Wer die aktuelle Kriegsberichterstattung verfolgt, der kann schnell den Eindruck gewinnen, es sei längst alles entschieden in der Ukraine. Ein strategischer Fehler Russlands reiht sich an den nächsten, die russischen Verluste durch den erbitterten Widerstand der ukrainische Armee sind ganz offensichtlich erheblich. Nachdem die schnelle Eroberung Kiews in den ersten Kriegswochen scheiterte, verläuft auch die russische Offensive im Donbass schleppend, gemessen an dem ausgerufenen Ziel, die gesamte Ost-Ukraine in möglichst kurzer Zeit zu besetzen.
Doch nur weil die Ukraine nicht verliert, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass sie im Begriff ist, den Krieg zu gewinnen. Im Gegenteil. Mittlerweile gehen Experten von einem langen und aufreibenden Konflikt aus, womöglich über mehrere Jahre. Und noch immer ist die russische Armee der ukrainischen zahlenmäßig klar überlegen. Unter dieser Prämisse befindet sich die Ukraine in einer weitaus schwierigeren Lage, als man angesichts aktueller militärischer Erfolge denken würde.
Wie der Krieg mittelfristig für die Ukraine verläuft, hängt vor allem von einem Faktor ab: massiven Waffenlieferungen aus dem Westen. Schon jetzt ist der Einfluss westlicher Waffen auf den Konflikt unübersehbar. Aus Großbritannien kamen Panzer-, Luft- und Schiffsabwehrraketen, Luftverteidigungssysteme und andere Waffen nach Kiew. Die Slowakei schickte das strategisch wichtige Luftverteidigungssystem S-300, die USA Drohnen, Haubitzen, Raketen und Panzerabwehrsysteme. Wo die russischen Truppen ohne jene Lieferungen heute stehen würden? Womöglich deutlich weiter nordwestlich, vielleicht sogar in Kiew.
Doch insbesondere für schwere Waffensysteme, allen voran die von der Ukraine nun so dringend geforderten Panzer, braucht es laut Militärexperten eine längere Ausbildung am Gerät. Ob der Ukraine die Zeit dafür bleibt, ist angesichts des bereits laufenden Abnutzungskriegs ungewiss. Gleichzeitig berichtet das „Time-Magazin“ unter Berufung auf Quellen aus dem ukrainischen Verteidigungsministerium, es würden bereits jetzt die Kapazitäten fehlen, um die bisherigen Militärhilfen alle einzusetzen. Immer schwieriger könnte es für die Ukraine werden, die Waffen aus dem Westen überhaupt dorthin zu bekommen, wo sie gebraucht werden. Das Schienennetz ist hier der entscheidende Faktor, auch Russland weiß das.
„Die russischen Streitkräfte zerstören systematisch die Infrastruktur der Eisenbahn“, schrieb der Chef der Staatsbahn Ukrsalisnizja, Olexander Kamischin Mitte April. Die Armeeführung in Kiew erklärte, die Russen wollten „die Nachschubrouten für militärisch-technische Unterstützung aus Partnerländern zerstören. Dafür fokussieren sie die Angriffe auf Bahnknotenpunkte“. Dass Russland gezielt neuralgische Punkte in der Kriegslogistik angreift, zeigt sich derzeit am Beispiel Odessa. Dort kappte die russische Armee die zentrale Zugverbindung in die Hafenstadt, mit der Folge, dass aus dem Westen kaum noch Treibstoff nachgeliefert werden kann.
Die Wirtschaft der Ukraine bricht ein
Ob die Ukraine am Ende genügend schwere Waffen an die Front bekommt, entscheidet auch darüber, ob das Land als solches eigenständig wirtschaftlich überleben kann. Denn die Gebietsverluste, die die Ukraine im Süd-Osten erlitten hat, sind trotz aller Erfolgsmeldungen massiv und treffen die Wirtschaft des Landes in ihrem Kern.
Putins Truppen halten die Metropolen Cherson und die Überreste Mariupols sowie die dazwischen liegenden Regionen. In den Oblasten Donezk und Luhansk haben sich die Grenzen im Vergleich zu Vorkriegszeiten weit ins Landesinnere verschoben. Waren vor dem Krieg beispielsweise noch schätzungsweise 60 Prozent von Luhansk in ukrainischer Hand, hält Russland nun gut 80 Prozent.
Entscheidend ist das alles, weil für die Wirtschaft der Ukraine der Süd-Osten enorm wichtig ist – von der Weizen- über die Öl-Produktion bis zu den Häfen. Diese Gebiete befinden sich entweder bereits in russischer Hand oder sind zumindest umkämpft. All das sei für das wirtschaftliche Überleben der Ukraine essenziell, meint auch Militärexperte Reisner. Es sei also nur logisch, dass die Ukraine die Rückeroberung der besetzten Gebiete als Kriegsziel ausgegeben habe