Vor ein paar Jahren, 2014 um genau zu sein, sollte der kanadische Unternehmer, Investor und »TV-Personality« Kevin O'Leary den im selben Jahr herausgekommenen Oxfam-Bericht kommentieren, in dem zu lesen war, dass die reichsten 85 Menschen der Erde ebensoviel besaßen wie die ärmsten 50% - damals immerhin 3.500.000.000 (Milliarden) Menschen.
O'Leary, der sich selbst gern "Mr. Wonderful" nennt, fand, das wären phantastische Neuigkeiten, sie würden die Menschen inspirieren, zu dem reichsten 1% aufzublicken und sagen: »I wanna become one of those people«.

O'Leary: »This is fantastic news. And of course I applaud it.«

Fantastic News.
Bei einem Vermögensverhältnis von rund 1:41 Millionen. Für 2013.
Im Jahr 2021 besitzen laut Oxfam die reichsten zehn Menschen bereits soviel wie die 3.100.000.000 ärmsten. Verhältnis 1:310 Millionen, falls sich jemand nicht die Mühe machen möchte, das auszurechnen. Und ein paar Sätze später (0:38) merkt er an: »Don't tell me that you wanna redistribute wealth again (!). That's never gonna happen.«

Es geht mir tierisch auf den Keks, dass jeder sofort in Verdacht gerät, ein Kommunist, Naivling oder weltfremder, linker Spinner zu sein, der ein System infrage stellt, das derlei Ungleichheit hervorbringt. Die Reichen haben es sich doch verdient, hört man dann, der Kapitalismus sei das beste System, das es jemals gegeben hat und das im Grunde jedem zugute komme: »Der Welt ist es insgesamt noch nie besser gegangen als heute.«, lässt etwa die wirtschaftsliberale Denkfabrik Agenda Austria verlautbaren und wirft Oxfam mit Verweis auf Daten der Weltbank vor, ein verzerrtes Bild zu zeigen.
Man könnte in diesem Zusammenhang auch die Elephant-Curve  von 2013 diskutieren, die im Grunde besagt, dass die Ärmsten rund 15% praktisch nicht von der Globalisierung profitiert haben, der Mittelstand gerade in aufstrebenden Ländern wie Indien und China in den vergangenen Jahrzehnten an Wohlstand aber hinzugewonnen, während der Mittelstand der (westlichen) Industrienation hingegen de facto verloren hat. Wobei daran erinnert sei, dass es sich hier um relative Veränderungen handelt, weshalb die Wohlstandszuwächse im unteren und mittleren Bereich der Kurve zwar durchaus bemerkenswert sind, sich jedoch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau bewegen. Und so profitieren die reichsten 10% und insbesondere das reichste 1% bei weitem am meisten von der Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

Und schließlich wäre vielleicht noch zu klären, was all diese Zahlen eigentlich tatsächlich aussagen, was Armut überhaupt bedeutet und sich Menschen in Afrika oder Asien oder Lateinamerika denn leisten können von ihrem Wohlstand
Aber all das ist gar nicht der Punkt.
All das hat nämlich absolut gar nichts mit dem Selbstverständnis des Kapitalismus zu tun. Es ist einfach nicht das, was er uns versprochen hat.

Das eigentliche Versprechen des Kapitalismus ist doch, dass man hart arbeiten muss, Entbehrungen ertragen, sparen, investieren, um irgendwann an die Spitze zu gelangen. Oder, wie »Mr. Wonderful« es im Interview (0:56) sagt: »If you work hard, you might be stinking rich one day.«
Wobei er vergisst zu erwähnen, dass an eben dieser Spitze ja schon ein paar andere zu finden sind. Die vielleicht etwas dagegen haben, dass man ihnen den Platz dort streitig machen will. Und denen ganz andere Mittel zur Verfügung stehen, um eben das zu verhindern.

Dieses für die meisten Menschen nicht einlösbare Versprechen nenne ich die Illusion der Möglichkeiten. Diese alte Mähr vom Tellerwäscher, der sich mit harter Arbeit zum Millionär empor schuftet. Ein Versprechen vom Aufstieg, dass sich nur für die Allerwenigsten - und, so wie es aussieht für immer weniger Menschen - erfüllt. Und die Frage ist doch ob wirklich beides gleichzeitig möglich ist. Ob, wie O'Leary behauptet, die Armen dieser Welt durch harte Arbeit »stinking rich« werden können, während er eine Umverteilung von Wohlstand offenbar für völlig absurd hält: »That's never gonna happen.«

Aus meiner Sicht wird über diese Effekte viel zu selten gesprochen. Es wird vielfach so getan, als würde jeder ähnliche Chancen haben oder, falls dies nicht der Fall ist, dass dies nur eine Frage der Zeit ist. Als wäre der Kapitalismus (der nicht mit Marktwirtschaft verwechselt werden darf) ein gesundes System, das allen Menschen dient und allen auf lange Sicht zu Wohlstand verhilft. Wovon wir in Wirklichkeit nicht nur ziemlich weit entfernt sind. Sondern wohl eher das Gegenteil der Fall ist.

Dennoch scheint es nirgendwo auf der Welt ernsthafte politische Bestrebungen zu geben, daran etwas zu ändern. Weil O'Leary am Ende vielleicht doch recht hat und uns die Musks, Bezos' und Gates' zum Träumen verleiten. Weil wir ja ebenso sein könnten wie sie. Weil wir ja schließlich irgendwie die Möglichkeit haben, mit ein bisschen Glück genauso zu werden. Es ihnen gleich zu tun. Als Millionäre in Wartestellung sozusagen.
Und dass der Kapitalismus diese Illusion erzeugt, dass er das geschafft hat, ist vielleicht seine größte Leistung überhaupt.

And of course, I applaud it.


Titelbild: https://catalystvibes.dribbble.com