Nur offene Gesellschaften werden die Innovationen hervorbringen, um dem Klimawandel effektiv zu begegnen. Das funktioniert nicht trotz, sondern mit wirtschaftlichem Wachstum, erklärt Jan Schnellenbach.
Der Artikel ist zuerst bei libmod.de veröffentlicht worden.
Sie lesen diesen Text wahrscheinlich gerade an Ihrem Schreibtisch auf einem sehr leistungsfähigen Computer, oder vielleicht auch im Sessel sitzend, auf einem Tablet. Irgendwo in Ihrer Nähe liegt sicherlich Ihr Smartphone. Dieses Smartphone hat, auch das werden Sie sicher schon einmal irgendwo gelesen haben, ein Vielfaches der Rechenleistung sämtlicher Computer, die im Sommer 1969 Apollo 11 zum Mond leiteten. Damals lagen die heutigen Smartphones sogar jenseits des Vorstellungsvermögens der Ausstatter der Fernsehserie Star Trek.
Wenn Sie mit kurzem Zeitabstand erst in ein Auto aus dem Jahr 2020 und dann in ein Auto aus dem Jahr 2000 steigen, bemerken Sie plötzlich, was sich in diesen 20 Jahren alles getan hat. Dass Sie keine CDs mehr ins Autoradio schieben, dass dutzende Assistenzsysteme Ihnen Sicherheit bieten und dass Sie auch wesentlich emissionsärmer fahren als früher, fällt Ihnen vermutlich erst im direkten Kontrast mit dem alten Modell auf.
Technischer Fortschritt erscheint uns selbstverständlich und wird selten bewusst wahrgenommen. Spätestens wenn wir das neue Smartphone zwei Tage benutzt haben, oder das neue Auto einmal in den Urlaub gefahren haben, können wir uns gar nichts anderes mehr vorstellen. Erst wenn wir in alten Filmen sehen, wie das alles früher funktionierte, wissen wir für einen kurzen Moment wieder zu schätzen, was Ingenieurskunst, Erfindergeist und auch Gewinnstreben alles ermöglichen.
Wenn wir die Entwicklung nicht im Rückspiegel sehen, sondern uns die Zukunft vorstellen, wird es noch schwieriger. So wenig, wie wir im Jahr 2000 mit den Smartphones des Jahres 2021 gerechnet haben, können wir uns jetzt präzise vorstellen, was der technische Fortschritt in den verschiedensten Branchen und Sektoren bis zum Jahr 2030 oder 2040 noch alles hervorbringen wird.
Auf diese Offenheit der Zukunft gibt es zwei mögliche Reaktionen. Man kann sich entscheiden, neugierig zu bleiben. Man kann sehen, dass marktwirtschaftliche Anreize den Erfindungsreichtum der Ingenieure in Bahnen lenken, die für die meisten von uns zu einem besseren, angenehmeren Leben führen. Oder man kann sich etwas phantasielos fragen, was da eigentlich noch kommen soll, ein umfassendes Sättigungsgefühl pflegen – und den Abschied vom Wachstum predigen.
Wenn man aber den Begriff der offenen Gesellschaft ernst nimmt, dann spricht viel dafür, diesem Sättigungsgefühl nicht nachzugeben. Denn es geht da nicht nur um politische Offenheit, um sozialen Fortschritt. Offenheit von Gesellschaften ist auch mit der individuellen Freiheit verbunden, technische Ideen oder neue Geschäftsmodelle realisieren zu können, mit Innovationen zu experimentieren, sie auf Märkten anzubieten und dort die Resonanz zu testen.
Mehr oder weniger schnelles Wachstum ist die Begleiterscheinung einer Welt, die eine solche Offenheit gewährt. Auch wenn ihre Befürworter dies nicht offen zugeben, gehen Degrowth-Visionen vom Ende des Wachstums doch immer damit einher, dass die Offenheit der Zukunft, und die mit ihr verbundene individuelle Freiheit, aufgegeben werden zugunsten der scheinbaren Berechenbarkeit zentralplanerischer Ansätze.
Die Aufgabe besteht also darin, nach Wegen zu suchen, die offene Gesellschaft zu erhalten, und zwar auch dann, wenn eine große Herausforderung wie der Klimawandel zu bewältigen ist. Solange wir individuelle Freiheit hoch gewichten, können Degrowth-Strategien keine Lösung sein, da diese stets vom Kollektiv her denken, dessen Zielen sich das Individuum unterzuordnen hat.
Die Umweltökonomik stellt dagegen einen Werkzeugkasten bereit, der helfen kann, den angestrebten Spagat zwischen Freiheit und Klimapolitik zu schaffen. Die Instrumente sind inzwischen weithin bekannt und müssen hier wahrscheinlich nicht noch einmal im Detail diskutiert werden. Im Zentrum steht natürlich eine Bepreisung von negativen externen Effekten, also insbesondere des CO2-Ausstoßes, aber auch von anderen klimarelevanten Emissionen.
Die Bepreisung führt dazu, dass die Haushalte und Unternehmen die tatsächlichen gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns berücksichtigen und es vorteilhafter finden, selbst Emissionen zu vermeiden. Das kann sich bei Haushalten in verändertem Konsumverhalten zeigen, aber auch in Investitionen etwa in klimaneutrale Haustechnik. Und auch bei den Unternehmen führen die neuen Preise zu erheblichen Investitionsanreizen.
Dabei ist es auch klar, dass der CO2-Preis mittel- und langfristig schneller steigen muss als die Politik es derzeit plant. Da Investitionsanreize oft lange Zeiträume betreffen, wäre es wichtig, schon jetzt einen klaren politischen Fahrplan zu schneller steigenden Preisen (oder spiegelbildlich zu schneller sinkenden Mengen im Emissionshandel) für die Zukunft festzulegen.
Daneben gibt es natürlich auch öffentlichen Investitionsbedarf, etwa in Stromnetze oder in eine Wasserstoff-Infrastruktur. Auch Investitionen, die für die privaten Haushalte die Emissionsvermeidung preiswerter und leichter machen, können sinnvoll öffentlich unterstützt werden. Zu denken wäre etwa an den Ausbau der Ladesäulen-Infrastruktur oder des Hochgeschwindigkeits-Schienennetzes.
Wichtig ist, dass eine solche Strategie individuelle Freiheit mit individueller Verantwortung verbindet. Die Bepreisung sorgt dafür, dass Individuen verantwortlich handeln, aber sie lässt ihnen die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie genau sie auf veränderte Preise reagieren wollen. Und vor allem sorgt eine solche Strategie dafür, dass die Aufmerksamkeit der eingangs angesprochenen Innovationsmaschinerie der Marktwirtschaft in Richtung der Emissionsvermeidung gelenkt wird.
Den Ansatz könnte man sinnvollerweise noch erweitern, indem man verspricht, einen hinreichend hohen CO2-Preis für negative Emissionen zu erstatten. Denn die Klimaforscher gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass wir auch Technologien benötigen werden, die CO2 aus der Atmosphäre zurückholen. Hierzu wird das Pflanzen von Bäumen nicht reichen, sondern es werden neue technische Lösungen nötig sein. Der Anreiz, diese zur Marktreife zu entwickeln, hängt aber wesentlich von der Existenz eines negativen CO2-Preises ab.
Kapitalismuskritiker wie der britische Anthropologe Jason Hickel argumentieren häufig, dass eine Entkopplung von Wachstum und Emissionen nicht möglich sei, so dass Degrowth als einzig gangbarer Weg zum Stopp des Klimawandels bleibe. Sie argumentieren dabei jedoch auf der Basis von Daten für die Vergangenheit. Damit vernachlässigen sie, welche Anpassungs- und Innovationsleistung eine tatsächlich signifikante CO2-Bepreisung hervorrufen kann, die wir aber erst in der Zukunft bekommen werden. Außerdem zeigt auch die beträchtliche Senkung der CO2-Emissionen in der EU in den letzten 30 Jahren bei gleichzeitiger Steigerung der Wirtschaftsleistung, dass Entkopplung keine Schimäre ist.
Solche Kritiker unterliegen auch einem politischen Irrtum, wenn sie argumentieren, dass man auf Degrowth setzen müsse, weil wir bisher noch keine ausreichend hohen CO2-Preise sehen. Die Vorstellung, dass man einen fundamentalen Systemwechsel, der die Abschaffung der offenen Gesellschaft impliziert, politisch leichter durchsetzen kann als einen höheren CO2-Preis, erscheint schlicht bizarr.
Für die Politik besteht die Herausforderung darin, eine richtige Kombination von Mut und Zurückhaltung zu finden. Während bei der Durchsetzung höherer Emissionspreise wesentlich mehr Mut nötig ist, wäre gleichzeitig Zurückhaltung gefragt, wenn es um das Design und die Durchsetzung detailreicher Masterpläne geht. Sektorziele helfen beispielsweise nicht dabei, den Klimawandel so effizient wie möglich unter Kontrolle zu bringen, ebenso wenig wie eine lange Liste von Verboten, die direkt in den Lebensstil der Individuen hineinregieren.
Es ist verständlich, dass es für Politiker ungewohnt ist, zu beschließen, dass man bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Klimaneutralität erreichen will, ohne einen Detailplan zu haben, welcher Sektor bis dahin welchen Beitrag dazu leisten wird. Aber gerade diese Ambiguität im Detail muss man aushalten, wenn man auf die Innovationskraft der Marktwirtschaft und der offenen Gesellschaft setzt. Und dazu gibt es keine realistische Alternative.