Die Beförderung der Menschenwürde scheint zumindest seit ihrer Verschriftlichung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 ein allgemeines Bestreben geworden zu sein. Aber inwiefern ist dieser Wert heute tatsächlich verwirklicht? Im Folgenden wird an der ökonomischen Weltanschauung aufgezeigt, inwiefern die Menschenwürde heute noch nicht vom Ideal in die Tat umgesetzt ist. Gleichzeitig wird sich zeigen, dass im Kontrast zur genannten Weltanschauung der Mensch erneut auf die Suche geht und sich dabei wieder an den wesentlichen Fragen orientiert.
1. Die ökonomische Weltanschauung
Eine Weltanschauung ist zunächst eine bestimmte Weise, wie wir uns auf die Welt beziehen. Jeder hat eine Weltanschauung und als solche ist diese neutral, weder gut noch schlecht. Wir brauchen eine bestimmte Weltanschauung, um uns in der Welt zu orientieren und sie als einen geordneten, sinnhaften Zusammenhang zu erleben. Eine Weltanschauung ist damit mehr als eine bloße Brille, durch welche die Welt angeguckt wird. Die Weltanschauung stiftet Orientierung und bestimmt, wie wir denken, erleben, wahrnehmen und uns verhalten.
„Ökonomisch“ bedeutet „wirtschaftlich“ und hat etymologisch mit „dem Haushalten“ zu tun. Eine ökonomische oder wirtschaftliche Denkweise arbeitet mit Begriffen wie „Aufwand“, „Ertrag“, „Preis“, „Gewinn“ und dergleichen, und funktioniert nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung. Das Prinzip der Nutzenmaximierung schreibt vereinfacht gesagt vor, dass mit möglichst wenig Aufwand ein möglichst hoher Ertrag erzielt werden soll. Die ökonomische Denkweise ist die instrumentelle Vernunft, d. i. die Überlegung, die zur Erreichung eines bestimmten Zwecks das passende Mittel erkennt und einsetzt. Als solche ist das wirtschaftliche Denken oder die instrumentelle Vernunft unproblematisch und sogar lebensnotwendig: Ohne die instrumentelle Vernunft könnten wir uns am Morgen weder einen Kaffee machen noch den Weg zu unserer Verabredung finden. Die instrumentelle Vernunft ist schlicht unsere Fähigkeit (lebens)praktische Entscheidungen zu fällen. Sie ist das Vermögen der zielgerichteten Planung und deren Umsetzung.
Wird die instrumentelle Vernunft oder wirtschaftliche Denkweise zur Weltanschauung erhoben, entsteht die ökonomische Weltanschauung. Für die ökonomische Weltanschauung ist die Welt ein fundamental wirtschaftlicher Zusammenhang. Die Welt wird unter den Parametern von „Aufwand“, „Ertrag“, „Gewinn“ und „Verlust“ begriffen und sodann als ein großes Geschäft wahrgenommen. Für die ökonomische Weltanschauung herrscht von der Amöbe, zu den Pflanzen, über die Tiere, bis zum Menschen ein Kampf um Ressourcen und Nutzenmaximierung. Die Beziehung, welche die Welt fundamental strukturiert, ist nach der ökonomischen Weltanschauung eine kompetitive, auf Nutzenmaximierung ausgerichtete. In einem gewissen Sinn mag diese Betrachtung durchaus ihre Berechtigung haben, indem sie nämlich einen Aspekt des (biologischen) Lebens sachgemäß beschreibt. Verallgemeinert man diesen einen Aspekt jedoch zur Weltanschauung, ergeben sich aus Gründen, die unten ausgeführt werden, zahlreiche Probleme.
Nutzen ist allgemein ein Vorteil jeglicher Art. Was man primär unter „Nutzen“ oder „Vorteil“ versteht, muss im Einzelfall bestimmt werden. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet besteht Nutzen in einem Geldbetrag. Jegliche Art von Nutzen lässt sich im wirtschaftlichen Denken also in einen bestimmten Geldbetrag übersetzen. Eine ökonomische Weltanschauung begreift die Welt somit als einen primär finanziellen Zusammenhang, als ein Geschäft.
2. Das ökonomische Menschenbild
Wie eingangs erwähnt bestimmt unsere Weltanschauung die Begriffe, mit welchen wir die Welt verstehen und beeinflusst damit, wie wir wahrnehmen und erleben. Sofern eine Weltanschauung einen Sinneszusammenhang in der gesamten Welt herstellt, kategorisiert sie jeden Aspekt des Lebens nach ihren Begriffen. Ein Aspekt des Lebens betrifft aber das Menschenbild. Damit ist jede Weltanschauung mit einem ihr entsprechenden Menschenbild verbunden. Beispielsweise betont eine historische Weltanschauung die geschichtliche Entwicklung der Menschheit, eine materialistische Weltanschauung sieht den Menschen als eine durch Teilchen im Raum zusammengesetzte, biologische Masse und für eine ökonomische Weltanschauung ist der Mensch ein bestimmter Geldbetrag mit einer gewissen Kaufkraft.
Der Mensch ist nach der ökonomischen Weltanschauung lediglich eine Variable in der Abwicklung eines Geschäfts. Eine Variable muss nun durch einen konkreten, d. i. messbaren oder zählbaren, Inhalt ausgeprägt werden. Die Ausprägung der Variable „Mensch“ ist für die ökonomische Weltanschauung ein bestimmter (zählbarer) Geldbetrag. Danach besteht der Wert eines Menschen in einem Geldwert oder Preis, der sich durch die Kaufkraft, das monatliche Einkommen, den finanziellen Nutzen für einen Arbeitgeber, den Beitrag zum BIP und die Produktivität etc. berechnen lässt.
3. Die Probleme des ökonomischen Menschenbildes
Besonders drei Probleme des ökonomischen Menschenbildes stechen ins Auge:
(1) Im ökonomischen Menschenbild hat der Mensch an sich keinen Wert und damit keine ihm schlechthin zukommende Würde. Der Mensch hat an sich keinen Wert für das ökonomische Menschenbild, weil es Wert wie beschrieben als einen Geldbetrag, einen Preis, auffasst. Preise werden aber erst durch die Produktion von Gütern festgelegt und hängen von weiteren Faktoren ab. Einen Preis an sich gibt es nicht. Nach dem ökonomischen Menschenbild hängt der Wert des Menschen also fundamental von seiner Produktivität ab. Produziert der Mensch nichts, hat er nach dieser Ansicht auch keinen Wert.
Dieses Problem der ökonomischen Weltanschauung befällt nun weitere, existenzielle Domänen des Menschseins. Denn sofern die ökonomische Weltanschauung alles unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten begreift, bestehen auch Liebe, Freundschaft, Moral, Achtung und Respekt lediglich in Transaktionen, die abhängig von der Produktivität des Menschen diesem gutgeschrieben oder verweigert werden dürfen. Für die Würde des Menschen sieht es sodann ungünstig aus. Denn versteht man mit Immanuel Kant unter „Würde“ das, was durch keinen Preis aufgewogen werden kann, also einen Wert an sich, hat der Mensch nach der ökonomischen Weltanschauung bestenfalls einen Preis, keinesfalls aber eine Würde. Denn die Würde als Wert an sich kann durch nichts vergrößert oder vermindert werden. Die Würde käme dem Menschen alleine deswegen zu, weil er Mensch ist. Diese Betrachtungsweise verträgt sich aber nicht mit einem Menschenbild, nach dem jeglicher Wert von Produktivität abhängt. Damit hat der Mensch laut dem ökonomischen Menschenbild keine Würde.
(2) Im ökonomischen Menschenbild ist jeder Mensch ersetzbar. Denn sofern der Mensch als ein bestimmter Geldbetrag verstanden wird, lässt er sich durch einen äquivalenten Geldbetrag jederzeit eintauschen. Menschen treten im ökonomischen Weltbild sodann als Zahlen oder Preise auf, die so miteinander verrechnet werden können, damit für ein Unternehmen der größtmögliche Gewinn abgeworfen wird. Beispielsweise sind human resources in einen spekulierten Preis übersetzte Menschen. Dieser Punkt führt uns zu einem dritten Problem des ökonomischen Weltbildes. Denn wenn der einzelne Mensch ersetzbar ist, kann er nicht einzigartig sein. Damit ist weder die Individualität noch die Autonomie des Menschen für ein ökonomisches Menschenbild fassbar.
(3) Im ökonomischen Menschenbild ist der Mensch sodann kein sich selbst bestimmendes Individuum, sondern bloß ein Teil einer homogenen Masse. Denn sofern alle Menschen als Geldbeträge verstanden werden, bilden sie ein Becken aus Geldbeträgen, die sich untereinander nur durch die Höhe ihrer Preise unterscheiden. Damit ist aber die Persönlichkeit, der Mensch in seiner Einzigartigkeit, aufgehoben. Denn sofern der Mensch alleine an seiner Leistung gemessen wird, geht seine ganze Person in der Produktivität auf. Was den einzelnen Menschen bewegt, weil er er, eben dieser Mensch, ist; die Fragen, die er an das Leben stellt, haben für das ökonomische Menschenbild keine Bedeutung. Im ökonomischen Menschenbild macht es keinen Unterschied, ob ich oder du, oder jemand anders eine bestimmte Funktion erfüllt, sofern wir alle denselben Profit erzielen. Was einen Menschen diesem Weltbild zufolge wesentlich ausmacht, ist nicht, dass er er ist, sondern sein wirtschaftlicher Nutzen. Mit der Aufhebung der Individualität entfällt sodann auch die Autonomie, die Selbstbestimmung des Menschen. Denn das, was den Menschen nach der ökonomischen Weltanschauung wesentlich bestimmt, ist nicht er selbst, sondern äußere wirtschaftliche Umstände.
4. Why so serious?
Die obigen Gedanken bilden eine Kritik an der ökonomischen Weltanschauung, die meiner Ansicht nach in unterschiedlichen Ausprägungen in den Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts verbreitet ist. Der Mensch kann zwar nicht ohne die instrumentelle Vernunft leben, aber er kann auch nicht nur mit der instrumentellen Vernunft leben. Sieht der Mensch sich selbst als bloß wirtschaftlichen Faktor, tauscht er dafür die wesentlichen Werte seiner Würde und Autonomie ein. Am Kontrast der ökonomischen Weltanschauung werden damit grundlegende menschliche Werte umso leichter erkennbar: Die Werte der Würde und Autonomie, und damit der Liebe und Achtung voreinander, machen sich als grundlegende Bedürfnisse umso deutlicher bemerkbar. Versuche, dieser Bedürfnislage beizukommen, zeigen sich in der momentanen, gesellschaftlichen Wandlung: eigenständigere Lebensentwürfe werden erprobt, Menschen werden entdeckungsfreudiger, klassische Rollen der Familie und Karrierewege werden neuvereinbart, alternative Lebensstile erheben sich allmählich zum Standard. – Die ökonomische Weltanschauung bildet eine existenzielle Sackgasse und so ist der Mensch des frühen 21. Jahrhunderts auf der Suche. In der Ablösung von der ökonomischen Weltanschauung orientiert sich der Mensch wieder an wesentlichen Fragen: Wer bin ich? Was ist das? Was soll ich tun?