Demokratie entstand nicht aus einer Idee, sondern im Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit. Eliten spielten dabei eine maßgebliche Rolle.
«Die Ideen von Freiheit und Gleichheit stehen wie zwei Sterne über den Völkern seit einem halben Jahrhundert», schrieb Jeremias Gotthelf 1841 über die Ausbreitung der aufklärerischen Gedankenwelt. Für den Schriftsteller war das ein Anlass zur Sorge. Er fürchtete, die unteren Schichten würden die Versprechen beim Wort nehmen, aber wer wolle «es dem Armen verargen, wenn er ihre Bedeutung, ihre Verheißungen missverstund und immer mehr missversteht?».
Die Ideen von Freiheit und Gleichheit waren nicht neu, aber sie mit Vorstellungen von Universalität in Verbindung zu bringen, das war ungeheuerlich. Freiheit und Gleichheit für die wenigen hatte es schon in der Antike gegeben, nun sollten sie für alle Menschen gelten.
Das Ideal der universellen Gleichheit aber bildet das Herzstück von Demokratie: Alle sind gemeint, allen kommt die Menschenwürde zu. «All men are created equal», proklamierten 1776 die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Einige Jahre später, 1789, verkündigte die französische Nationalversammlung die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte», deren Kern neben der Freiheit erneut die Gleichheit bildete: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren.» Damit war die aufklärerische Idee der universellen Gleichheit in die Politik getrieben. Allerdings: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, galt Universalität wie selbstverständlich nur für die weissen Männer. Die andern wurden umso schroffer ausgeschlossen, als ja scheinbar schon alle dabei waren.
Auf dem Boden der Ungleichheit
Doch die Idee der Gleichheit wirkte subversiv. Sie veränderte die Welt in einem Ausmaß, das weit über das hinausging, was die Aufklärer und Revolutionäre gewollt hatten: die Gleichheit der Menschen unabhängig von Geschlecht und ethnischer Herkunft. Gleichheit ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Nach und nach wurde sie überall zur Staatsaffäre und beförderte überall die Freiheit und die Gerechtigkeit. Denn Knechtschaft und Unterdrückung ließen sich nicht mit Gleichheit vereinen.
Bis heute wird immer wieder neu um die Ausmaße von «Universalität» gerungen. Als prinzipieller Anspruch bleibt sie unabdingbar für die Entwicklung moderner Demokratie.
Wie revolutionär der Anspruch der universellen Gleichheit war, wird angesichts der omnipräsenten Ungleichheit im 18. Jahrhundert deutlich: der Not der großen Mehrheit von Männern, Frauen und Kindern und der Selbstverständlichkeit ihres Elends gegenüber einer relativen Sicherheit im Leben weniger Privilegierter. Kaum eine Idee widersprach mehr dem Alltag der Frauen, Männer und Kinder als die Idee der Gleichheit. Ungleichheit war unvermeidlich, ihr konnte nicht entronnen werden. Sie bildete den Boden des dörflichen und des ständischen Lebens, der Erziehung und des Geschlechterverhältnisses.
Im Leben der unteren Schichten dominierte Armut, und zwar nicht als ein relatives Phänomen, sondern als eine Frage des nackten Überlebens. Und für einen Bauern, der hungerte, und eine Magd, die geschlagen wurde, bleibt Gleichheit eine leere Phrase. In ihrem Alltag um 1800 hatten die Menschen der ärmeren Schichten ohnehin kaum Ressourcen, um über Gleichheit und Mitbestimmung nachzudenken. Das änderte sich erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts – mit wachsendem Wohlstand auch der unteren Klassen.
Die liberale Demokratie ist ein Flickwerk
Gleichheit für alle zu denken, war ein abwegiger Gedanke, und es waren zunächst gelehrte Männer – und einige wenige privilegierte Frauen –, die sie voranbrachten. Tatsächlich spielen Eliten bei der Entwicklung der Demokratie eine maßgebliche Rolle, und es wäre verkürzt, sich Demokratie als eine Sache zu denken, die schlicht von «unten» gegen «oben» ertrotzt wurde.
Demokratie entwickelte sich nicht aus einer Idee, sondern aus einem ungeordneten Konglomerat an Ideen und Praktiken, die sich oft genug widersprachen; allein die Spannungen zwischen Gleichheit und Freiheit entfalten eine stotternde Dynamik. Die liberale Demokratie, die aus dieser Geschichte hervorgegangen ist, erweist sich daher nicht als ein Gebilde aus einem Guss, vielmehr ist sie ein Flickwerk, ein um Ausbalancierung ringendes Gefüge, in dem es darum geht, Kräfte und Gegenkräfte im Zaum zu halten.
Um 1800 begriffen die Progressiven und zumeist auch Gelehrten unter den regierenden Eliten, dass sie einen modernen Staat mit immer neuen und größeren Aufgaben nicht ohne die Massen machen konnten. Sie brauchten Menschen, die Steuern zahlten, Verantwortung übernahmen, die mitdachten, die gar freiwillig für das Land in den Krieg zogen: Menschen, die sich mit dem Staat identifizierten. Sie brauchten die Gleichheit der verantwortungsbewussten Bürger.
Die neue Last des Wählens
Die Reformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts sprachen von «Gemeinsinn» und «Selbstregierung». Sie waren es zumeist auch, die ein weites Wahlrecht installierten, nicht zuletzt, um die Bürger an den Staat zu binden. Die Freude der Bürger hielt sich in Grenzen, oft war der Widerwille gegen das neue Partizipationsrecht stärker, und die Wahlbeteiligung blieb zunächst in vielen Ländern gering; überall waren Klagen über die Last des Wählens zu hören.
Eliten blieben für Demokratien immer wichtig. Wenn sie ihnen den Rücken kehrten – wie in der Weimarer Republik –, stand es schlecht um sie; wenn sie die Republik unterstützten, wie in der Schweiz und der jungen Bundesrepublik, trug das zum Gedeihen der Demokratie bei. Und doch blieb die Gleichheit der Kern des demokratischen Projekts. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Menschen in das politische Leben inkludiert. Immer mehr Bewegungen und Gruppen drängten auf Mitsprache und Würde, seien es die Frauen, die afroamerikanische Bevölkerung in den USA oder die Arbeiterinnen und Arbeiter. In der Zeit der Massenpolitisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erzielten diese Bewegungen beeindruckende Erfolge.
Industrialisierung und die Idee der Gleichheit
Wie aber waren dieser Egalisierungsprozess und die Ermächtigung der Massen um 1900 möglich? Entscheidend war die Industrialisierung. Die kapitalistische Wirtschaft beutete die Menschen aus – aber paradoxerweise stellte sie auch die demokratisierenden Ressourcen zur Verfügung. Wichtig ist dabei, dass zwar die materielle Ungleichheit nie gekannte Höhen erreichte, jedoch ein Wohlstandssockel für alle sich als entscheidender erwies. Denn die Industrialisierung ermöglichte den Mehrheiten zunehmend ein Leben in Würde, so dass die Idee der Gleichheit immer konkreter wurde.
«Dass ein Arbeitgeber Hungerlöhne zahlt und selbst im Überflusse schwelgt», erklärte 1895 ein konservativer Reformer, «ist in unserem socialen Zeitalter nicht mehr zulässig.» Und tatsächlich stiegen die Reallöhne selbst für die proletarische Klasse merkbar an. Hungersnöte, die Europa bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig heimgesucht hatten, waren undenkbar geworden. Kleidung, Nahrung, Wohnung – für die meisten Menschen sah das Leben besser aus als je zuvor.
Ein Weiteres kam hinzu. Die reichen Ressourcen des Kapitalismus ermöglichten überhaupt erst eine Vielzahl an partizipativen Praktiken. Eisenbahnen, Strassen und die wachsende Presselandschaft schufen einen politischen Kommunikationsraum; in den Schulen lernten alle lesen und schreiben. Der Staat beschränkte die Arbeitszeiten. Arbeiter hatten nun Zeit und Geld, sich Zeitungen zu kaufen und zu lesen, um abends in die Kneipe zu gehen und über die neuesten Parlamentsdebatten zu diskutieren.
Demokratie ist teuer
In der Zwischenkriegszeit und dann verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten die Industriestaaten einen beeindruckenden Sozialstaat aus. Er ermöglicht allen, an den Früchten des Wohlstands teilzuhaben und – trotz allen Mängeln und aller Verbesserungsbedürftigkeit – ein Leben in Würde zu führen.
Demokratie ist teuer. Nicht alle reichen Länder sind Demokratien, wie das Beispiel der Ölstaaten zeigt. Aber doch gehören alle stabilen und liberalen Demokratien zu den reichen Industriestaaten mit einer starken – und sozialen – Marktwirtschaft. So erweist sich auch das komplizierte Verhältnis von Kapitalismus und Partizipation als Teil der verwirrend vielfältigen Geschichte der Demokratie.
«Die Ideen von Freiheit und Gleichheit», von denen Jeremias Gotthelf sprach, blieben keine missverstandene Verheißung für die Armen. Sie sind in einem Ausmaß für viele zur Realität geworden, wie es sich um 1900 selbst die Arbeiterbewegung nicht hätte erträumen lassen. Sie blieben nicht ferne Sterne, sondern sind in den liberalen Demokratien in den Alltag eingekehrt.
Dort müssen sie freilich immer wieder neu verhandelt und eingefordert werden. Denn Demokratie mit ihrem hohen Anspruch der Universalität bleibt ein Projekt, das der andauernden Arbeit und Kritik und womöglich auch der Krise bedarf.
Hedwig Richter, Historikerin, ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Jüngst von ihr erschienen ist das Buch: «Demokratie. Eine deutsche Affäre – Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart», Verlag C. H. Beck, München, 400 S.
Der Artikel erschien zuerst in der NZZ.