Ein Journalist fragte nach, ob es hier mit rechten Dingen zugehe:
"Ich hatte gestern ein Telefonat mit einer Kollegin von Ihnen zu einer CMD-Diagnose für eine medizinische Kolumne in der Zeitschrift xxx.
Ich habe in Erinnerung, dass es die CMD als Diagnose eigentlich nicht so richtig gibt oder vielmehr, dass sie von den evidenzbasierten Kollegen eher nicht anerkannt ist - ist das so?
Es geht darum, dass zu dieser Zahnärztin ein Patient mit empfindlichen Zahnhälsen gekommen ist. (Hier könnte man auch an die Diffenrentialdiagnose Altern, Putzen, Knirschen denken…)
Sein Zahnarzt hatte lediglich symptomatisch behandelt und versiegelt.
Diese Zahnärztin habe nun erkannt, dass es eine CMD sein muss, neben den freien Zahnhälsen wiesen die Zähne Spuren des Knirschens auf, außerdem hatte er Knieschmerzen - typisch bei CMD?
Wenn man das googelt, findet man das auch alles im Zusammenhang - aber wie schätzen Sie das ein?
Ist das seriös?"
Mit freundlichen Grüßen:
XXX“
Meine Antwort hierzu:
"Verehrter Herr XXX,
"Schwester, der Patient hatte letzte Woche Rückenschmerzen und hat ungeschnittene Fingernägel - es ist vermutlich ein Glioblastom lateral des 3. Ventrikels. Bereiten Sie schleunigst die Hirnoperation vor!"
Im Ernst: Eine Diagnose aufgrund von als vermeintlichen Komorbiditäten ausgegebenen Bagatellsymptomen zu stellen, riecht nicht nur streng nach Disease mongering, sondern auch nach Übertherapie und Selbsttäuschung, wenn nicht gar nach Betrug.
Für eine CMD-Diagnose existieren glasklare, reproduzierbare (!) diagnostische Kriterien, die im Rahmen einer Funktionsdiagnostik (Lateral- und Vorschub-Beweglichkeit des Unterkiefers, Mundöffnung, Tastbeschwerden im Kaumuskelbereich, Früh- und Balancekontakte u.a.) eruiert werden, bevor ein Diagnose-Etikett auf die Stirn der Patienten geklebt werden darf.
Wer diese Funktionsdiagnostik nicht durchführt und empfindliche Zahnhälse (ich kenne kaum jemanden, der diese irgendwann nicht hat), normale Abnutzungserscheinungen auf Kauflächen und Knieschmerzen unbekannter Genese instrumentalisiert und in diesem Zusammenhang eine vermeintlich aus dem Lot geratenen "Ganzkörperstatik" dazu benutzt, um seiner irritierten Kundschaft eine Bisslagenveränderung (Überkronung aller vorhandenen Zähne eines oder gar beider Kiefer) zu verkaufen, sollte seine Approbation abgeben und sich noch heute nach einer geeigneten Umschulung erkundigen.
Freiliegende Zahnhälse sind ein alltägliches Phänomen, können effektiv desensibilisiert werden und sind in 99 % der Fälle Folge einer Benutzung von Handzahnbürsten. Meist treten diese Hypersensibilitäten mit Betonung der Invasivität in einem Quadranten auf: rechte Seite bei Rechthändern - linke Seite bei Links. Meine PatientInnen, die freiliegende Zahnhälse haben, haben ausnahmslos auf Elektrizität umgestellt (sie trommeln auch nicht mehr, sondern benutzen alle ein eigenes Telefon).
Ja, es gibt auch pathologische Torsionskräfte bei Funktionsbeeinträchtigungen infolge von Überlastungsphänomenen - diese sind äußerst selten und sind i.d.R. bei stark reduzierten Restgebissen zu beobachten.
Geknirscht wird dagegen kräftig und immer öfter.
Meines Erachtens ist dies eine durchaus plausible Folge pappeweicher Junkernährung. Die Kaumuskulatur dient nicht nur der Nahrungszerkleinerung, sondern baut bei heftiger Kontraktion auch effektiv Adrenalin ab. Wenn man die Kaumuskeln arbeitslos macht, weil man den schwabbeligen Cheeseburger einer harten Schwarzbrotkruste vorzieht, muss man eben damit leben, dass die Kaumuskeln es den Hamstern nachmachen und nachaktiv werden. Schließlich muss das ganze Adrenalin, dass sich beim Warten in der Schlange vor dem Indrive-Schalter gebildet hat, abgebaut werden.
Sämtliche Zähne eines Kiefers deshalb zu überkronen, wäre ein klassisches Beispiel für inkompetente Geldschneiderei.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen damit weiterhelfen.
Gruß:
Hans-Werner Bertelsen