Ein Verbrechen, mehrere Zeugen, viele Täterbeschreibungen – aber kein eindeutiger Täter. Warum irren sich Zeugen so häufig? Woher stammen die falschen Informationen in ihren Erinnerungen? Und was kann man dagegen tun? Psychologische Forschung zeigt, dass Menschen erschreckend leicht durch Fehlinformationen zu beeinflussen sind. Doch was, wenn wir Menschen nicht mehr zwischen unserer eigenen Erinnerung und der Fehlinformation unterscheiden können? Zeit für ein Gedankenexperiment…
Ein Gedankenexperiment
Können Sie sich noch an die TV-Serie „X-Factor: Das Unfassbare“ erinnern? In der Sendung wurden Geschichten präsentiert, die auf wahren Begebenheiten beruhten oder auch frei erfunden sein konnten. Berühmt wurde die Anmoderation der Sendung, die stets wie folgt lautete: „Wir leben in einer Welt, in der Traum und Wirklichkeit nah beieinander liegen, in der Tatsachen oft wie Fantasiegebilde erscheinen, die wir uns nicht erklären können. Können Sie Wahrheit und Lüge unterscheiden?“
Wahrheit und Erinnerung
Wahrscheinlich haben Sie die Frage ohne größere Zweifel bejaht. Das kann gut sein. In den meisten Fällen sind Traum und Wirklichkeit rational unterscheidbar. Doch was, wenn Sie zwischen Erinnerung und Wahrheit unterscheiden müssten? Erinnern Sie sich an den Bäcker von Montagmorgen? Wie sah er aus? War es eine ‚Sie‘? Groß? Blond? Dunklere Haut? Augenfarbe? Besondere Merkmale? Sie werden sich wahrscheinlich schwertun, diese belanglos erscheinenden Fragen zu Ihrem morgendlichen Kaffee- und Schokocroissant-Lieferanten zu beantworten. Stellen Sie sich aber nun vor, Sie wären plötzlich Zeuge eines tödlichen Unfalls geworden: Eine Frau ist aus dem Fenster im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses gestürzt. Kurze Zeit später verlässt ein dunkel gekleideter Mann das Haus. Sie und einige wenige Passanten hatten die Situation von Anfang an mitverfolgt. Der Unfall kursiert schon bald in den Zeitungen und Nachrichtensendungen: Die Ermittler würden nach ersten Indizien von Mord ausgehen - der Täter, vermutlich männlich und um die 40 Jahre alt, sei noch auf der Flucht. Einige Tage später werden Sie wie andere Zeugen von den Ermittlern zum Unfall befragt. Jedes Detail zählt. Was wissen Sie jetzt noch?
Das Gedächtnis ist kein Videofilm
Viele Menschen glauben, das Gedächtnis sei eine Art Videofilm. Unbestechlich und unveränderlich. Doch es gibt kaum etwas Trügerischeres und Beeinflussbareres als unsere Erinnerung. Viele Zeugen, das bedeutet meistens auch unterschiedliche Erinnerungen und verschiedene Versionen der Ereignisse. Für die Ermittler stellen Zeugen, die vermeintlich über Informationen zu Straftaten verfügen, ein Dilemma dar. Einerseits sind die Ermittler auf die Angaben der Zeugen angewiesen - Zeugenaussagen vom Tatort liefern oft wichtige Hinweise zu den Tätern, Tatwaffen und zu potenziellen Verstecken. Andererseits irren sich Zeugen häufig und sind so für die Ermittlungen kontraproduktiv. Genauso wie Sie sich wahrscheinlich irren, passiert es häufig anderen Zeugen in unserem Gedankenexperiment.
Erinnerungskraft und Beeinflussbarkeit
Natürlich ist das in den meisten Fällen keine böse Absicht. Stresshormone lösen unter Anspannung eine Art Tunnelblick aus. Das Gehirn schaltet dann auf Fluchtmodus.Es findet eine extreme Verengung der Aufmerksamkeit statt, der Überlebensinstinkt wird jetzt geweckt. Wenige situationsrelevante Reize erhalten erhöhte Aufmerksamkeit (bspw. die Waffe des Täters, von der die Gefahr ausgeht), während andere Aspekte weniger bis gar keine Aufmerksamkeit erhalten (z.B. was der Täter während der Tat ruft). So können später Erinnerungslücken entstehen. Diese sind wiederum für eine genaue Rekonstruktion der Tat hinderlich. Zeugen lassen sich im Nachhinein nämlich häufig dazu verleiten, zu glauben, sie hätten einen Täter oder eine Waffe gesehen, wenn diese Nachricht in den Medien kursiert. So auch in Ihrem Fall. In den Nachrichten rund um den Unfall wurde zuletzt über Mord spekuliert. Fieberhaft haben Sie über auffällige Personen am Unfallort nachgedacht und dem Ermittlerteam schlussendlich einen schwarz gekleideten Mann mit Kapuzenpulli, der kurz nach dem Fenstersturz das Gebäude verlassen hatte, als Täter beschrieben. Doch der Mann ist unschuldig. Es hat nie einen Täter gegeben. Und eigentlich wussten Sie das zu einem vorherigen Zeitpunkt.
Der „Fehlinformationseffekt“
Das hier vorliegende Phänomen ist in wissenschaftlichen Kreisen als „Fehlinformationseffekt“ (engl. misinformation effect; Loftus, Miller & Burns, 1978) bekannt. Der „Fehlinformationseffekt“ bezeichnet jenen Effekt, der Erinnerungen an ein Ereignis durch falsche Informationen, denen eine Person nach dem Ereignis ausgesetzt wird, verzerrt. Schon Mitte der 1970er Jahre wurden erste Studien zum „Fehlinformationseffekt“ durchgeführt. Bekannt wurde der ‚Stoppschildversuch‘ der renommierten Wissenschaftlerin Elizabeth Loftus: Versuchspersonen sollten einen simulierten Autounfall an einer Kreuzung mit Stoppschild beobachten. Nach der Szene suggerierte das Forscherteam der Hälfte der Versuchspersonen, es sei ein Vorfahrtschild gewesen. Anschließend wurden die Versuchspersonen dazu befragt. Die Versuchspersonen in der Gruppe ‚Vorfahrtschild‘ waren sich relativ sicher, ein solches gesehen zu haben, obwohl das nicht der Fall war.
Die Gefahr lauert überall
Der „Fehlinformationseffekt“ konnte in einer Vielzahl von späteren Untersuchungen erneut gefunden werden. Es zeigt sich, dass der Effekt eine große Alltagsrelevanz besitzt. Er spiegelt zwei grundlegende Probleme unseres Gedächtnisses wider: Zum einen die Beeinflussbarkeit durch Andere und zum anderen die Fehlattribution.
Revolverschuss oder Autotür?
Stresssituationen können dazu führen, dass Menschen ihre Wahrnehmungen falsch interpretieren – auch im Nachhinein. Ihr Körper befindet sich in angstauslösenden Situationen auf Fluchtmodus, seltener auf Angriffsmodus. Alles passiert sehr schnell, unwichtige Details werden unbewusst ausgeblendet. So passiert es nicht selten, dass aus einer zugeschlagenen Autotür ein Schussgeräusch wird, oder aus einem Presslufthammer einer nahegelegenen Baustelle ein Maschinengewehr. Solche verfälschten Zeugenaussagen hören Ermittler häufig. Doch sind es nicht nur die Zeugen selbst, die sich falsch erinnern und irren können, manchmal helfen auch externe Quellen nach die Erinnerungen zu trüben.
Die Quellen des Bösen
Menschen neigen dazu, sich von anderen, vermeintlich besser informierten Quellen beeinflussen zu lassen. Gerade in Bereichen, in denen man nur über geringe bis gar keine Kenntnisse verfügt, wird gerne solchen Wissenslieferanten Glauben geschenkt. Printmedien, Fernsehen, Internet, aber auch Menschen stellen solche Wissenslieferanten dar. Je nach Glaubwürdigkeit und Ansehen, aber auch Expertise des Mediums, wird ihnen mal mehr und mal weniger vertraut. Allzu oft passiert es, dass Wissensquellen (un-)beabsichtigt falsche oder inkorrekte Informationen an die Empfänger weitergeben. So können unwahre Berichterstattungen oder missgesinnte Personen die Erinnerungen von Zeugen trügen. Eine Fehlinformation als solche zu erkennen ist nicht immer einfach.
Unser Gedächtnis ist nicht unfehlbar
Fehlinformationen finden nämlich meist schleichend und unbemerkt ihren Weg in unser Gedächtnis. Studien zum „Fehlinformationseffekt“ konnten zeigen, dass nachträgliche Fehlinformation die Erinnerung an ein vorausgegangenes Ereignis besonders beeinflusst, wenn sie beiläufig und nicht explizit präsentiert wird. Eine Zeit lang war man der Überzeugung, der „Fehlinformationseffekt“ würde zu einem Auslöschen oder Überschreiben des ursprünglichen Wissens führen. Andere Forscher waren der Ansicht, die neue falsche Information und das ursprüngliche Wissen würden gleichzeitig im Gedächtnis existieren. Eine weitere Erklärung legt nahe, dass die Fehlinformation als eine Art Lückenfüller für nicht vorhandene Erinnerungen an das Originalwissen dienen würde. Mittlerweile beruht der Forscherkonsens auf der Vorstellung, dass verschiedene Verläufe möglich sind. So können falsche Informationen beispielsweise in die Erinnerung integriert werden, wenn die Erinnerung an die ursprüngliche Information bereits verblasst ist. Egal welchen Ansatz man verfolgt, fest steht: Hat sich die Fehlinformation einmal im Gedächtnis festgesetzt, wird man sie nur schwer wieder los.
Jeder ist betroffen
Einige Personengruppen haben sich als besonders anfällig für den „Fehlinformationseffekt“ erwiesen - beispielsweise ältere Personen. Auch eine positive Stimmung kann dazu verleiten, falsche Informationen in Erinnerungen zu integrieren. Eine negative Stimmung hingegen verringert den Einfluss von Fehlinformationen auf das Erinnerungsvermögen. Introvertierte Personen scheinen ebenfalls inkorrekte Informationen häufiger zu akzeptieren, als es extrovertierte Personen tun würden. Letztendlich ist niemand immun gegenüber dem „Fehlinformationseffekt“.
Falsche Aussagen und verheerende Urteile
Wie Sie schon in unserem kleinen Gedankenexperiment beobachten konnten, lassen sich Zeugen relativ einfach täuschen: Eine verschwommene Erinnerung, ein weiterer Zeuge, eine Mordtheorie im Fernsehen, eine Täterbeschreibung der Polizei – man braucht nur wenig, um Großes zu bewirken. Eine kleine Fehlinformation in einer Zeugenaussage kann für einen unschuldigen Menschen schon den Gang ins Gefängnis bedeuten.
Den Fehlinformationseffekt austricksen
Um solche verfälschten Aussagen zu verhindern, versuchen Ermittler bei Zeugenbefragungen, zunächst so wenig Fragen wie möglich zu stellen. Hauptziel ist es, Erinnerungen möglichst nicht zu beeinflussen – und somit dem Fehlinformationseffekt entgegenzuwirken. Häufig wird deshalb ein kognitives Interview durchgeführt. Die Zeugen können ihre Erinnerungen frei wiedergeben, müssen die Geschehnisse zeitlich einordnen und sollen das Erlebte auch aus anderen Perspektiven betrachten. Der Interviewer darf unter keinen Umständen Suggestivfragen einsetzen. Fragen wie "Der Mann hatte eine Maschinenpistole in der Hand, oder?" können Zeugen dazu verleiten, genau dieses Bild in ihre Erinnerung einzubauen. Besonders bei Kindern werden solche Effekte beobachtet. Gleiches gilt für negativ formulierte Fragen wie "Haben Sie nicht gehört, wie der Täter geschossen hat?". Zudem sollen Zeugen nicht zum Raten animiert werden.
Weniger glauben, mehr hinterfragen
An diesen Regeln des kognitiven Interviews können sich auch einflussreiche Personen oder Vermittler zwischen Politikern und Bürgern orientieren, bevor sie sich an ihr Publikum richten, so wie es beispielsweise auch Journalisten tun. Genauso können Sie sich ab und zu an die Nase fassen und neue Informationen hinterfragen, bevor Sie ihnen Glauben schenken. Geben Sie Ihr Wissen mit Bedacht weiter und versuchen Sie, auch andere Menschen auf falsche Informationen und ihre möglichen Folgen aufmerksam zu machen. Denn wir leben in einer Welt, in der Fehlinformation und Erinnerung nah beieinander liegen können, in der Tatsachen oft wie Fantasiegebilde erscheinen, die wir uns nicht erklären können. Können Sie Erinnerung und Fehlinformation klar unterscheiden?
Quellen:
Bild:
https://www.wochenblatt.de/media/2019/03/24/unbekannter-taeter-raeuber-123rfcom_201903240813_full.jpg
Text:
Loftus, E. F., Miller, D. G. & Burns, H. J. (1978). Semantic integration of verbal information into a visual memory. Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior, 13, 585–589.
Loftus, E. F. (2005). Planting misinformation in the human mind: A 30-year investigation of the malleability of memory. Learning & Memory, 12, 361–366.