrschers übergeben wurde, war er bereits so schwer zerschunden, dass er nahe daran war, sein Bewusstsein zu verlieren.

Die schwere Kerkertür wurde geöffnet und Hans mit einem Fußtritt in das feuchte und kalte Verlies befördert, wo er erschöpft zu Boden glitt.

Am nächsten Tage geschah nichts. Niemand öffnete die Tür, niemand sah nach ihm. Desgleichen auch am Tage darauf. Hunger und Durst quälten Hans, doch was ihm noch viel mehr zu schaffen machte war die Frage, die sich immer drängender in ihm ausbreitete: Was habe ich bloß getan?

Im Kerker

Nachdem Hans notdürftig wieder zusammengeflickt war, begann der Prozess.

Zermürbende Fragen, demütigende Unterstellungen, dümmliche Argumente und schadenfreudiges Gelächter musste Hans für Wochen über sich ergehen lassen.

Auch war das Volk geladen, denn es sollte jeder sehen und hören, was demjenigen geschehen konnte, der das alte Wissen, das doch mehr ein Glauben war, und die alten Strukturen in Frage stellte oder schlimmer noch, sie missachtete, statt ihnen ehrfürchtig ergeben zu sein.

Ein Querulant, ein Unruhestifter ist dieser und als solcher wird er auch verurteilt.

Das Neue ist eine Lüge und verunglimpft die alte Ordnung!

Das Volk tobt und jubelt! Der Verräter gehört in den Kerker und die Richter tun alles, um das verblendete Volk zufrieden zu stellen.

Lebenslänglich Haft!

Unverständnis

Hans war zutiefst getroffen. Aus dem jungen, lebensfreudigen Manne wurde mit der Zeit ein in sich gekehrter, grüblerischer Einsamer. Wer wollte ihm das verdenken?

Immer und immer wieder bohrte ihn die Frage nach seiner Schuld. Was habe ich getan, dass man mir so übel mitgespielt hat? Was habe ich dem Herrscher getan, was habe ich dem Volk getan und weshalb verbündeten sich jene miteinander gegen mich, dessen einzige Absicht es war, für alle Gutes zu bewirken, in Form des Neuen, des Wahren? Weshalb bestraft man mich für Wissen und Wahrheit, die doch zum Wohle aller wirken sollten? Das war eine bodenlose Ungerechtigkeit!

Jahr um Jahr kreisten diese Gedanken in Hans Ahavas Kopf und er konnte keine Ruhe finden. Immer sonderbarer wurde er, auch immer wortkarger, so dass letztendlich nicht einmal seine Wächter ein paar Worte mit ihm wechselnkonnten.

Er wurde zum weggeschlossenen Verschlossenen, dem unnahbaren Trotzkopf, der beschlossen hatte, niemandem mehr zu vertrauen. Wer wollte ihm auch dieses verdenken?

Selbst, als die Zeiten sich langsam änderten, milder wurden und weniger gefährlich, ja sogar gewillt, sich zu erneuern, grollte Hans noch seinem Schicksal.

Fortschrittliche Menschen erinnerten sich seiner, erinnerten sich an ihn, der nun schon so lange Zeit hinter Gittern saß… und wagten, sich nach ihm zu erkundigen.

Der derzeitige Machthaber, ich weiß  nicht mehr wie dieser hieß, bangte um sein Ansehen, würde er an den alten Zeiten festhalten. Das Volk wollte Erneuerungen und immer mehr Menschen erinnerten sich an Hans und fragten, was aus ihm geworden sei.

Begnadigung

Die hellsten und mutigsten Männer und Frauen verlangten Auskunft. Strebten eine Wiederaufnahme des Prozesses an, ja, hielten öffentliche Reden, in welchen sie sogar die Begnadigung des Hans Ahava forderten. Sie mussten nichts befürchten, denn es wehte bereits ein neuer Wind. Die Menschen, die Hans Ahavas Freiheit forderten nahmen an Menge zu und ihre Forderungen wurden immer lauter:

Lasst Hans frei! Lasst Hans frei!

Sie waren süchtig nach Erneuerung und brauchten Hans, um das neue Denken endgültig zu etablieren.

Unter dem Druck des Volkes wurde Hans Ahavas Prozess wieder aufgerollt. Auch diesmal wurde das Volk im Gerichtssaal zugelassen, doch diesmal, um zu zeigen, wie großzügig der Herrscher war, der nun höchstselbst den Richter spielte.

Unter großem Gejohle wurde Hans letztendlich freigesprochen, begnadigt.

Das Volk feierte ihn... doch Hans nahm die Gnade in seiner Verbitterung nicht an.

Selbstgewähltes Lebenslänglich

Rache!

Hans grübelte:

Wer hatte mich in diese menschenunwürdige und missliche Situation gebracht? Der Herrscher und das Volk! Nun sollen sie büßen! Nun sollen sie sehen, wie sie ohne mich weiterkommen! Ich nehme die Begnadigung nicht an!

Hans ließ sich zurückführen, in seine Zelle. Verkroch sich in der hintersten Ecke seines Kerkers und niemand sollte ihn besuchen und schon gar nicht befreien!

Ich bleibe verschlossen! Niemand soll erfahren, was in mir vorgeht, wie ich mich fühle und schon gar nicht werde ich mich jemals mehr um Neues scheren!

Das ist meine Rache!

Und Hans wurde so stur, wie damals seine Gegner… und er wurde alt… und starb…

allein… in seinem Schmerz.

Heute


Die Seele des Hans wechselte von da an wieder und wieder ihren Körper, doch der Schmerz blieb. Auf unerklärliche Weise, denn Hans konnte sich an damals nicht erinnern, war dieser innere Schmerz noch spürbar, diese Schmach, dieses Alleingelassenwerden, diese Niedertracht und dieser Verrat. Diese Ablehnung, dieses Misstrauen und diese Missgunst.

Es gibt einige Menschen, die Hans sehr zugewandt sind, die ihn mögen, ja, sogar lieben, doch sie können ihn nicht verstehen, können sich seine Zurückgezogenheit nicht erklären und sie haben das Gefühl, als lebte Hans hinter meterdicken Mauern, unfähig und unwillig sich zu äußern, aus Angst, verraten, verurteilt und dorthin eingesperrt zu werden, wo er sich doch sowieso schon befindet: im Kerker!

Menschen möchten sich miteinander gut verstehen, sie können einander jedoch nicht begreifen, wenn sie sich nicht öffnen, nicht transparent und verständlich sind. Solchen Menschen versucht man die Türe einzurennen, versucht an ihnen zu rütteln, ihnen entgegen zu kommen… und macht dadurch alles nur noch schlimmer, weil die Angst des Verschlossenen sich dadurch nur noch steigert und er sich immer tiefer in sich selbst zurückzieht. „So bin ich eben!“, heißt seine Devise und er spürt nicht, dass dieser Satz eine Ohrfeige darstellt für die anderen und einen Abbruch jeglicher Kommunikation, denn dieser Satz symbolisiert absoluten Stillstand und die Weigerung, an sich selbst zu arbeiten, sich zu heilen und somit Veränderungen zu erlauben.

Lasst ihn in Ruhe, dreht euch um und geht… und wartet… bis er bereit ist…

sein Gefängnis zu verlassen… bereit ist, auf euch zuzukommen… und sich seiner Angst zu stellen.

Und dann seid da und nehmt ihn in die Arme, heißt ihn willkommen…

im Neuen!





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