Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben einen Infobrief zur Rolle von Kindern im Corona-Pandemiegeschehen veröffentlicht. Entgegen verschiedener Darstellungen ist ihre Rolle bedeutsam und Teil des allgemeinen Infektionsgeschehens der Gesellschaft.
Die Rolle von Kindern könnte sich durch das Auftreten von Mutanten im Infektionsgeschehen verändern und die Lage vollkommen neu zu bewerten sein. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kinder zunächst noch nicht geimpft werden können.
Ausbrüche werden gemeinhin aufgrund des Auftretens von Symptomen festgestellt - Kinder zeigen aber mehrheitlich nur milde oder gar keine Symptome. Es gibt immer noch Diskussionen darüber, inwiefern PCR Tests ähnliche Sensitivität und Spezifität bei infizierten Kindern zeigen.
Daher ist es sehr schwierig, gegebenenfalls verdeckte Übertragungsmuster zu erkennen. Die WHO weist darauf hin, dass noch immer die Rolle von Kindern bei der Übertragung nicht vollständig geklärt sei.
In Bildungseinrichtungen ist eine kleine Minderheit infizierter Personen für ~80% der sekundären Infektionen verantwortlich, was der Größenordnung in der Allgemeinbevölkerung entspricht. Daraus kann also nicht gefolgert werden, dass in Schulen keine Infektionscluster entstehen.
Warum auf ersten Blick es häufig so erscheint, als träten in Bildungseinrichtungen kaum Infektionen auf, könnte an dem weitgehend asymptomatischen Verlauf von Infektionen bei Kindern und der geringeren Testwahrscheinlichkeit liegen.
Tatsächlich scheint es laut verschiedener Studien so, dass bei ähnlicher Exposition Kinder und Erwachsene ähnlich anfällig für eine Infektion sind. Das Infektionsgeschehen innerhalb von Schulen unterscheidet sich nicht wesentlich von denjenigen außerhalb.
In Kanada wurden Schulen „treibende Kraft“ zum Beginn der zweiten Welle in Québec. Die Infektionszahlen stiegen ~14 Tage nach der Wiedereröffnung der Schulen in Montreal deutlich an. Am stärksten betroffene Altersgruppe waren die 10- bis 19-Jährigen.
Daher seien Schulen mit Sicherheit als Treiber zu bezeichnen. Ähnliches aus Israel: Einem Bericht des israelischen Gesundheitsministeriums zufolge waren Kinder sogar häufiger infiziert als Erwachsene. Die meisten Kinder waren asymptomatisch (51-70 %).
Kinder infizierten sich definitiv mit dem Virus und seien auch ansteckend. Da aber die meisten von ihnen keine Symptome zeigten, sei es schwierig, einen erheblichen Anteil von ihnen zu identifizieren. Sie seien aber eine Infektionsquelle für die restliche Bevölkerung.
Es werden Beispiele genannt, wie initiale Infektionen von Lehrern und Schülern zu Infektionsclustern in der Bevölkerung führten. Der Bericht widerspricht auch der Äußerung des israelischen Bildungsministers einige Monate zuvor, Kinder seien keine Quelle der Virusausbreitung.
In UK zeigte die britische „Children’s Task and Finish Group“ (TFC, eine Untergruppe der die britische Regierung beratenden „Scientific Advisory
Group for Emergencies – SAGE), dass die Schließung der Schulen mit einem Rückgang der Übertragung bei Kindern verbunden war, während die Rückkehr zur Schule zu einem erneuten Anstieg führte. Die Virusvariante #B117 verbeitet sich in allen Altersgruppen, auch bei Kindern, schnell und ist übertragbarer. Der Direktor des „Medical Research Council’s Centre for Global Infectious Disease
Analysis“ am „Imperial College“ sagt, dass Kinder für die neue Virusvariante anfälliger seien. Während des Lockdowns im November 2020 habe es eine Verschiebung in der Verteilung des Virus in Richtung der Kinder gegeben (sowohl Varianten, als auch Wildform).
Eine Auswertung der AOK von März bis Oktober 2020 zeigte, dass Erziehungsberufe die am stärksten betroffene Berufsgruppe von AOK-Versicherten darstellen. Erzieher liegen hiernach mehr als 2,2-fach über dem durchschnittlichen Wert von AOK-Versicherten.
Zwar führen Krankschreibungen infolge einer Testung in der Zwischenzeit, bis ein negative Ergebnis vorliegt, zu einer Verzerrung. Nichtsdestotrotz würden diese Einschränkungen auch für andere Berufsgruppen wie Pflegeberufe gelten, die nicht mehr an erster Stelle stehen.
Auch zeigen Regionen, in denen eine geringe Infektionszahl vorliegt, verhältnismäßig niedrige Krankmeldungen. Diese Korrelation lässt allein noch nicht den Schluss zu, dass Ansteckungen in der Kita passieren, die Vermutung liegt allerdings nahe.
Auf Lehrerinnen und Lehrer ist eine Ausweitung der Datenanalyse aber nicht möglich, da im Gegensatz zu Erziehern diese nicht in der AOK versichert sind.
Verlässliche Infektionsraten schwierig bei Kindern: Es wird vermutet, dass Infektionen bei Kindern übersehen werden, da sie aufgrund fehlender Symptomatik seltener getestet werden und Ergebnisse sich oft auf Zeitspannen beziehen, in denen die Schulen geschlossen waren.
Eine spanische Antikörper-Studie (März - April 2020) wies weniger positive Testergebnisse bei Kindern + Jugendlichen als bei Erwachsenen nach, vermutlich, weil sich unter der Bedingung geschlossener Bildungseinrichtungen weniger Kinder infiziert haben.
In Schweden hingegen blieben zumindest für jüngere Schüler die Schulen geöffnet. Hier wurde bis Mitte Juni kein signifikanter Unterschied in der Seroprävalenz zwischen Personen im Alter von 0-19 und 20-64 Jahren beobachtet (6,8 % vs. 6,4 %).
Da aufgrund von Testkapazitäten oft vorrangig symptomatische Fälle getestet werden, kann ein pädiatrischer Indexfall in einer Familie leicht übersehen werden. Oft wird erst nach der Übertragung von einem Kind auf eine zweite Person, die symptomatisch wird, getestet.
Das Kind wird möglicherweise eher als Kontaktperson eingestuft und ohne Symptomatik nicht getestet, da es ja mit in Quarantäne kommt. Wird es doch getestet, kann ein negatives Resultat folgen, weil die Viruslast bereits aufgrund der verstrichenen Zeitspanne abgefallen ist.
So erscheint das Kind fälschlicherweise nicht als positiver Fall und schon gar nicht als Indexfall. Aber auch bei positiver Testung wird das Kind unter Umständen nicht als Indexfall gewertet, sondern als Sekundärinfektion.
Eine weitere spanische Haushaltsstudie (April - Juni 2020) auf Seroprävalenz bei Kindern und Erwachsenen zeigte, dass nahezu alle pädiatrischen Fälle (99,9 %) entweder asymptomatisch waren oder nur leichte Symptome zeigten. Kinder schienen eine ähnliche Wahrscheinlichkeit wie Erwachsene zu haben, sich in Familienhaushalten, in denen bereits Quarantäne besteht, mit SARS-CoV-2 zu infizieren:
Eine deutsche Studie zeigte eine 6x höhere Infektionsrate bei Kindern, als PCR-Tests es vermuten ließen:
Im November 2020 zeigte eine Forschungsarbeit in „Nature Immunology“ bei Kindern und Erwachsenen unterschiedliche Antikörperantworten: Kinder zeigen insgesamt eine geringere Breite an spezifischen Antikörpern gegen verschiedene Proteine des Virus.
Diese Ergebnisse deuten auf einen unterschiedlichen Infektionsverlauf und eine unterschiedliche Immunantwort bei Kindern hin, unabhängig davon, welche Symptomatik sie entwickeln. Das kann Auswirkungen auf altersgerechte Strategien zum Testen + Schützen der Bevölkerung haben.
🚨🚨🚨 Zudem stellt sich die Frage, wie Antikörpertests von Kindern im Vergleich zu Erwachsenen zu interpretieren sind und ob falsch-negative Antikörpertests bei Kindern häufiger auftreten, je nachdem welche Antikörper nachgewiesen werden!
Ein Beispiel dafür, dass Kinder trotz Infektion wiederholt negative PCR-Tests zeigen und selbst Antikörpertests je nach Art des Tests negativ ausfallen können, zeigt eine ebenfalls im November 2020 in „Nature Communications“ veröffentlichte Studie.
Laut einer indischen Kontaktverfolgungsstudie sind Kontakte im gleichen Alter mit dem größten Infektionsrisiko verbunden. Ist ein Kind der Indexfall, fällt die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung ähnlich hoch aus, wie bei Erwachsenen.
Auch eine amerikanische Haushaltsstudie stellt fest, dass Kinder und Erwachsene ähnlich wahrscheinlich SARS-CoV-2 übertragen:
Dazu kommt, dass der Anteil der Übertragung durch Personen, die nie COVID-19-Symptome hatten, von einer weiteren Publikation auf fast 60 % geschätzt wird. Das bedeutet, mehr als die Hälfte aller Übertragungen erfolgen durch asymptomatische Personen!
Eine weitere spanische Haushaltsstudie (November 2020) untersuchte 381 Familienhaushalte mit 1.084 Kontaktpersonen, darunter 672 Kinder und 412 Erwachsene. Die Seroprävalenzrate betrug 17,6 % bei Kindern und 18,7 % bei erwachsenen Kontaktpersonen.
Nahezu alle (99,9 %) positiven pädiatrischen Kontakte waren asymptomatisch oder hatten leichte Symptome. Demnach infizieren sich Kinder in Familienhaushalten mit Quarantäne ähnlich wahrscheinlich wie Erwachsene, bleiben aber weitgehend asymptomatisch.
Aufgrund der Asymptomatik in den Familien wird meist erst ein symptomatischer Erwachsener getestet. Das ist ein wesentlicher Aspekt, der bei Kitas + Schulen beachtet werden muss, wo die Mehrheit der potenziell virustragenden Personen als asymptomatisch angenommen werden muss!
Laut einer retrospektiven Kohortenstudie (Januar 2021) waren Kinder + Jugendliche innerhalb von Haushalten weniger anfällig für eine Infektion. Allerdings waren sie infektiöser als Ältere. Präsymptomatische Fälle waren infektiöser als symptomatische.
Asymptomatisch Infizierte hingegen waren insgesamt weniger infektiös als symptomatische Personen. Kombiniert man den weitgehend asymptomatischen Verlauf bei Kindern mit der Tatsache, dass die Mehrheit der Infizierten das Virus unabhängig vom Alter nicht weitergibt, werden Übertragungscluster an Schulen erst dann sichtbar, wenn eine hohe Hintergrund-Übertragungsrate in der Gesellschaft vorliegt. Diese Beobachtung wurde in den vergangenen Monaten verschiedentlich gemacht und spiegelt das Infektionsgeschehen in der Gesellschaft wider.
Auch in Deutschland wurde ein Anstieg der Infektionscluster an Schulen bei vergleichsweise hohen Infektionszahlen in der Gesellschaft registriert. Die Leopoldina konstatierte, dass Schüler ein wesentlicher Teil des Infektionsgeschehens seien.
Dennoch gebe es - so die Darstellungen der Leopoldina - wirtschaftliche und soziale Gründe, Schulen nicht zu schließen. Dann sei es allerdings erforderlich, umfangreiche Schutzmaßnahmen umzusetzen (siehe die empfohlenen Maßnahmen an Schulen des RKI):
Maßnahmen wie Maskenpflicht während des Unterrichts und auf dem Schulgelände seien auch auf Grundschulen auszuweiten, ebenso feste und kleine Gruppen bei sämtlichen Schulaktivitäten sowie wie effiziente Lüftungsmaßnahmen. Isolierte, einzelne Maßnahmen reichen nicht aus!
In Österreich deutet die Verdreifachung der Prävalenzrate bis Mitte November gegenüber einer ersten Untersuchungsstudie auf ein Infektionsgeschehen an Schulen hin. Die Bildungseinrichtungen wurden zwischenzeitlich in Österreich weitgehend geschlossen.
An frühen Studien, die stets eine geringe Übertragungsrate bei Kindern feststellten, wird kritisiert, dass sie sich auf Daten stützen, die zu einem Zeitraum erhoben wurden, als Schulen und Freizeiteinrichtungen weitgehend geschlossen waren.
Übertragungsmuster innerhalb der Familien sind problematisch, solange nicht umfangreiche, wiederholte Reihentestungen erfolgen, die verschiedene Einschränkungen (wie z.B. nichtsymptomatische Kinder werden nicht ausreichend mitgetestet) ausschließen.
Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass kleine Kinder potenziell zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Allgemeinbevölkerung beitragen. Insbesondere in Hinblick auf ihr Verhalten in Kitas sei dies zu berücksichtigen.
Die britische TFG stellte im Dezember 2020 zu Gesundheitsrisiken für Kinder+Personal & weitere Auswirkungen der Schulöffnung fest, dass das Risiko mit steigendem Alter der Kinder zunimmt, wobei es auch an Grundschulen nicht zu vernachlässigen sei!
Eine Studie zu Auswirkungen von sieben nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zeigte, dass Versammlungen von max. 10 Personen, Schließung von Geschäften mit direktem Kundenkontakt & Schließen aller Bildungseinrichtungen Übertragungen erheblich reduziert.
Auswertungen von Telekommunikationsdaten in der Schweiz belegen auch, dass Schulschließungen, Veranstaltungsverbote und ein Versammlungsverbot von mehr als fünf Personen jeweils zu einer deutlichen Mobilitätsreduktion führten.
In Summe gibt der Infobrief des Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages von Dr. Christine Steinhof einen tollen Überblick zur Rolle von Kindern im Corona-Pandemiegeschehen.
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Der Artikel ist zuerst als Twitter-Thread erschienen.