Ein Essay über die Suche nach der Ordnung der Welt

Zum neunzigsten Geburtstag von Horst Herold hatte Heribert Prantl im Oktober 2013 in der Süddeutschen Zeitung den vormaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes wunderbar als Kriminalphilosophen gewürdigt: "Warum, warum, warum? Es sind tausend Warums, die diesen Horst Herold umtreiben seit 32 Jahren." So hatte Prantl den Menschen Herold stets erlebt, der auch nach seiner "Knall auf Fall"-Entlassung  1981  bis zu seinem Tode 2018 ruhelos dieser Frage nachging.

Kriminalphilosoph! Ein großes Wort. Kriminalistik und Philosophie; geht das überhaupt zusammen? Sind das nicht zwei vollkommen konträre Welten? Die Kriminalistik dient der Aufklärung von Verbrechen und der Jagd nach dem Täter, während die Philosophie versucht, die Welt und das menschliche Dasein zu ergründen. Ist nicht der Kriminalist ein Mensch, der fest verankert im Hier und Jetzt, im unmittelbaren Geschehen, handlungssicher die richtigen Dinge tun muss und dabei hunderte von dienstlichen Vorschriften, rechtlichen Vorgaben und politischen Anweisungen beachten sollte? Also ein Mensch der Tat, auf den hinter jeder Hausecke unbekannte Fallstricke lauern, während er unter dem Druck von Unsicherheit und Terminvorgaben versucht, den Nebel des Bösen zu durchblicken.

Die Philosophie ist demgegenüber eine akademische Disziplin mit ihren eigenen Spielregeln und Qualitätsstandards, die versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen, zu deuten und zu verstehen. Sie ist das fortwährende Reflektieren von Fragen, die dem menschlichen Alltag entstammen, und die Suche nach Antworten, die auch eine sehr individuelle Seite haben können. Die Philosophie unterscheidet sich von anderen wissenschaftlichen Bereichen vielleicht dadurch, dass sie sich nicht auf ein spezielles Gebiet oder eine bestimmte Methode begrenzen lässt, sondern sich durch ihre Fragestellung charakterisiert: Die Frage danach, was das Gute und das Böse in der Welt wirklich ist? Nicht umsonst wird die Philosophie oft herangezogen, wenn es um normative Fragen und Werte geht: Darum, was wir tun sollen, an welchen Regeln, Werten und Gesetzen sich unser persönliches und gesellschaftliches Handeln orientieren soll. Sind es nicht die "Strukturen des Bösen", wie es Eugen Drewermann zu ergründen versuchte, die den Anfang philosophischen Denkens begründeten?

Dann wären die Kriminalwissenschaften die natürlichen Familienmitglieder der Philosophie. Diese haben ja das Phänomen der Kriminalität, das von dem Jesuitenpater Eckhard Bieger titulierte "Wurzelwerk des Verbrechens" zum Gegenstand. Strafrecht und Strafprozessrecht, Kriminalistik und Kriminologie; die Disziplinen der Kriminalwissenschaften dienen letztlich dem Menschen bei der Orientierung in einer für ihn undurchschaubaren Umwelt. Sie suchen nach Mustern in abgründigem menschlichem Verhalten und erforschen Schuld, Recht und Legitimität. Seit dem Mord von Kain an Abel, der geläufigen christlichen Mordgeschichte und deren urgeschichtlichen Vorgängermythen, werden genau diese Fragen gestellt: Was fühlt ein Mörder? Wie töten Menschen und warum töten sie? Kann ein Mord richtig sein?

Im Mittelpunkt von Philosophie und Kriminalwissenschaften findet sich also die anthropologische Konstante Vertrauen auf das Verhalten der Mitmenschen, oder anders ausgedrückt, auf Gerechtigkeit in einer (über-) lebensnotwendigen Gemeinschaft. Beide widmen sich somit vor allem Problemen unserer Gesellschaft und damit einhergehenden Fragen von Recht und Gerechtigkeit. Sie befassen sich mit der Kultur einer Gesellschaft, ihren Systemen sowie dem Abwägen von Gut und Böse. Seit den klassischen philosophischen Debatten bis zu drängenden aktuellen Fragen nach dem Umgang mit Verbrechen, Terror und Extremismus sind Philosophie und Kriminalwissenschaften untrennbar miteinander verwoben auf der Suche nach der Wahrheit, oder dem "(...) was seit der Grundlegung der Welt verborgen ist."

Der Kriminalist Horst Herold hatte die wesensmäßige Nähe beider Disziplinen bereits früh bei seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Marxismus, der materialistischen Dialektik und dem Kampf gegen den Terror klar erkannt und ihre Wechselwirkungen in seinem praktischen Handeln berücksichtigt. Er war in der Tat ein Kriminalphilosoph.