Sub observationis: Mathias Binswanger

Der tägliche Blick auf die Corona Warn-App zeigt mir, glücklicher Weise, "keine Risiko - Begegnungen", aktualisiert heute um 15:16 Uhr: Entwarnung! Doch die weiteren Daten, also der 7-Tage-Mittelwert, die Anzahl der warnenden Personen, die 7-Tage-Inzidenz, sowie der 7-Tage-R-Wert: Alarmstufe! Genauso alarmierend hören sich die Verlautbarungen der verantwortlichen Krisenmanager an, der Politiker. Dazu noch höchst unterschiedlich alarmierend. Was tun? Wo hole ich mir wissenschaftlich profunden Rat? Beim Team Drosten? Oder doch lieber beim Team Streeck? Guter Rat ist teuer!

"Reine Glaubenssache" sagt dazu Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen, in einem Interview vom 26. März diesen Jahres in der "WirtschaftsWoche". Laut Binswanger haben sich im Laufe der anhaltenden Pandemie so etwas wie zwei Lehrmeinungen oder "Schulen" herausgebildet, die die vorhandenen Daten im Lichte ihrer jeweiligen grundlegenden Einstellungen unter verschiedenen Schwerpunkten sammeln, unterschiedlich bewerten und die "passenden" Veröffentlichungen anderer Wissenschaftler berücksichtigen, oder aber eben "nicht-passende" Untersuchungen vernachlässigen. Dies geschieht keineswegs vorsätzlich, sondern entspringt einer festen Überzeugung der Wissenschaftler, den richtigen Weg zu gehen. "Die Tatsache, dass sich aus denselben Daten widersprechende Ergebnisse herausdestillieren lassen, ist typisch für die empirische Ökonomie", also dem Forschungsbereich, dem sich Binswanger seit vielen Jahren widmet, der Makro- und Glücksökonomie. Er kommt daher zu dem Ergebnis, dass "Big Data" bei der empirischen Überprüfbarkeit theoretischer Hypothesen eher nicht hilft. Vielmehr zeigen doch die vielen Lockdown-Studien: Durch „geeignete“ Auswahl der Daten werden sie mal bestätigt und mal falsifiziert. Auch die Fokussierung auf angeblich "exakte Modelle" und komplexe "statistische Verfahren" führen nicht sicher zu einem realistischen Bild. Im Gegenteil. Binswanger sieht darin eher die Verfestigung mehrerer „Wahrheiten“, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Womit wir wieder beim "Glauben" wären.

Eine vertrackte Situation für den nach "Wahrheit" suchenden Menschen, der sich an wissenschaftlichen Tatsachen orientieren möchte. Schon Ludwig Wittgenstein schrieb: "Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann keine Antwort mehr, und eben dies ist die Antwort." Auf jeden Fall bleiben für mich Mathias Binswanger und seine Erkenntnisse bis auf Weiteres "unter Beobachtung".

Das gesamte Interview von Prof. Binswanger ist unter "Corona: Wertneutrale Forschung? Gibt es nicht! (wiwo.de)" abrufbar.

WLW