Ein Häuschen im Grünen, selbstständige Arbeit, wenige Sorgen: Das "einfache Leben" ist und bleibt eine reizvolle Utopie. Aber auch heute sind zumindest Schritte in diese Richtung möglich - und ratsam.


Unter Begriffen wie Minimalismus oder Essentialismus werden Lebensansätze verbreitet, die die Fokussierung aufs Wesentliche in den Mittelpunkt stellen.

Bücher wie “Digitaler Minimalismus” helfen, die Ablenkungen im digitalen Raum zu reduzieren und mehr Kapazitäten für wirklich Wichtiges zu schaffen.

Als Gegenreaktion auf die hustle culture der letzten Jahrzehnte (“Du willst erfolgreich sein? Dann arbeite mehr, härter und ausdauernder als deine Konkurrenz!”) schreiben die heutigen Produktivitäts-Vordenker Bücher über “slow productivity”. [1]

Autoren und professionelle Nachdenker schwärmen im Windschatten von Büchern wie “Konzentriert arbeiten: Regeln für eine Welt voller Ablenkungen” davon, sich zum Schreiben in einsame Hütten zurück zu ziehen.

Ich selbst finde kaum eine Szenerie reizvoller, als mit einem Notizbuch oder Sketchbook irgendwo im Wald zu sitzen und den eigenen Gedanken nachzuhängen.

Kurzum: Das reduzierte, unaufgeregte Leben und Arbeiten scheint ein Comeback zu feiern - und so wirklich von der Bildfläche verschwunden ist es nie.

Womöglich lohnt sich der Versuch, auch im hektischen Alltag der Moderne ein paar Schritte zu unternehmen, die das eigene Leben näher an dieses Ideal holen.

Was das einfache Leben verspricht

In einer bereichernden Podcast-Episode beschäftigt sich Cal Newport, der Autor von “Fokussiert Arbeiten” und “Digitaler Minimalismus”, mit dem Reiz des einfachen Lebens.

Dazu betrachtet er das Beispiel von Familie Nearing.

Im Jahr 1932 bezogen der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Scott Nearing und seine Lebensgefährtin Helen eine heruntergekommene Farm, brachten sie auf Vordermann und lebten dort fortan als Selbstversorger.

Ihren Lebensunterhalt verdienten sie mit Büchern [2] und anderen Publikationen, Vorträgen und dem Verkauf von eigens hergestelltem Ahornsirup.

Newport denkt in seinem Podcast darüber nach, was für moderne Menschen einen solchen simplen Lebensstil so reizvoll macht - und was man in der heutigen Moderne davon übernehmen kann, ohne gleich so radikale Schritte zu gehen wie die Nearings.

Seine Schlussfolgerung: Das einfache Leben verspricht

  1. weniger Überforderung,
  2. weniger Mühen,
  3. mehr Autonomie und
  4. mehr Langsamkeit

Der gesamte Podcast kann im folgenden Video angeschaut werden.
Ich möchte hier zwei Aspekte näher betrachten: Überforderung und Bedächtigkeit.

Weniger Überforderung, mehr Langsamkeit

Es ist erschreckend leicht, zwischen Familienleben, Arbeit, Haushaltsführung, Finanzen, Verpflichtungen im Freundeskreis, eigenen Zielen und unklaren Prioritäten völlig von Aufgaben überwältigt zu werden.

Wir haben nicht einfach zu viel zu tun. Wir nehmen uns mehr vor, als wir jemals schaffen können. [3] Wir stellen uns vor eine unmöglich zu lösende Aufgabe - und wundern uns dann über unser Scheitern.

Newports Hypothese: Die vielen Vorhaben auf unseren To-Do-Listen nehmen permanent kognitive Kapazitäten in Anspruch (er nennt das “overhead tax”). Dadurch verringert sich unsere Fähigkeit, die Aufgaben tatsächlich abzuarbeiten.

Einfacher leben kann hier z.B. heißen:

  • Saisonalität: Bestimmte Wochen oder Monate werden schwerpunktmäßig für ein Tätigkeitsfeld genutzt, während alle anderen bewusst vernachlässigt werden. Im nächsten Zeitabschnitt ändert sich die Priorität.
  • Höchstzahl von gleichzeitigen Projekten: Eine offene Liste aller Vorhaben führen, aber nur max. 2-3 davon auf einen zweite, geschlossene Liste übertragen und von dort abarbeiten. Erst wenn eine Aufgabe abgeschlossen ist, darf eine neue von der offenen Liste übertragen und begonnen werden.
  • Akzeptieren lernen, dass man nicht alles schaffen wird: Es gibt für eine Lebzeit viel zu viele Bücher zu lesen, Fähigkeiten zu erwerben, Erfahrungen zu sammeln. Diese Begrenztheit zu akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt weg vom Gefühl der permanenten Überforderung.
  • Mehr Langsamkeit ermöglichen

Mit “slowness” meint Newport das Bewusstsein, dass keine einzelne Stunde, kein einzelner Tag entscheidend ist.

Je besser man sein Arbeitsumfeld so gestalten kann, dass keine Katastrophe droht, wenn - aus welchem Grund auch immer - die geplante Arbeit mal nicht erledigt wird, desto weniger Überforderung droht.

Das erfordert unter Umständen einige Nachsicht mit sich selbst. Aber es öffnet die Tür für viel mehr Leichtigkeit im Alltag: Trotz voller To-Do-Liste ist man

  • offen für spontane Aktivitäten mit Familie oder Freunden,
  • erreichbar und präsenter für die wichtigsten Menschen,
  • unbesorgter bei eigener Krankheit oder Motivationslosigkeit.

Ein einfacheres Leben zu führen, ist nicht leicht. Zwischen all der Hektik und den Verpflichtungen des modernen, vernetzten Lebens braucht es gezielte Anstrengungen, um langfristig eine Position der Sorglosigkeit zu erreichen.

Aber schon wenige Schritte in diese Richtung können einen gewaltigen Unterschied machen. Ob es die eigenen Finanzen sind, die unerträglichen Arbeitsbelastungen oder Herausforderungen im Familien- oder Beziehungsleben: Etwas mehr Leichtigkeit täte jedem von uns gut.

In zurückliegenden Ausgaben von weiterdenken habe ich bereits zahlreiche Ansätze und weiterführende Quellen gesammelt, die auf diesem Weg helfen können. Und es wird ein zentrales Motiv meiner Texte bleiben - weil es ein zentraler Aspekt meines eigenen Entwicklungsprozesses ist.

Und ich glaube, so geht es den allermeisten Menschen - ob sie es wissen oder nicht.


[1] Beispiele: YouTuber Ali Abdaal und Produktivitäts-Autor Cal Newport arbeiten aktuell an Büchern, die nach eigener Auskunft in diese Richtung gehen. Matt D’Avella hat eine Online-Akademie namens “Slow Growth Academy” gegründet.

[2] “The Good Life: Helen and Scott Nearing's Sixty Years of Self-Sufficient Living”

[3] Oliver Burkeman schreibt dazu in seinem Buch “4000 Wochen” sehr Lesenswertes.


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