Im Jahr 2017 veröffentlichte die Jura-Professorin, Geschlechterforscherin und Menschenrechtlerin Lara Stemple einen Artikel im Wissenschaftsmagazin Scientific American, in dem sie darlegte, dass Frauen und Männer in ähnlich großem Ausmaß Opfer sexueller Gewalt werden. Männliche Opfer berichten in 79 Prozent der Fälle von weiblichen Tätern. Weitere Studien konnten diese Zahlen bestätigen. Amerikanische Medien wie das Magazin USA Today berichteten darüber, ebenso die feministische Kulturanthropologin Mithu Sanyal in ihrem lesenswerten Buch "Vergewaltigung". Brittany Tyler von der Canadian Association for Equality weist darauf hin, dass einige Zahlen dieser Statistik sogar auf eine leicht höhere Opferrate unter Männern schließen lassen. "Wenn diese Zahlen auch nur annähernd zutreffen", befand die US-amerikanische Professorin für Frauenstudien Abigail Rine, "zeigen sie ein signifikant anderes Bild von sexueller Gewalt, als ich gewohnt bin."
Eigentlich wären diese Erkenntnisse ein brisantes Thema auch für die deutschen Leitmedien. Dort allerdings bleibt jegliche Berichterstattung dazu aus. Männerrechtler, die als Fürsprecher für die unsichtbar gemachten Opfer auftreten, werden von eben diesen Leitmedien unaufhörlich mit hasserfüllten Angriffen überzogen. Diese massive Abwehr von Forschungserkenntnissen ist vielleicht noch erschütternder als die überraschenden Zahlen selbst. In meinem Buch "Sexuelle Gewalt gegen Männer. Was wir darüber wissen und warum wir dazu schweigen" beleuchte ich insofern zum einen, was die Fachwelt inzwischen über die hohe Zahl männlicher Opfer bei Taten wie sexuelle Belästigung, Kindesmissbrauch, Rachepornos und Stalking weiß. Zum anderen lege ich offen, mit welchen Mitteln wir Männer-Aktivisten aus der Debatte um sexuelle Gewalt hinaus gedrängt werden. So habe ich wiederholt erlebt, dass ich in Interviews entweder stark verzerrt wiedergegeben wurde, um als Frauenfeind stigmatisiert zu werden, oder dass Journalisten komplette Interviews in der Versenkung verschwinden ließen. In den letzten Wochen habe ich 150 Exemplare dieses Buchs an Redaktionen in Deutschland verschickt. Die Resonanz darauf ist schwach.
Wie kommt es zu dieser erheblichen Tabuisierung? Vielleicht verrät das Denken, das dahinter steht, nichts besser als die Veröffentlichung einer Organisation, die sich den schönen Namen "Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft – Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit" (in Trägerschaft der Amadeu-Antonio-Stiftung) gegeben hat, Männerrechtler, so heißt es dort, würden versuchen "Frauen als Täterinnen zu diffamieren", was "in realen Angriffen auf Frauen und LSBTTIQ* münden" könne. Kurz: Wer auf den Forschungsstand bei männlichen Opfern hinweise, bereite Gewalttaten gegen die von Politik und Medien anerkannten Opfer den Weg.
Ich halte sowohl das eiserne Schweigen für falsch als auch die Anfeindungen gegen Menschen, die dieses Schweigen durchbrechen möchten. Sexuelle Gewalt ist ein abscheuliches Verbrechen, von dem Millionen von Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. Obwohl diese Gewalt oft als ein Verbrechen angesehen wird, das nur Frauen betrifft, ist es wichtig zu erkennen, dass auch Männer Opfer werden können. Wenn die Erfahrungen männlicher Opfer nicht ernst genommen werden, kann dies zu Scham-, Schuld- und Isolationsgefühlen führen, die sich stark auf ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden auswirken.
Einer der Gründe, warum männliche Opfer sexueller Gewalt oft übersehen werden, ist die gesellschaftliche Einstellung zur Männlichkeit. Von Männern wird oft erwartet, dass sie stark und stoisch sind und Kontrolle ausüben. Die Vorstellung, dass ein Mann Opfer sexueller Gewalt werden könnte, widerspricht diesen traditionellen Geschlechterrollen und kann für manche Menschen schwer zu akzeptieren sein. Dies kann dazu führen, dass männlichen Opfern die Schuld für ihre eigene Viktimisierung gegeben wird oder dass ihnen gesagt wird, sie sollten "ihren Mann stehen" und nicht über ihre Erfahrungen sprechen. Männliche Opfer sexueller Gewalt sind aufgrund des Stigmas und der Scham, die mit ihrem Schicksal verbunden sind, auch oft selbst weniger bereit, sich zu melden. Das allerdings sind nur einige von insgesamt 20 Gründen, die ich in meinem Buch herausgearbeitet habe. Auch fehlende Anlaufstellen und ein männerfeindlicher Diskurs in unserer Gesellschaft, wie er in Parolen wie "Men are Trash" zum Ausdruck kommt, tragen dazu bei. Wen interessiert es schon, wenn "Müll" vergewaltigt wird?
Wenn Sie sich fragen, was Sie tun können, um ein männliches Opfer sexueller Gewalt zu unterstützen, habe ich einige Vorschläge:
1. Der erste Schritt zur Unterstützung eines männlichen Opfers sexueller Gewalt besteht darin, ihm zunächst einmal zu glauben. Es kann für männliche Opfer schwierig sein, sich zu melden und ihre Erfahrungen mitzuteilen, daher ist es wichtig, ihnen zuzuhören, ohne sie zu verurteilen. (Wenn es darum geht, einen Täter/eine Täterin zu belangen, müssen aber natürlich handfeste Beweise vorliegen.)
2. Männliche Opfer sexueller Gewalt können eine Reihe von Gefühlen erleben, darunter Scham, Schuldgefühle, Wut und Angst. Es ist wichtig, diese Gefühle anzuerkennen und Opfer wissen zu lassen, dass das, was ihnen widerfahren ist, nicht ihre Schuld war.
3. Bieten Sie Unterstützung an: Männliche Opfer sexueller Gewalt benötigen unter Umständen auf vielfältige Weise Unterstützung, z. B. emotionale Hilfe, medizinische Versorgung und rechtlichen Beistand. Bieten Sie ihnen an, ihnen bei der Suche nach Ressourcen zu helfen und sie bei der Inanspruchnahme dieser Dienste zu unterstützen.
4. Informieren Sie sich: Informieren Sie sich über sexuelle Gewalt und die Erfahrungen von männlichen Opfern. Dies kann Ihnen helfen, ihre Erfahrungen besser zu verstehen und effektivere Unterstützung zu leisten.
Die Anerkennung männlicher Opfer sexueller Gewalt ist nicht nur für das einzelne Opfer, sondern auch für unsere Gesellschaft als Ganzes wichtig. Indem wir anerkennen, dass sexuelle Gewalt jeden treffen kann, unabhängig von seiner Geschlechtsidentität, können wir auf eine integrativere und solidarischere Gesellschaft hinarbeiten. Dazu gehört es, schädliche Geschlechterstereotypen zu hinterfragen und gesunde Beziehungen zu fördern, die auf Respekt und Einverständnis beruhen.
Als ich vor fast einem Vierteljahrhundert erstmals darüber berichtet habe, dass bei häuslicher Gewalt genauso häufig Männer wie Frauen zum Opfer werden, lag die kriminalpolizeilich erfasste Rate der männlichen Opfer nur bei fünf Prozent. Auch damals gab es schon hunderte von Studien, die in Wahrheit auf eine Gleichverteilung hinwiesen. Die deutschen Medien berichteten so gut wie gar nicht darüber. Inzwischen hat sich das ein wenig geändert, und sogar im kriminalpolizeilich erfassten Hellfeld sind jetzt fast 30 Prozent der Opfer männlich. (Siehe etwa hier und hier.) Das liegt nicht daran, dass Frauen sechsmal so häufig zuschlagen wie noch vor zwei Jahrzehnten, sondern dass das Dunkelfeld zunehmend heller geworden ist: Je mehr Männerrechtler und Journalisten auf dieses Problem aufmerksam machten, desto weniger kamen sich betroffene Männer als bizarre Ausnahmefälle und "Freaks" vor. Jetzt durften sie auch darauf hoffen, bei anderen Menschen Gehör zu finden. Es ist höchste Zeit, dass dieselbe Aufklärung im Bereich sexueller Gewalt einzieht.
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