Weitere häufige gehörte Fragen in den „Echt? Wie bei CSI?"-Gesprächen erkundigen sich, wie ich die Bilder und Schicksale, mit denen man in rechtsmedizinischen Instituten notwendig konfrontiert wird und die mir nicht selten Blicke in die tiefsten menschlichen Abgründe und auf unbeschreibliche Grausamkeit und - was ich persönlich noch schlimmer finde - Gleichgültigkeit aufzwingen, verkrafte, ob ich überhaupt je „abschalten" kann, ob ich noch schlafen könne und ob ich davon träume.
Das ist, in der Tat, die dunkle Seite der Forensik, die, wenn man sie nackt und kalt und ohne „redaktionelle Bearbeitung" erlebt, unendlich anders auf einen wirkt, als wenn man in einem Lese- oder Kinosessel sitzt. Ich habe mal geschrieben:
„Mich persönlich reizt an diesem Fach und der täglichen Arbeit [...] die Möglichkeit, an den nicht ausbleibenden Konfrontationen mit der ungeschönten und bisweilen schwer zu verkraftenden Realität wachsen zu können."
In der Tat, es gibt wahrhaftig Ereignisse, die, wenn man unmittelbar mit ihnen konfrontiert wird (und das war ich), kaum zu ertragen sind:
"ein 24-jähriger tötet seinen dreijährigen Sohn und dann sich selbst durch Enthauptung mit einer Kettensäge. Vermutlich wegen eines Sorgerechtsstreits."
Ich habe nicht die geringste Vorstellung, auf welch' unaussprechliche Weise die Psyche eines Menschen, eines Vaters, Schiffbruch erlitten haben muß, um ihn so etwas fertigbringen zu lassen. Und um es klar zu sagen: eine so krasse Tat ist auch für uns eine Ausnahme, dennoch haben wir und ganz besonders die Ärzte in unserem Institut, die die Leichen, die ich hier sicher nicht beschreiben werde, obduziert haben, die Pflicht, auch in solchen Fällen menschliche Reaktionen, Entsetzen und Fassungslosigkeit, erst einmal hintanzustellen und sich neutral und professionell mit dem Fall zu befassen. Solche Ereignisse, aber auch der tägliche Umgang mit Opfern aller Art, mit den Mißbrauchten, Geschändeten, Geschlagenen, mit den an ihrer Sucht oder Armut oder Elend Gestorbenen, den Erfrorenen, Vernachlässigten, Vergessenen und mit denen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als ihrem Leben eigenhändig ein Ende zu setzen, zwingen einen Menschen, wenn er nicht daran zerbrechen oder (was fast dasselbe ist) zum heillosen Zyniker verkommen will, eine, ich nenne es „Distanzierungsstrategie" zur Bewältigung der Eindrücke zu entwickeln. Alle hier haben das und sie dürfte bei jedem Menschen ganz unterschiedlich sein.
Ich bin Atheist, ich suche also keine Zuflucht und keinen Trost in der für mich persönlich obszönen Vorstellung eines kosmischen Herrschers beliebiger Herkunft und Beschaffenheit, für den von entsprechend Geneigten angesichts selbst extremen menschlichen Elends und Leids gemeinhin in Anspruch genommen wird, daß 1.) das, was passiert ist, „sein Wille" gewesen (also nicht „umsonst" geschehen) sei und 2.) seine „Wege unergründlich" seien (um ihn/sie/es in vorauseiliendem Gehorsam vor sich selbst und/oder anderen gegen die unvermeidlichen Fragen der Theodizee in Schutz zu nehmen). Dennoch habe natürlich auch ich meine Weise, der Psychologe würde wohl von „Copingstrategie" sprechen, mit dem Erlebten und Gesehenen um- und davon auf Abstand zu gehen. Mir hilft es, mir immer wieder klarzumachen, daß alles, was passiert ist, immer auch ohne mich passiert wäre. Der einzige echte Bezug, den ich zum Geschehen, zu den Opfern und Betroffenen habe, ist ein professioneller und innerhalb dieses Bezuges habe ich eine positive Funktion und Rolle: ich helfe dabei, egal wie gering mein Beitrag sein mag, aufzuklären, zu lindern, zu verstehen und vielleicht manchmal wiedergutzumachen. Ob ich einer Leiche eine Identität und den Angehörigen damit die Möglichkeit, zu trauern und später einmal Frieden zu finden gebe, oder bei der Überführung eines Verbrechers helfe oder durch meine Forschung einen kleinen Beitrag zum Verständnis (und vielleicht dereinst der Verhinderung) des Plötzlichen Kindstods leiste, immer kann ich wenigstens auf der „guten" Seite stehen und meine Fähigkeiten in ihren Dienst stellen.
Daß ich mir eine vor allem professionelle Sichtweise auferlege, bedeutet jedoch nicht, daß ich mir empathischen Rapport versage oder mir gar verbiete, Mitgefühl oder Mitleid zu empfinden. Ich glaube sogar, daß das bei einem gesunden Menschen gar nicht möglich ist und ich will - auch auf die Dauer - weder abstumpfen noch gleichgültig werden, denn hinter jedem „Fall" stehen echte, reale Menschen, die solche Situationen eben nicht „gewohnt" und jetzt, in diesem Moment, zutiefst davon betroffen sind. In meinen Augen haben sie ein Recht auf unsere Anteilnahme und darauf, daß sie nicht nur eine Nummer für uns sind. Auf der anderen Seite habe ich auch ein Recht auf Selbstschutz und ich versuche deshalb, meist mehr, manchmal weniger erfolgreich, diese dunkle Seite des forensischen Alltags hinter mir und die Geister der offenen Fälle, die noch nach mir zu greifen scheinen, im Institut zu lassen, wenn ich abends die Türe schließe und nach Hause fahre. Denn ich weiß, ich werde sie und sie werden mich am nächsten Tag wiederhaben.